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"Love Me Do" als Sinnstiftung

Die Beatles sind Sinnbild für das Lebensgefühl der sechziger Jahre. Ein neues Buch aus dem Tropen-Verlag möchte die philosophischen Komponenten des Werks einordnen.

Von Klaus Modick | 07.07.2010
    Wer etwas über das Lebensgefühl der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts erfahren will, höre sich die Beatles an. Denn in dieser Musik hat sich die kreative Eruption der Epoche, die Befreiung vom Muff der Nachkriegszeit, die Aggressivität politischer Konflikte wie die naiven Hippie-Träume von Love and Peace, die sexuelle Revolution wie die psychische Revolution der Halluzinogene, verdichtet wie in kaum einem anderen kulturellen Dokument.

    Als Phänotypen eines Lebensgefühls und als Stilikonen haben die Beatles ein musikalisches Werk geschaffen, das inzwischen tief ins kulturelle Kollektivbewusstsein eingesunken ist, aber nach fast 50 Jahren immer noch frisch wirkt und auf dem Markt höchst erfolgreich geblieben ist. Insofern sind die Beatles zu "Shakespeare of Pop" geworden, und wie das bei Klassikern so üblich ist, lagert sich dem Werk im Lauf der Zeit immer mehr biografisches, werkgeschichtliches, interpretierendes Schrifttum unterschiedlichster Qualität an, von hagiografischer Fan-Seligkeit bis hin zur sozialpsychologischen Dissertation.

    Von schmissigen Rock-'n'-Roll-Gassenhauern mit naiven Boy-meets-Girl-Reimereien gelangten die Beatles sukzessive zu raffinierten, experimentierfreudigen Kompositionen mit Songtexten, die zwischen gut gelauntem Blödsinn und ambitioniertem Tiefsinn changierten. Ihr respektloser Witz war erfrischend sympathisch, aber ihr Eklektizismus, der musikalisch enorm produktiv war, wirkte bei ernster gemeinten Botschaften gelegentlich wirr. Zwar gerann ihre proletarisch-kleinbürgerliche Herkunft in einigen John-Lennon-Songs zu einer Art Marxismus-light, der in Imagine fast wie eine friedvolle, lyrische Version des kommunistischen Manifests daherkam, zwar brachte George Harrison Vorstellungen indischer Philosophie und Lebensweisheit ein, doch sind die "fabelhaften Vier" als Musiker bedeutend, nicht als philosophisches Quartett. Auf bemüht intellektuelle Deutungen ihres Werks reagierten sie spöttisch bis allergisch. John Lennon behauptete etwa, ausgerechnet die simple Reimerei von "Love Me Do" sei ihr "philosophischster Song".

    Wer den Versuch unternimmt, dem Werk der Beatles philosophische Diskurse unterzuschieben, muss sich also bewusst sein, dass so ein Verfahren weniger das Phänomen erhellt oder analysiert, sondern eher das Phänomen nutzt, um an seinem Beispiel bestimmte Denkbewegungen und Begriffe zu illustrieren. Die Beiträge von 17 amerikanischen Philosophieprofessoren und Musikwissenschaftlern, die der Band "Die Beatles und die Philosophie" versammelt, halten sich bei diesem Befund freilich nicht länger auf, sondern tauchen ihren Gegenstand so tief in die mehr oder minder klaren Wasser ihrer Disziplin, dass der Leser manchmal nach Luft schnappt.

    Idealistischer Monismus, Empiriokritizismus, Hegels Dialektik von Individuum und Gesellschaft, Marxismus und Unterhaltungsindustrie, Existentialismus und indische Mystik, Nietzsche und die Postmoderne, ja, sogar "eine systematisch feministische Philosophie" - all das und noch viel mehr lässt sich, wenn auch zumeist nur in homöopathischer Potenz, im Werk der Beatles finden, wenn man mit den entsprechend geeichten Mikroskopen danach sucht.

    Die Autoren machen aus ihrer Begeisterung für die Beatles keinen Hehl und frönen fröhlich einer sympathischen Wissenschaft. Diverse Grundprobleme, Fragestellungen und Termini philosophischer Diskurse werden behandelt wie in einem durchaus seriösen Einführungskurs, dessen Trockenheit durch den beständigen Rekurs auf die Beatles aufgelockert wird. Dagegen ist nichts einzuwenden, nur fragt man sich, wem das Ganze nützt. Philosophiestudenten, die immer noch oder wieder die Beatles hören? Intellektuelle Beatlesfans, die ihrer Zuneigung akademische Weihen geben wollen?

    "Fundament und Grenze ihrer Kulturkritik ist die anhaltend naive Verherrlichung der Liebe." Ihre Songs "ruhen auf dem unerschütterlichen Untergrund eines wunderbaren Optimismus, der einen Schutzschirm gegen die Verzweiflung bietet." Solche und ähnliche Résumés unterscheiden sich freilich kaum von der naiven "sinnlichen Gewissheit" Hegels, in der die musikalischen Autodidakten Beatles zu ihrer Genialität fanden.

    Wirklich aufschlussreich wird es nur dann, wenn, selten genug, nicht die Texte, sondern die musikalischen Innovationen der Beatles philosophisch gedacht werden. Wie in Schellings idealistischem Monismus nahmen sie "Zufälligkeiten, unbeabsichtigte Nebenprodukte und zum Teil regelrechte Schnitzer in ihre Werke auf, womit sie zum Ausdruck brachten, dass das Zufällige, nicht geplante, Unbewusste letztlich (wenn auch in verhüllter Form) dasselbe ist wie das Geplante, Beabsichtigte und Bewusste."

    Michael Baur & Steve Baur (Hrsg.): Die Beatles und die Philosophie.
    Aus dem Amerikanischen von Susanne Held und Christoph Trunk.
    319 Seiten. Euro 19,90. Tropen/Klett Cotta. Stuttgart 2010.