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Lust an der Randale oder Frust in der Krise?

Angesichts der Wirtschaftskrise hat DGB-Chef Michael Sommer vor soziale Unruhen gewarnt. Doch könnte sich die Wut auf das Wirtschaftssystem und die Politik in Deutschland wirklich die Bahn brechen? In der autonomen Szene Berlins staut sich jedenfalls die Wut über steigende Mietpreise und soziale Ungerechtigkeiten.

Von Dorothea Jung | 15.05.2009
    "Wir werden sicherlich nicht über kurz oder lang französische Verhältnisse bekommen. Aber ich glaube schon, dass wir vergleichbar zu Fragen kommen, dass die Menschen sich abwenden von Politik, möglicherweise sich radikalisieren. Man weiß nicht, in welche Richtung - möglicherweise dann auch viel stärker protestieren in den Betrieben, möglicherweise auch in Großdemonstrationen."

    "Kritik möchte ich üben an dem Gewerkschaftsvorsitzenden Sommer. Er hat vor sozialen Unruhen gewarnt. Da sind wir nicht ganz seiner Meinung. Wir wollen explizit diese sozialen Unruhen und werden unser Möglichstes tun, um dieses Ziel zu erreichen."

    "Wenn sich nichts ändert in der Gesellschaft, dann kann es wirklich zu sozialen Unruhen kommen."

    Soziale Unruhen - dieser Begriff fällt häufiger in jüngster Zeit. Es wird gewarnt vor der Wut, die sich Bahn bricht. Doch gibt es diese Gefahr in Deutschland wirklich? Oder wird sie herbeigeredet? Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat für morgen in Berlin zu einer Großdemonstration aufgerufen. Wird es bei dieser Gelegenheit wieder zu Ausschreitungen kommen, so wie schon am ersten Mai in Berlin? Dort wurden auf der sogenannten "revolutionären Mai-Demonstration" mehr Bushäuschen zerschlagen, mehr Polizisten mit Steinen beworfen und mehr Demonstranten festgenommen, als in den fünf Jahren zuvor.

    Medien und Politiker hatten daraufhin DGB-Chef Michael Sommer Stimmungsmache vorgeworfen. Denn er hatte davon gesprochen, dass sich die Menschen in Deutschland angesichts der Krise radikalisieren könnten. Gescholten wurde aber auch die linksextreme Szene; hatte sie doch im Vorfeld des ersten Mai soziale Unruhen nicht nur befürwortet, sondern regelrecht herbeigesehnt. Zum Beispiel mit dem Autonomensong "Riot". "Riot", das heißt "Unruhe" und "Aufstand".

    Wann gibt's mal wieder richtig "Riot",
    ein "Riot", wie er früher einmal war?
    ja, mit Barrikaden, Mollies und mit Steinen
    und nicht so 'n Rumgeplänkel wie in diesem Jahr?


    Der 17-jährige Georg Ismael hat an der diesjährigen Mai-Demonstration in Berlin teilgenommen. Der Gymnasiast ist in einer kommunistischen Splittergruppe namens "Revolution" organisiert und tritt nach eigenem Bekunden für eine sozialistische Gesellschaftsordnung ein. Die Ausschreitungen in Kreuzberg hat er vorwiegend als Reaktion auf Angriffe der Ordnungsmacht erlebt.

    "Ich würde den ersten Mai in dem Sinne nicht als soziale Unruhe bezeichnen. Es ist eine Protestveranstaltung, wo natürlich klar ein antikapitalistischer Protest auf die Straße getragen wird, bei dem es zu Provokationen von beiden Seiten, aber in erster Linie von Seiten der Polizei, kommt, auch mit wirklich gewaltsamen Mitteln. Und da kommt es natürlich zu einer Gegenwehr."

    Berlins Innensenator Erhart Körting bewertete die Mai-Ausschreitungen erwartungsgemäß anders. Gleichwohl mochte der Sozialdemokrat genauso wenig wie der jugendliche Demonstrant von sozialen Unruhen reden.

