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Loyal bis zum bitteren Ende

Karl-Otto Saur war ein hoher Funktionsträger im nationalsozialistischen Regime. Bis Kriegsende leitet er das Hauptamt für Technik im Rüstungsministerium. Er war ein enger Vertrauter Hitlers und seines Rüstungsministers Albert Speer, loyal bis zum bitteren Ende. Wie ist seine Familie mit diesem Erbe umgegangen, wie hat es sie geprägt? Antworten auf diese Fragen finden sich in einem Buch, dass der Sohn und der Enkel Karl-Otto Saurs jetzt gemeinsam herausgegeben haben. Es ist nicht das erste Buch, das von den Nachkommen der Täter handelt. Aber eines, so unsere Kritikerin Monika Künzel, mit ganz neuen Einsichten.

Von Monika Künzel | 08.10.2007
    Kindheitsmuster, das ist bekannt, legen sich wie ein Film über das spätere Leben. Außenstehenden fällt es in aller Regel schwer, das Drehbuch dieses Films zu entschlüsseln. Doch auch, wer das Drehbuch kennt, dem gibt die Regie Rätsel auf. Genau davon handelt dieses Buch.

    Da ist Karl-Otto Saur senior. Er hat Ingenieurwesen in Karlsruhe und Hannover studiert. Vor Beginn der Nazi-Diktatur arbeitet er bei der Firma Thyssen und machte sich dort um die Automatisierung von Arbeitsabläufen verdient. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters erwartet seine Familie von dem damals 24jährigen, dass er die Maschinenfabrik übernimmt und aus der schwierigen Geschäftslage herausführt. Im Strudel der Weltwirtschaftskrise jedoch kann er den Bankrott nicht länger aufhalten. Eine schmerzliche Niederlage für den ehrgeizigen jungen Ingenieur für seine Mutter und seine Schwestern steht er von nun an als Versager dar - eine Kränkung, von der sich Karl-Otto Saur lebenslang nicht mehr freimachen kann und die wohl zum verhängnisvollen Auslöser seiner Karriere im so genannten Dritten Reich wird.

    1931 lernt Saur Fritz Todt kennen, den Leiter des Hauptamtes für Technik in der Reichsleitung der NSDAP in Essen, wo Karl-Otto Saur später, ab 1937 hauptamtlich arbeitet. Im Februar 1942 verunglückt Todts Maschine unter mysteriösen Umständen nach einer Unterredung mit Adolf Hitler, der umgehend Albert Speer von Todts Tod informiert und Speer beauftragt, das Rüstungsministerium zu übernehmen; Hitler ernennt ihn zum 'Generalinspekteur für Straßenwesen, Festungsbau, Wasser und Energie'. Trotz aller Trauer um Fritz Todt, der für ihn eine Vaterfigur war, überträgt Karl-Otto Saur seine Solidarität sofort auf Speer, um so dem engsten Kreis der Machthaber nahe zu bleiben oder noch näher zu kommen. Nie hätte er es gewagt, eine Entscheidung Hitlers in Frage zu stellen.
    Für meinen Vater gab es eine natürliche Rangordnung der Menschen, die er bewunderte und zu denen er mehr oder weniger bedingungslos aufschaute. An erster Stelle stand Adolf Hitler.
    Auch nach dem Niedergang des "Dritten Reiches" und Hitlers Flucht in den Selbstmord ließ er in seinem ganzen Leben nicht den geringsten Zweifel an der Größe dieses Mannes.

    Das sagt Karl-Otto Saur über seinen Vater, dessen dienernde "Fuhrknechtsmanieren" der weltläufige elegante Speer ebenso verachtete, wie er sich gleichwohl der "Willfährigkeit und Dynamik" seines Amtschefs nicht minder gezielt bediente und, später, als Leiter des Hauptamtes für Technik im Rüstungsministerium sollte Saur es schließlich bis in Hitlers Testament schaffen.

