Archiv


Lusi frisst Dörfer

Zwei Jahre ist es her, dass die Bewohner mehrerer Dörfer im Osten von Java ihren Augen nicht trauten: Aus einem Erdkrater sprudelten Schlammmassen, die die Gegend überfluteten. Seitdem ist es nicht gelungen, die Flut zu stoppen, trotz wütender Proteste der Einwohner, denen Lusi, wie sie das Schlamm-Monster getauft haben, die Existenzgrundlange raubt.

Von Thomas Kruchem |
    50 Siebtklässler in grün-weißer Uniform lauschen ihrem Erdkunde-Lehrer - in einem Raum mit rissigem Boden und schiefen Wänden; einer Ruine, wie man von draußen erkennt. Das mit roten Ziegeln gedeckte Schulgebäude wirkt wie eingebacken in eine rissig graue Masse. Schulleiter Muhammed Hussein schüttelt den Kopf.

    "Von den elf Klassenzimmern unserer Schule können wir gerade noch zwei benutzen. Doch auch da bedeckt verkrusteter Schlamm den Boden; und wir haben Angst, dass uns das Dach über dem Kopf zusammenbricht."

    Renokenongo heißt das Dorf im Osten der indonesischen Insel Java. 10.000 Menschen lebten hier - bis Mitte 2007 der Schlamm das Dorf zu fressen begann. Jetzt wohnen noch 500 Menschen rund um die halb eingestürzte Moschee, deren Hof ein metertiefer Riss durchzieht. Jenseits der Straße hat sich die graue Masse wie wütend aufgeworfen - wohl, weil ein Ensemble anmutiger Ziegelhäuschen mit liebevoll gestalteten Türbögen und Sprossenfenstern ihr noch immer widersteht. Kein Mensch ist dort zu sehen außer einem alten Mann, der versonnen über die Lehne eines auf einer Terrasse festgebackenen Bambus-Schaukelstuhls streicht.

    "In diesem Haus haben wir gewohnt. Und dort hatte ich meine Schreinerei - bis zum 26. Mai 2007. Morgens um drei hörten wir plötzlich ein immer lauteres Dröhnen, Krachen und Gurgeln, rannten vor die Tür und sahen, wie sich eine dunkelgraue Masse über die Straße wälzte, hinein in unsere Häuser. Knietief standen wir am Morgen im Schlamm. Wir konnten gerade noch unsere Möbel retten. Unser Dorf aber war verloren. Nie wieder werden dort Menschen leben."

    Der Albtraum für Renokenongo, für den ganzen Bezirk Porong nahe der großen Hafenstadt Surabaya, begann vor zwei Jahren. Damals bohrten Ingenieure des indonesischen Energiekonzerns "Lapindo Brantas" nach Gas, als sie in mehr als 3000 Metern Tiefe auf kochendes Salzwasser stießen. Da der Bohrkanal nicht ausreichend mit Rohren gesichert war, schoss Wasser unter dem unvorstellbaren Druck von 480 Bar den ungeschützten Bohrkanal hinauf, fraß sich seitwärts in eine Tonschicht, weichte den Ton auf und drang schließlich als Schlamm an die Erdoberfläche. Schließlich spie der Boden täglich bis zu 150.000 Kubikmeter Schlamm aus und tut es bis heute.

    Rund um eine endlose graue Fläche schichten endlose Kolonnen Lastwagen endlose Erddämme auf, reparieren gebrochene Dämme. Pumpen dröhnen; Schilder warnen: "Betreten verboten. Sicherheitszone." Schon eilen aus einer Baracke Soldaten herbei, werden fast handgreiflich.