    "Wobei die Menschen, die ich dabei beobachtet habe, die Gewalttäter, nicht politische Gewalttäter waren, sondern: Das war die Lust an der Randale, die Menschen können sich, glaube ich, nicht legitimieren, indem sie sich auf soziale Unruhen oder etwas Ähnliches berufen. Das war die Lust an Gewalt bei vielen."

    Die handgreifliche Brauchtumspflege von Autonomen, Antifa-Aktivisten und Linksextremisten zum ersten Mai in Berlin ist auch nach Auffassung von Professor Wilhelm Heitmeyer keine Erscheinungsform sozialer Unruhen. Der Direktor des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung rät zu differenzieren.

    "Soziale Unruhen sind nicht steuerbar. Aber bei den Randalen am ersten Mai weiß man doch im Vorhinein schon, wer wo auftaucht und was dort passiert. Dass das manchmal aus dem Ruder läuft durch die verschiedenen Interaktionsprozesse zwischen Polizei und den meist Jugendlichen, das ist eine ganz andere Frage. Aber das ist, um das mal so zu sagen, das ist schon ziemlich normal - eben weil es ritualisiert immer wieder auftaucht. Soziale Unruhen sind ungeregelt."

    Wilhelm Heitmeyer ist überzeugt: Demonstrationen, die bei einer Versammlungsbehörde angemeldet werden, die sogar noch an wiederkehrenden Tagen stattfinden und zusätzlich vielleicht stets an den gleichen Orten, sind nicht als soziale Unruhen zu bezeichnen. Selbst dann nicht, wenn es dabei zu Krawallen kommt. Derartige Ereignisse nimmt der Sozialwissenschaftler zwar ernst, weil Menschen verletzt werden. Er warnt aber davor, sie als soziale Unruhen zu definieren.

    "Wir haben dazu in Deutschland einfach nicht die Protestkultur, auch nicht die gewalttätige Protestkultur, wie sie etwa in Frankreich ja nun historisch schon angelegt ist. Von daher müssen ja ganz viele Bedingungen zusammenkommen. Es müssen Mobilisierungsexperten da sein. Es muss wirklich große Energie vorhanden sein und nicht mal einfach nur 'just for fun' mal einen Nachmittag da, sich zu versammeln. Nein, dazu gehört mehr."

    Worauf Wilhelm Heitmeyer bei seinen soziologischen Untersuchungen seit den Hartz -IV-Gesetzen allerdings häufiger stößt, ist eine Zunahme von individueller Wut in der Bevölkerung. Und die Finanzkrise ist Heitmeyer zufolge nicht dazu angetan, die Stimmung der Bürger zu verbessern.

    Besonders deutlich wurde dieser Befund auf der Großdemonstration gegen den G-20-Gipfel am 28. März in Berlin.

    "Die Krise zeigt dramatisch, wie die Welt wirklich ist! Es ist jetzt Zeit für einen Systemwechsel, für eine solidarische Gesellschaft! Die Reichen und Profiteure sollen, nein, sie müssen zahlen. Lasst uns nicht den Herrschenden das Feld überlassen! Wir haben das Vertrauen verloren!"

    "Wir zahlen nicht für Eure Krise", hieß das Motto der Demonstration - es war den meisten Teilnehmern offensichtlich aus dem Herzen gesprochen. "Ich frage mich, ob das hier noch mein Land ist", empörte sich ein bürgerlich aussehender älterer Herr, der sich in den Demonstrationszug eingereiht hatte.

    "Also, die Banken werden von meinem Geld finanziert. Die Autos werden von meinem Geld finanziert. Und eine Kassiererin, die irgendwie einen Pfandbon von 1,30 Euro unterschlägt, die wird entlassen. Und man kann gegen nichts was machen. Und deswegen bin ich heute hier."

    Im Fall der Kaisers-Supermarkt-Kassiererin Barbara E., genannt Emily, verdichtet sich die soziale Empörung vieler Menschen in Deutschland. Ihr Fall sei wie eine Metapher für Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft, meint der Berliner Politikwissenschaftler Jörg Novak. Sein Forschungsgebiet an der Freien Universität ist die Sozialpolitik.

