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Lübecker Literaturtreffen
Verirrung, Verwirrung, Verzauberung

Im Jahr 2005 hatte Günter Grass das Lübecker Literaturtreffen ins Leben gerufen. Nach seinem Tod im vergangenen April fand es nun zum ersten Mal ohne ihn statt. Trotzdem war Grass immer noch omnipräsent an diesem Abend, der eine Mischung aus Freude und Trauer transportierte.

Von Raliza Nikolov | 24.01.2016
    Die Schriftsteller Dagmar Leupold (l-r), Fridolin Schley, Eva Menasse, Lena Gorelik, Christiane Neudecker, Tilman Spengler, Karen Köhler und Norbert Niemann posieren am 23.01.2016 beim Literatentreffen in Lübeck.
    Die Schriftsteller Dagmar Leupold (l-r), Fridolin Schley, Eva Menasse, Lena Gorelik, Christiane Neudecker, Tilman Spengler, Karen Köhler und Norbert Niemann posieren am 23.01.2016 beim Literatentreffen in Lübeck. (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    Nach Stunden der intensiven Diskussion hinter verschlossenen Türen im Sekretariat des Günter-Grass-Hauses in Lübeck gönnen sie sich zum Abschluss doch die große öffentliche Bühne. Im Mittelpunkt: Tilman Spengler. Doch nein, so kann man es nur fast sagen. Die im Publikum sitzende Witwe Ute Grass erlebte im gut besuchten Saal der Lübecker Kammerspiele, wie omnipräsent der Spiritus Rector, der Literaturnobelpreisträger Günter Grass an diesem Abend war. Tilman Spengler verstand es, die Mischung aus Freude und Trauer mit dem ihm eigenen Humor zu transportieren, die Freude darüber, den Austausch im Sinne Grass' fortsetzen zu können, die Trauer, dass er eben nicht nur kurz draußen eine Pfeife rauchen gegangen war. Wie also weitermachen ohne Günter Grass? In vielfältiger Weise mit ihm. Zum Beispiel mit seinen Gedichten, die dem Abend den Rahmen gaben.
    "Angenommen, ich bin und bin nicht. Warum dann dieser Aufwand mit Wörtern, Rauchzeichen und datierten Tatsachen, für die jemand, der ich sein soll, haftbar zu machen ist, weil sie benennbar sind."
    Einblick in Eva Menasses aktuelle Arbeit
    Wer nun dachte, lauter noch unveröffentlichte Texte zu hören, sah sich enttäuscht. Christiane Neudecker brachte die atmosphärische"Sommernovelle" mit vom Mai vergangenen Jahres. Karen Köhler begann und las aus dem schon 2014 erschienenen Erzählungsband"Wir haben Raketen geangelt". Eva Menasse, neben Tilman Spengler seit 2005 beteiligt, gab allerdings einen Einblick in ihre aktuelle Arbeit - ihr Erzählband"Tiere für Fortgeschrittene" soll im kommenden Jahr erscheinen.
    "Konrad setzte sich an den Schreibtisch und öffnete das linierte Schulheft. Seit er mit dieser Arbeit beschäftigt war, verstand er wie schwer es sein musste, Schriftsteller zu sein. Es gab so viele Möglichkeiten."
    Und dann - Lesung Spengler. Eva Menasse stellte ihn als den ihrer Meinung nach letzten Universalgelehrten der Republik vor:
    "Er ist unendlich geistreich, er füllt geistig, körperlich und mit seinem unfassbaren Charme die Rolle, die wir jetzt so dringend brauchen, mehr als aus. Wir wüssten gar nicht, wie wir uns ohne ihn hier zusammenfinden sollten."
    Tilman Spengler las nicht zufällig aus seinem Band "Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben", einer Hommage an Jörg Immendorff und damit - so Spengler im Interview - einer Reminiszenz an Günter Grass, den Maler, Künstler und Provokateur:
    "Die hatten auf wenige Weise miteinander zu tun, aber es sind zwei provokante Gestalten gewesen, die unter anderem nur sich um so ein Phänomen wie die deutsche Einheit und die deutsche Kultur sehr verdient gemacht haben."
    Und wie halten sie's mit der Politik? Eine Frage, die für Grass essenziell war. Tilman Spengler ging darauf ein, ja, konnte aber der lähmenden Hilflosigkeit angesichts der gegenwärtigen Situation nicht viel Konkretes entgegensetzen:
    "Wir haben uns die eine Frage gestellt, was ist denn die geeignete literarische Form, um auf Plattitüden einzugehen, dass die Würde des Menschen unverletzbar sei, ein Boot voll sein kann..."
    Kein Manifest oder Offener Brief
    Auf ein Manifest oder einen Offenen Brief konnte sich die neu zusammengesetzte Gruppe aber nicht einigen.
    "Ich glaube, die Haltung, die aus uns spricht, spricht aus den Werken, die wir Ihnen vortragen."
    Und aus den literarischen Bildern, die sie zu zeichnen versuchen.
    "Ich will Ihnen damit nur sagen, dass der Verzicht auf eine Deklamation nicht notwendigerweise die Zustimmung zu dem bedeutet, was in der Politik passiert."
    Und womit haben wir diesen"Schleudergang durch die Literatur" verdient, so Spengler herrlich selbstironisch:
    "Ich kann nur sagen, ich halte es für eine Bereicherung und kann nur sagen, uns geht es da noch ganz anders, die das 36 Stunden lang machen müssen. Wir sind da glücklich, und es gibt einen gemeinsamen Nenner für die Verzauberung und die Verirrung und die Verwirrung, das sind die Bücher, in denen diese Sachen liegen."
    Nicht nur Verirrung und Verwirrung, auch Verzauberung und Inspiration konnte man aus diesem Abend mitnehmen - am Büchertisch drängten sich hinterher viele Lesewütige: Günter Grass hätte das gefallen.