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Ludwig van Beethoven: Die fünf Konzerte für Klavier und Orchester

Seit dem 23. Juni steht es fest: Simon Rattle wird im Jahre 2002 Nachfolger von Claudio Abbado als künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker. Im zeitlichen Umfeld dieser Wahl durch die Berliner Spitzenmusiker wurde Rattle zurecht als Freund auch der Musik dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts geschildert, als jemand, der auch hier ohne Scheuklappen durch die Welt geht und mit Partituren von Bernstein und Henze genauso viel anzufangen weiß wie mit denen von Webern, Boulez oder Holliger. Eine Mahler-Sinfonie soll bei ihm den Entschluß zur Dirigentenlaufbahn ausgelöst haben; den großen Standardwerken der Klassik und Romantik nähert er sich behutsam, aber mit äußerster Sorgfalt. Jüngstes Beispiel hierfür auf dem Schallplattenmarkt ist seine Einspielung der fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven mit Alfred Brendel als Solist, die im Mittelpunkt der heutigen Ausgabe unserer Reihe "Die Neue Platte" steht. Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Ludwig Rink. Simon Rattle vertritt die Ansicht, daß künstlerische Fortschritte nur im intensiven Kontakt mit einem ständigen Orchester erzielt werden können. Deshalb war er seinem "City of Birmingham Symphony Orchestra" von 1981 bis zum letzten Jahr treu und hielt sich mit Gastdirigaten ziemlich zurück. Am Pult der Berliner Philharmoniker stand er 1987 mit Mahlers Sechster zum ersten Mal; die Wiener Philharmoniker mußten bis 1993 auf ihn warten. Inzwischen sind sie durch "viele Stunden gemeinsamen, leidenschaftlichen Musizierens" verbunden; und vielleicht hat ja auch Sir Simon bereits ein wenig von dem unerklärlichen Zauber gerade dieses österreichischen Orchesters kennengelernt, den Richard Strauß einmal in die Worte faßte: "Nur wer die Wiener Philharmoniker dirigiert hat, weiß, was sie sind! Doch das bleibt unser eigenstes Geheimnis!" Wir sterbliche Nicht-Dirigenten müssen uns aufs pure Hören beschränken, gehen dabei aber im Falle vorliegender CDs keineswegs leer aus. Der 44jährige Engländer entlockt dem traditionsreichen Wiener Klangkörper himmlischen Wohllaut. Die ersten Orchestertakte von Beethovens 4. Klavierkonzert dürften selten von einem Orchester mit größerer Feinheit gespielt worden sein. * Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - aus: Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 In Sachen Beethoven ist Simon Rattle fast noch ein Neuling, zumindest, wenn man ihn mit dem Solisten der Aufnahme vergleicht, mit Alfred Brendel. Gerade vier Jahre ist es her, daß Rattle sich erstmals an den kompletten Zyklus der neun Sinfonien Beethovens heranwagte, den er außer in Birmingham dann auch in London und Frankfurt zur Aufführung brachte. Brendel dagegen, mit seinen 68 Jahren auch gut eine Generation älter als Rattle, bringt die kompletten Klavierkonzerte Beethovens mit dieser Philips-Neuaufnahme bereits zum vierten Mal auf Schallplatte heraus: erstmals als junger Mann um die dreißig mit Zubin Mehta, danach dann mit Bernard Haitink und James Levine. Überhaupt steht bei Brendel die Klassik im Mittelpunkt: Er gilt als herausragender Vermittler vor allem der Musik von Beethoven und Schubert, die er mit skeptischem Rationalismus immer wieder neu ergründet und mit höchster Gefühlsintensität spielt. Anfang der achtziger Jahre und dann wieder 1993 bis 1995 ging er mit allen 32 Beethoven-Sonaten im Programm auf Konzertreise, 1987/88 unternahm er eine ähnliche Weltreise mit dem Klavierwerk Franz Schuberts durch Europa, Japan, Amerika und die Sowjetunion. Seine Deutungen dieser Musik spiegeln inzwischen einen Grad an Wissen, Erfahrung und immer wacher Neugier, daß Kritiker vom "tiefsinnigsten Pianisten unserer Tage" oder "dem nachdenklichsten Interpreten seiner Generation" sprechen. Beethovens Klavierkonzerte spielt Brendel heute noch nuancierter und genauer als in früheren Einspielungen, doch zugleich auch mit größerer Freiheit dort, wo es in den Partituren an ganz genauen Festlegungen fehlt. * Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - aus: Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 Anders als Simon Rattle, der mit dem Orchestra of the Age of Enlightment durchaus Ausflüge in die Welt des sogenannten authenischen Musizierens gemacht hat, hält Alfred Brendel nichts davon, Beethoven auf einem Hammerflügel zu spielen. Auch soll er Rattle einmal öffentlich vorgehalten haben, sich zuviel mit dem vergänglich Neuen in der Musik zu befassen. Trotz solcher offensichtlicher Meinungsunterschiede zweier starker Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Generationen gelingt beiden mit dieser neuen Einspielung der fünf Klavierkonzerte Beethovens so etwas wie eine musikalische Sternstunde, sozusagen eine Referenz-Einspielung, an deren hoher Qualität sich vorhergehende und nachfolgende zu messen haben. Zu spüren ist die Harmonie zwischen Solist, Orchester und Dirigent, Freude an der Musik und die Überzeugung, daß jede Note, jede Linie, jeder Zusammenklang ganz speziellen Sinn hat. Brendel, Rattle und die Musiker der Wiener Philharmoniker haben in idealer Weise zueinander gefunden. Brendel spricht dabei "von tiefer musikalischer Verbundenheit", Rattle beschreibt seine heutige Zusammenarbeit mit Brendel so: "Wir haben in der Zwischenzeit so oft zusammengearbeitet, daß wir, glaube ich, ein Gefühl für den Rhythmus des anderen bekommen haben. Wir stimmen nicht immer überein, aber ich versuche stets, ihm das zu geben, was er braucht und verdient. Ich bereitete die Startbahn vor, von der er abhebt." * Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - aus: Klavierkonzert Nr. 3 c-moll In unserer Sonntagsreihe "Die Neue Platte" ging es heute um die Neueinspielung der fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven mit Alfred Brendel und den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Simon Rattle. Hier im Studio verabschiedet sich jetzt Ludwig Rink.

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