    "Ich spüre diese Wut und diese Unruhe, aber auch relativ viel Ohnmacht. Das kommt darauf an, mit wem man spricht. Aber was sich verändert hat, dass so eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit dem da ist, wie Politik hier läuft, dass gesagt wird, irgendwie ist das doch keine Demokratie mehr, jetzt muss mal was passieren, jetzt muss sich grundlegend was ändern. Das ist auf jeden Fall neu. Und diese unterschwellige Wut gibt es, glaube ich, schon länger."

    Vor ein paar Tagen stand Jörg Novak in Berlin Friedrichshain vor der Filiale eines Supermarktes von Emilys einstigem Arbeitgeber Kaisers. Hier sammelte der junge Politologe Unterschriften gegen sogenannte Verdachtskündigungen. Am Informationstisch neben ihm: Willi Hajek aus Bochum; als Mitglied von Verdi zuständig für gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Willi Hajek glaubt, dass die Kassiererin in Wahrheit wegen ihres gewerkschaftlichen Engagements entlassen wurde. "Das macht Angst", sagt der Gewerkschafter.

    "Solche Fälle wie Emily gibt es ganz viele. Das merk ich zum Beispiel an den ganzen Diskussionen, die wir hier haben. Dass oft die Leute sofort selbst erzählen: 'Bei uns auch, da gab es das und das. - Vorwürfe, weil: Die brauchen ja nicht bewiesen werden.' Und die Kolleginnen haben oft keinen Mut, gemeinsam zu handeln. Und wenn über Emily geredet wird, dann kommt sofort: 'Aber die Manager, die bekommen Millionen. Aber wir bekommen immer weniger.' Also es ist: Die Unruhe ist da. Das muss man so offen sagen."

    Aber von Unruhen oder Aufruhr möchte Verdi-Mitglied Hajek nicht sprechen. Sein Mitstreiter am Infotisch pflichtet ihm bei. Hans Köprecht, einst Mitglied im BMW-Betriebsrat und heute in Rente, ist ebenfalls ein überzeugter Gewerkschafter. Der gelernte Maschinenschlosser hält es aber für nötig, dass die Arbeitnehmer in Deutschland sich mehr auflehnen und kämpferischer werden.

    "Ich würde mir wünschen, dass mehr soziale Unruhe entsteht aufgrund der herrschenden, kann man ja nicht anderes nennen, der herrschenden Krise, der Krise eines Systems, was seit Jahrzehnten schon unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen verschlechtert hat. Und jetzt bricht dieses System, zumindest teilweise, zusammen. Und die Menschen sind sich noch nicht so richtig bewusst darüber, was für Verschlechterungen sie noch vor sich haben. Im Augenblick ist das noch soziales Unbehagen. Ich würde nicht soweit gehen, dass es schon eine Unruhe ist. Also eine Unruhe, würde ich sagen, haben wir vielleicht noch vor uns, ja."

    Berlin, 14. März 2009: Durch die Stadtteile Neukölln, Kreuzberg und Friedrichshain ziehen rund 3000 Menschen und skandieren: "Wir bleiben alle!" Sie demonstrieren für den Erhalt alternativer Wohnprojekte. Der Demonstrationszug besteht zum Großteil aus Autonomen. Aber einige Teilnehmer sind nicht dem traditionellen "Schwarzen Block" zuzurechnen.

    "Es sind Menschen, die Sorge haben, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können, wenn die Umgestaltung ihrer Wohnviertel weiter rasant voranschreitet." Das sagt Max, der in einer kleinen alternativen Strandbar an der Spree im Bezirk Friedrichshain arbeitet. Max fühlt sich den Demonstrierenden solidarisch verbunden. Zur Erklärung weist der junge Gastwirt auf die Häuser am gegenüberliegenden Kreuzberger Ufer.

    "Die ganzen Häuser da drüben, da: Es werden neue Fenster eingesetzt, Lofts eingerichtet, für den Besserverdienenden, der ganz sicher nicht aus Kreuzberg kommt, sodass es auch eine gewisse Verdrängung von der normalen Bevölkerung aus Kreuzberg gibt. Und vorne, direkt am Wasser, haben wir einen neuen Club, wo die Schönen und Reichen zu Abend essen. Aber die werden allem Anschein nach bleiben dürfen."

