Donnerstag, 16. Mai 2024

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Loukia Droulia und Hagen Fleischer: Von Lidice bis Kalavryta

Die von der internationalen Historiographie erarbeitete "Europa-Karte" des faschistischen Okkupationsterrors ist extrem nordlastig: Der Balkan und insbesondere Griechenland bilden weiße oder - bestenfalls - graue Flecken und sind einer breiteren europäischen Öffentlichkeit in diesem Kontext nahezu gänzlich unbekannt.

Hermann Theißen | 06.11.2000
    Loukia Droulia und Hagen Fleischer schreiben das im Vorwort des von ihnen im Metropol-Verlag herausgegebenen Bandes "Von Lidice bis Kalavryta - Widerstand und Besatzungsterror, Studien der Repressalienpraxis im Zweiten Weltkrieg". Vornehmlich griechische und deutsche Historiker dokumentieren die mörderischen Wehrmachtsexzesse auf dem Balkan und nach der Lektüre ist man erstaunt, mit welcher Unbefangenheit man hier zu lande über eine angeblich dem Balkan eigene Kultur der Grausamkeit schwadroniert. Erstaunlich ist auch ein Sachverhalt auf den Eberhard Rondholz in der Einleitung zu seinem Beitrag "Rechtsfindung oder Täterschutz? Die deutsche Justiz und die Bewältigung des Besatzungsterrors in Griechenland" verweist.

    "Zu den in jeder Hinsicht geschonten Straftätern gehörten die Kriegsverbrecher. Hier ist die Sühne fast völlig ausgeblieben (soweit es die Justiz der Bundesrepublik Deutschland angeht). Keines der Massenverbrechen der Wehrmacht in Serbien zum Beispiel ist jemals vor einem bundesdeutschen Gericht verhandelt worden, die wenigen einschlägigen Ermittlungsverfahren wurden sämtlich in aller Stille eingestellt. Selbst dann, wenn es um von der Wehrmacht begangene Massenmorde an Juden und Roma ging, schützte die Justiz die Täter; typisch etwa der bereits im Nürnberger Geiselmordprozeß dokumentierte Fall des Wehrmachtsoberleutnants und späteren Bundeswehrmajors Hans-Dieter Walther, der solche Mordaktionen in Serbien kommandiert und ausführliche Aufzeichnungen darüber angefertigt hat. Von der bundesdeutschen Justiz ungesühnt blieben auch die deutschen Kriegsverbrechen in Italien, ebenso die an Italienern in Griechenland begangenen; die Namen Marzabotto, Cuneo, Fosse Ardeatine und Kephalonia sollen hier nur stellvertretend für viel mehr Tatorte furchtbarer Wehrmachtsverbrechen stehen, die nie Gegenstand eines Hauptverfahrens vor einem deutschen Gericht gewesen sind. Oder, wenn doch, dann mit so großer Verspätung, dass Verjährung die Täter schützte - so hat noch vor kurzem der Bundesgerichtshof in einer skandalösen Entscheidung eine Massentötung als nicht mehr verfolgbar eingestuft, die am 13. Oktober 1943 in Caiazzo bei Neapel stattgefunden hat - 18 Frauen und Kinder waren dort auf bestialische Weise umgebracht worden, unter dem Vorwand der sogenannten Bandenbekämpfung. Der (in Italien in absentia zu lebenslangem Kerker verurteilte) Haupttäter, Wolfgang Lehnigk-Emden, wurde am 1. März 1995 vom Bundesgerichtshof (BGH) in letzter Instanz außer Verfolgung gesetzt. Dabei hatte der BGH bei dieser Tat durchaus Mord aus niedrigen Motiven als erwiesen angesehen. Lehnigk-Emden blieb aber auf freiem Fuß, weil seine Tat nach Ansicht des 2. Strafsenats des BGH verjährt sei, ungeachtet der Bundestagsbeschlüsse zur Verjährung von NS-Verbrechen, die solches verhindern sollten. Und sie sei deshalb verjährt, so der BGH, weil die Tat 'eine militärisch weder notwendige noch gerechtfertigte Ausschreitung' war, und als solche wäre sie 'im Falle ihres Bekanntwerdens [...] kriegsgerichtlich verfolgt worden. Damit konnten die Voraussetzungen für ein Ruhen der Verjährung bis zum 8. Mai 1945 nicht festgestellt werden'. Die Verjährungsfrist lief also, dem BGH zufolge, vom Zeitpunkt der Tat an und war daher (nach dem alten Strafrecht, das Mord nach 20 Jahren verjähren ließ) lange vor dem ersten Verjährungsbeschluß des Deutschen Bundestages von 1965 abgelaufen. (...) Griechenland ist in mancher Hinsicht ein Sonderfall; es fällt auf, dass die meisten deutschen Publikationen, die eine Bilanz der Ahndung von Okkupationsverbrechen ziehen, das besetzte Griechenland gar nicht erst erwähnen oder, wenn überhaupt, dann nur am Rande. Das ist, auf den ersten Blick, erstaunlich, bedenkt man das Ausmaß der in diesem Land begangenen Massentötungs-Verbrechen der Wehrmacht, das größer war als in einigen anderen der ausführlicher behandelten besetzten Länder Westeuropas. Aber es gilt ganz allgemein, dass die Vorgänge im besetzten Griechenland jahrzehntelang vernachlässigt geblieben sind; im Gegensatz etwa zu den Massakern von Oradour und Lidice sind 'Vergeltungsmaßnahmen' wie die von Kalavryta und Distomo, Kandanos und Klissura bis heute in Deutschland kaum ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Und das, obwohl zumindest ein Teil dieser Verbrechen im Nürnberger "Geiselmordprozeß" ausführlich verhandelt worden ist."

    "Von Lidice bis Kalavryta - Widerstand und Besatzungsterror" ist der von Loukia Droulia und Hagen Fleischer im Metropol-Verlag herausgegebene Band überschrieben, in dem Sie mehr über die Wehrmachtsverbrechen auf dem Balkan und in Griechenland erfahren können.