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Lückenhaftes Wissen

Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie vermisst fundierte Anatomie-Kenntnisse bei vielen Berufsanfängern. Diese Wissenslücke halten die Vertreter der Gesellschaft für so brisant, dass sie sich gleich die Anatomie-Ausbildung als Schwerpunktthema bei ihrem diesjährigen Chirurgenkongresses in München verordneten.

Von Birgit Fenzel |
    Die Diagnose der Unfallchirurgen über den Wissensstand ihres Berufsnachwuchses fällt wenig schmeichelhaft aus. So attestiert Professor Volker Schumpelick, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, den meisten jungen Ärzten in anatomischen Detailfragen ungesunde Ahnungslosigkeit. Schuld daran sei die Ausbildung an den Universitäten. Da komme das Fach Anatomie einfach zu kurz:

    "Das Problem liegt daran, dass die Anatomie erstens von Anatomen wahrgenommen wird, die sich für die Makroanatomie nicht interessieren. Die sind interessiert an Wissenschaft auf der Zellebene – nur dort gibt es dann Drittmittel und Geld und darüber hinaus ist es so, dass die Anatomie von den Studenten bislang immer als nicht sehr interessant wahrgenommen wird - man muss zu viel auswendig lernen. Also es ist von beiden Seiten Mangel."

    Mangel macht sich auch bei der Verteilung der Lehrstühle breit, denn es gibt immer weniger davon an deutschen Universitäten. Mit drei Lehrstühlen für dieses Fach steht die Medizinische Fakultät der Uni München noch vergleichsweise gut da, hat aber im vergangenen Jahr auch ihren letzten Vertreter des alten Schlages in den Ruhestand verabschieden müssen. Der Anatomieprofessor Reinhard Putz war rund 20 Jahre lang Lehrstuhlinhaber an der LMU und kennt das Dilemma nur zu gut:

    "Die Chirurgie wünscht sich, dass die Ärzte eine ziemlich detaillierte Vorstellung der anatomischen Verhältnisse des Körpers haben. Das ist aber für jedes Fach sehr unterschiedlich und die anatomische Ausbildung in den ersten beiden Studienjahren kann sich einfach nicht zu sehr auf die Anforderungen der einzelnen Fächer einlassen."

    Schließlich geht es im ersten Studienabschnitt darum, die Grundlagen der Medizin zu erlernen. Und dabei steht eben nicht nur Anatomie auf dem Plan, sondern auch Biochemie, Physiologie, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie.

    Dass die Anatomie in ihrem Studium zu kurz kommt, ist Ingrid Scherk, Teresa Langer, Anne Zecha und Jan Hagemann noch gar nicht aufgefallen. Gerade eben verlassen die vier mit wehenden grünen Kitteln den Präpariersaal der Anatomie. Die Anatomie nimmt sowieso schon von allen Fächern im Vorklinikum den größten Raum ein, sagt Teresa Langer.

    "Man kann nicht mehr Zeit einräumen für die Anatomie, die eh schon sehr intensiv in ihrer Didaktik ausgebildet ist."

    Allerdings sei auch eine Menge Eigeninitiative gefragt, betonen die vier. Sie haben sich freiwillig als Tutoren gemeldet und geben ihr Anatomiewissen an jüngere Semester weiter. Trotz 800 Studienanfängern in der Medizin musste da niemand vor dem Präpariersaal Schlange stehen, sagt Hagemann.

    "Ich kann ja jetzt nur als jemand sprechen, der ein Jahr den Tutorjob gemacht hat, aber ich hatte da jetzt nie beobachtet, dass da jemand wirklich zu kurz kommt. Es sei denn, er interessiert sich wirklich nicht dafür."

    Durch ihren Tutorenjob konnten sie zwar ihre Kenntnisse noch weiter vertiefen, sind sich aber einig darüber, dass zusätzliche anatomische Auffrischungskurse später im Studium oder danach sinnvoll sind. Ingrid Scherk:

    "Ich denke, wenn man das wirklich in ein, zwei Semestern lernt, liegt soviel Zeit dazwischen, bis man tatsächlich diese Tätigkeit ausübt. Denn Anatomie ist die Grundlage des Studiums und man kann sich die Details nicht über so lange Zeit merken."

    Reinhard Putz, der ehemalige Lehrstuhlinhaber der Münchner Anatomen, sieht die Sache ähnlich. Und vor allen Dingen auch machbar.

    "Aus meiner Sicht hätte jede einzelne Fakultät die Möglichkeit durch innere Umorganisationen, eine solche Auffrischungsanatomie im zweiten Abschnitt des Studiums einzuführen. Das sind ein paar Wochenstunden, die man aus den anderen Fächern abknapsen muss, aber diese Fächer profitieren dann enorm davon."

    Dieses Rezept haben sich auch die Unfallchirurgen vorsichtshalber schon selbst verordnet. Denn morgen am letzten Kongresstag bieten sie für Studierende ein chirurgisches Training an. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen die dann ihren Anatomieprof.