    Die Stadtsoziologin Karin Baumert bezeichnet den Prozess der sogenannten Gentrifizierung, also der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsteile durch reichere, als eine Triebfeder sozialer Unzufriedenheit. Karin Baumert war in den 90er-Jahren für die damalige PDS als parteilose Baustadträtin in Berlin Mitte tätig. Heute arbeitet sie in verschiedenen Initiativen gegen Mieterhöhungen und betreibt ein Mieter-Notruf-Telefon.

    "Was wir bemerken, ist zunächst einmal Ohnmacht und vor allen Dingen auch, was Hartz IV und Wohnen betrifft, Isolation und Rückzug. Viele Leute glauben so ein bisschen der offiziellen Ideologie, dass sie irgendwie Schuld sind an ihrem Schicksal, und glauben auch, dass sie es eigentlich noch schaffen könnten. Aber wenn sie einmal so den Weg gefunden haben zu einer Initiative oder überhaupt sich mal geöffnet haben, dann stellen sie relativ schnell fest, dass es auch den andern so geht. Und dann wird schnell aus dieser Ohnmacht Wut. Und dann merkt man diese Unruhe, die nach irgendetwas drängt."

    Dass innenstadtnahe Wohnbezirke modernisiert werden und dass dann die Mieten steigen, ist ein Vorgang, der sich in den meisten Städten der Bundesrepublik schon in den 70er-Jahren vollzog. In Ostdeutschland setzte die sogenannte Gentrifizierung aber erst im Anschluss an den Mauerfall ein und beschleunigte sich vor allem in Berlin nach dem Regierungsumzug dramatisch. Die Folge: Zahlreiche Bewohner müssen ihre angestammten Quartiere verlassen. Nach Meinung von Markus Steege herrscht in den betroffenen Stadtbezirken viel Frustration.

    "Wenn du mit Leuten redest, die dort schon über zehn Jahre wohnen, die halt sagen, dass all ihre Freunde wegziehen, sie halt nicht mehr in einer Nachbarschaft leben, sondern quasi in so einer Art virtuellen Welt: keine Alten, wenig Sozialhilfeempfänger. Der Gemüsemann macht zu und hängt halt einen Brief raus, wo drin steht: 'Ich muss umziehen, weil es zu teuer ist.' - ja."

    Der 25-jährige Markus Steege ist Maler und Lackierer von Beruf, hat zurzeit keine Anstellung und entwickelt in einer Initiative Stadtteilaktionen zum Thema Gentrifizierung. Er hat beobachtet, dass die Gewaltbereitschaft unter den Bewohnern gewachsen ist.

    "Es gibt ja am Prenzlauer Berg so ein Bauprojekt. Da kosten halt vier Zimmer, ich muss jetzt lügen, so rund 390.000 Euro. Und da gab es halt neulich ein Brand, ja. Da wurde in der Tiefgarage, soweit ich weiß, eben gezündelt. Und ich kann mir die Motivation dieser Leute vorstellen. Dass die nicht wissen, wie sie halt noch gegen die Aufwertung der Kieze halt eben vorgehen soll, weil: Diese Aufwertung lässt natürlich die Sachen schöner aussehen. Die Häuser werden endlich mal saniert - aber für Preise, die sich keiner mehr leisten kann. - Ja, so eine Verzweiflung einfach."

    An die Fassade des angekokelten Hauses hatten die mutmaßlichen Brandstifter geschrieben: "Für Geld kann man sich nicht alles kaufen." Seit Jahresbeginn ermittelt der Berliner Staatsschutz in 13 weiteren vergleichbaren Fällen. 84 mal sogar wurden im gleichen Zeitraum Fahrzeuge in den betreffenden Stadtbezirken abgefackelt - meistens sogenannte Nobelmarken wie Daimler, BMW und Porsche.

    Die Diagnose Wilhelm Heitmeyers zum Phänomen der Brandsätze gegen Exklusiv-Wohnungen und Luxus-Karossen fällt lapidar aus. "Solche Protestformen sind nichts Neues", urteilt der Sozialforscher.