    "Von dem Mann, der mein Vater sein sollte, wusste ich nicht viel", beginnt Karl-Otto Saur junior das Nachdenken über seinen Vater: "Ich fand, dass er das Familienleben eigentlich störte". Der Junior, Jahrgang 1944, hat seinen Vater in dessen als von ihm und seiner Mutter als groß empfundenen Jahren nicht bewusst erlebt. Nach einem windigen "Entnazifizierungsverfahren" wird er als Mitläufer eingestuft, während er sich als Opfer sieht. Nun müssen vor allem seine Frau und seine vier Kinder mit einem verbitterten, schnell reizbaren Vater leben, der sich materiell und ideell als betrogen empfindet. Bitter wird darüber auch die Mutter, die in häuslicher Enge und ständiger Geldknappheit die Kinder großzieht und dabei die Augen nicht mehr vor den Trümmern ihrer Ehe verschließen kann. Und vor der Art, wie sich ihr Mann verwandelt "von einem Mann der ersten Liga zu einem Mann ohne Selbstvertrauen". Das hat jedes seiner Kinder auf seine eigene Art geprägt, wie sein Enkel Michael beschreibt. Michaels Vater, den Jüngsten, hat der Gescheiterte bevorzugt und auch die Älteste, denn zum Zeitpunkt ihrer Geburt begann seine "große Zeit". Wie diese Ungerechtigkeit die anderen schmerzte, lässt sich ahnen.

    Wie es seinerseits Karl-Otto Saur junior schmerzte, dass mit zunehmender Kenntnis der Verbrechen, an denen sein Vater beteiligt war, ein Relativieren unmöglich wurde. Dass ihm, dem Senior, nach dem Kriege alle Unternehmungen misslingen, lag in der Logik seines Charakters, für alle in der Familie aber war es eine Katastrophe. Eine Vaterfigur konnte er nicht sein!
    Michael Saur:

    Mein Vater bewunderte als jüngerer Mann auch Leute wie Willy Brandt oder Rudolf Augstein. Ich glaube aber nicht, dass er so weit ging wie ich und sich Vorbilder suchte. Das war auch kein Wunder, denn da erhob sich bildlich gesprochen ein Zaun vor meinem Vater. Seine Generation litt unter dem Dilemma, die eigenen Väter abzulehnen, aber nicht imstande zu sein, sich einen Ersatzvater zu suchen, weil ein Ersatzvater und Diktator genau der Niedergang ihrer Väter gewesen war.

    Karl-Otto Saur junior ist gerade 21 Jahre alt, als er heiratet und in kurzer Zeit drei Kinder geboren werden. Da hat der später erfolgreiche Journalist und Verlagsleiter noch keinen Beruf, nur den unbändigen Wunsch, anders zu leben. Je mehr er dem Wirken seines Vaters auf die Schliche kommt, umso mehr kollidieren miteinander irrationaler Stolz, Verachtung, ja auch eine diffuse Angst vor eigenen Charakterspuren im Angesicht eines solchen Familienerbes.

    Das hat sein Sohn Michael, der heute als Schriftsteller in New York lebt und dem solche ambivalenten Gefühle ebenfalls sehr nachgehen, erkannt und dieses bemerkenswerte Buch initiiert. Als Michael auf die Welt kommt, ist sein Großvater gerade ein Jahr tot. Aus der Nähe gelingt Michael und Karl-Otto Saur eine fast distanzierte Analyse des jeweils eigenen Lebens als Sohn, gespiegelt im anderen, gespiegelt auch in Begegnungen weit über den Familienkreis hinaus.

    "Brauchen wir Schutz vor den Abgründen der Erinnerung?", fragt Christa Wolf in ihrem Buch "Kindheitsmuster". Die Offenheit, mit der sich beide Autoren erinnern, ist befreiend und beklemmend zugleich. Karl-Otto Saur über seinen Vater:

    Mit großer Freude hätte er sicher gelesen, was Joseph Goebbels am 23. Juli 1944 - drei Tage nach dem Stauffenberg-Attentat - in seinem Tagebuch notiert hatte. "Abends bin ich mit Speer und seinen Mitarbeitern Saur und Dorsch sowie mit Dr. Naumann und Bormann beim Führer zu Tisch. Der Führer ist glücklich wieder im Kreis alter Kameraden weilen zu können und deshalb dauert es so lange, bis er das Zeichen zum Aufbruch gibt." Vom Führer als "alter Kamerad" anerkannt zu werden, das war wohl eine der höchsten Stufen, die man im "Dritten Reich" erklimmen konnte. Mein Vater hat aber nicht gemerkt, dass gerade solche Geschichten keine Erklärung sind, warum er so bedingungslos diesem Mann gefolgt ist, ihm vertraut hat und mit ihm in den Untergang ging - und mit dazu beigetragen hat, dass Millionen von Toten zu beklagen waren.