    50 Dörfer habe der Schlamm bis heute verschlungen, berichtet auf der Fahrt in die Stadt Winarco, ein Sprecher der Schlamm-Opfer. "Lusi", wie sie, bitter verniedlichend, das Schlamm-Monster nennen, fresse überdies Hohlräume in den Untergrund, so dass bis fünf Kilometer vom Zentrum der Eruptionen entfernt urplötzlich der Boden absacken kann, oft drei, vier Meter tief. Und immer wieder dringt ein scharfer, schwefliger Geruch in die Nase. Unkontrolliert austretendes Gas, erklärt Winarco, giftiges Methan mit Schwefelsäure.

    Halt beim Marktgebäude von Porong, wo bis heute über 2000 "Lusi"-Opfer hausen. Überall Beton, Wellblechdächer auf Stahlträgern. Darunter gestapelte Möbel, Wäsche in Kartons, Betten hinter Plastikplane, keine Privatsphäre. Ein zum Skelett abgemagerte alter Mann - rote Hose, Schlappen, Baseball-Kappe - starrt zusammengekauert ins Nichts. Kinder spielen mit aus Papier gebastelten Wohnhäusern: der alten Dewi Sri stehen die Tränen in den Augen, während sie - ein Baby auf den Armen - Kleider schrubbt.

    "Die Reisrationen, die wir von 'Lapindo' bekommen, reichen hinten und vorne nicht. Dies auch deshalb, weil wir einen Teil verkaufen müssen - für Seife und Kleider, für Schulgebühren und Busfahrkarten für die Kinder. Denn die müssen jetzt weit entfernt zu Schule gehen. Wenn wir doch bloß etwas arbeiten könnten! Früher habe ich in meinem Garten Gurken angepflanzt und die auf dem Markt verkauft; und mein Mann hatte mit seinem Bruder einen Steinhauer-Betrieb. Jetzt aber hocken wir den ganzen Tag auf den Stufen dieses Marktgebäudes."

    Die für die Katastrophe verantwortliche Firma "Lapindo Brantas" gehört mehrheitlich dem reichsten Mann Indonesiens, Sozialminister Aburisal Bakrie. Der hat sich mit der Regierung darauf geeinigt, dass er bis Ende März 2007 betroffene Grundstücke kauft, Schlammopfer vorübergehend unterstützt und sich bemüht, die Katastrophe in den Griff zu bekommen. Dazu pumpt die Firma zum Beispiel zehntausende Tonnen Schlamm in den nahen Porong-Fluss, der sich so in eine tote grau-braune Kloake verwandelt hat. An der Universität Bandung fordert derweil Bohringenieur Professor Rudi Rubiandini eine dauerhafte Lösung des Problems - in Form einer sogenannten Entlastungsbohrung.

    "Wir treiben einen Kilometer von der Eruptionszone entfernt zwei Bohrlöcher senkrecht in den Boden. Ab zwei Kilometern Tiefe führen wir die Bohrungen dann schräg auf die Quelle der Eruption zu. Danach pumpen wir mit hohem Druck schwere Flüssigkeit in die Hohlräume oberhalb der Eruptionsquelle - bis wir schließlich einen Druckausgleich erreichen."

    Die Entlastungsbohrung kostet bis zu 100 Millionen Euro, sagt Rubiandini, der eine staatliche Untersuchungskommission zur Katastrophe von Porong leitete. Auch für den Erfolg der Bohrung kann niemand garantieren. Diese Bohrung jedoch verkörpert die einzige Zukunftshoffnung für die Menschen von Porong. Und deshalb will Ingenieur Rubiandini die Firma "Lapindo Brantas" dazu zwingen - mit technischer Expertise, Gerichtsverfahren und öffentlichem Druck. Insbesondere Letzteres jedoch dürfte schwer werden: Die Chefredakteure der großen Zeitungen Indonesiens, sagt Rubiandini, haben es ihren Redakteuren inzwischen verboten, weiter über "Lusi" zu berichten. Und der engagierte Professor erhält immer häufiger Morddrohungen.

    "Meine Freunde sagen: 'Rudi, sei vorsichtig. Fahr nicht allein Auto und so weiter.' Ich aber habe keine Angst, weil Gott mich schützt. Das reicht."