    So sehr Karl-Otto Saur die Dimension der Verstrickung seines Vaters erfasst, so intensiv sucht er in seiner Sehnsucht nach dem liebenden Vater, nach verborgenen Qualitäten. Fühlt sich zerrissen zwischen den zutage tretenden Verbrechen, dessen Mittäter sein Vater war und muss erkennen, dass Vergeben, Verzeihen als Tugenden hier nicht taugen. Was dem Senior nach dem Krieg an Anerkennung versagt blieb, zahlt er seiner Familie durch äußere und vor allem durch innere Abwesenheit heim.

    In einer großen Familie, in der alle Schutz suchen , Trost, Vergebung, Anerkennung , jeder auf seine Weise, dort werden Rücksichtnahme, Respekt und der Verzicht auf Widerworte zu den höchsten Tugenden erhoben. In einer solchen Umgebung steht das Tor für Opportunismus, den Karl-Otto Saur junior "die innere Tendenz" nennt, weit auf. Dieser Lebensfalle sind sich beide Autoren des Buches zutiefst bewusst und halten ihre eigene schwierige Identitätssuche dagegen - umgeben von starken Frauen: Ehefrauen, Großmüttern, einer Tochter, die gewiss nicht alle Ansichten dieses Buches teilen.

    Die Situation kennen die meisten von uns. Man befindet sich in einem Gespräch, es mag einen sogar nur mehr oder weniger interessieren, und im Eifer des Gesagten oder Gefragten verrät man sich selber. Aus dem eigenen Mund spricht jemand anderes, tönt eine Stimme, die man nicht auf Anhieb erkennt, und doch ist es die eigene. Oder es ist nur ein Lachen, das man nicht auf Anhieb als sein eigenes erkennt. Es ist dieser Moment, der Bruchteil einer Sekunde, ein Augenblick, der manchmal ein ganzes Leben weiter bestimmen kann. Plötzlich lauert der Schrecken, der einer opportunistischen Unwahrheit folgt, hinter jeder dunklen Kurve. Mein Großvater ist dafür kein schlechtes Beispiel. Sein Leben wurde nach dem Krieg zu einer Geisterfahrt.

    Das vorliegende so direkte und gleichzeitig sehr diskrete Buch von Karl-Otto Saur und seinem Sohn Michael überrascht durch ebenso genaue, manchmal heikle Beobachtungen am anderen wie durch einen entwaffnend lakonischen Ton, aber sie provozieren die Selbstbefragung; fragen nach Schuld und Mitschuld, nach dem Verhältnis von Nähe und Distanz, fragen nach Treue und Verrat, nach dem Glück und seinem Preis. Entstanden ist eine Geschichte in zwölf Kapiteln, in der sich die Zeitläufte der letzten 70 Jahre brechen in politischen, beruflichen und privaten Turbulenzen, eine Geschichte, die vor allem dokumentiert, dass die Familie der erste Ort ist, diesen Fragen nachzugehen. Weil nur ihr der "Lebensberg" vertraut ist, wie Paul Celan den Menschen mit all seiner sich auftürmenden Erfahrung beschreibt. Familie, so verstanden , kann aus dieser Vertrautheit heraus befähigen, ein aufrechtes, ein selbst bestimmtes Leben zu führen.

    "Er stand in Hitlers Testament. Ein deutsches Familienerbe". So haben Karl-Otto und Michael Saur ihr Buch genannt. Es ist im Econ Verlag erschienen, hat 240 Seiten und kostet 19,90. Unsere Rezensentin war Monika Künzel.