    "Hier sind es Gruppen, die eine bestimmte Signalwirkung auslösen wollen, wobei der Protest-Anlass der Verdrängung von Bevölkerungsgruppen durchaus nachzuvollziehen ist. Nur die Frage ist, in welchen Formen sich das abspielt, weil es ja immer dann auch in kriminelle Machenschaften geht. Es geht um Sachbeschädigung - und das ist eben eine Straftat. Das sind aber keine Dinge, die auf einen Flächenbrand hindeuten."

    Von einem Flächenbrand würde Jonas Schiesser auch nicht sprechen. Aber der Antifa-Aktivist aus Kreuzberg ist zu dem Schluss gekommen, dass die Situation im Land zurzeit politisch aufgeladen ist. Besonders in Berlin, wo der 26-jährige Mediengestalter soziale Protestbündnisse organisiert. Der arbeitslose junge Mann bezeichnet sich selbst als einen radikalen Linken. Er findet die militanten Aktionen gegen die soziale Verdrängung zwar nicht in jedem Fall politisch nützlich, aber er kann die Akteure verstehen. Für Jonas Schiesser drückt sich in den Brandstiftungen auch der Wunsch aus, gesellschaftliche Ohnmacht zu durchbrechen.

    "Was sich mit diesen nächtlichen Aktionen gegen teure Wohnungen, gegen teure Autos zeigt, ist ein Versuch, punktuelle Nadelstiche zu setzen und zu sagen: 'Hört mal zu, Leute, so geht es nicht weiter.' Und ich find das nachvollziehbar, und meiner Meinung nach hat es auch eine therapeutische Wirkung, über diesen Schatten der Ohnmacht zu springen. Ich glaub, in Deutschland haben wir nicht das gesellschaftliche Problem, dass es zuviel Leute gibt, die ihren Unmut und ihre Wut unüberlegt kanalisieren, wie das jetzt mit den brennenden Autos passiert. Wir haben eher das Problem, dass die Leute zulange die Fresse halten und zulange stumm zuschauen."

    Die Arbeitnehmer der Bundesrepublik sind dem linksradikalen Aktivisten zu zahm. Jonas Schiesser ist sicher, dass die Finanzkrise in eine Wirtschaftskrise münden wird. Das hätten die Arbeitnehmer nur noch nicht realisiert. Und diese kommende Wirtschaftskrise ist seiner Meinung nach nur zu bestehen, wenn die Menschen aufmüpfiger werden.

    "Wenn die Arbeiter nicht anfangen, Druck zu machen durch Besetzungen, durch Blockaden, durch Aktionen des zivilen Ungehorsams, ist eine Sache so sicher wie das Amen in der Kirche: Die Kosten für die Krise, für die Kosten wird der normale Steuerzahler einstehen müssen nach der Bundestagswahl. Es sei denn, die soziale Friedhofsruhe, die wir in Deutschland seit Jahrzehnten haben, wird endlich aufgekündigt, und die Belegschaften nehmen sich ein Beispiel an den sozialen Kämpfen, wie wir sie zum Beispiel in Frankreich sehen, um zu zeigen: 'Das machen wir nicht mehr mit!'"

    Links-Aktivisten wie Jonas Schiesser gelten in etablierten politischen Parteien entweder als Spinner oder als Chaoten. In der Berliner Szene, der nachgesagt wird, soziale Unruhen zu schüren, hört man ihnen aber zu. Sie sind Teil eines politisierten Milieus, in dem sich neben Autonomen und Spontis auch linke Splittergruppen, Globalisierungskritiker und Bürgerinitiativen vernetzen - ein Kreis, zu dem auch Martin Suchanek gehört. Der in Berlin lebende Österreicher gibt ein trotzkistisches Blatt heraus - und sehnt ebenfalls französische Verhältnisse herbei. Suchanek glaubt allerdings, dass die Bürger bereits unruhiger sind, als noch vor einem Jahr.

    "Denen da oben wird nicht mehr geglaubt. Also es gibt da eine Gesamtkrise des politischen Systems. Daher kommt sozusagen auch, dass Menschen auf Veranstaltungen von normalen Bürgerlichen nicht mehr einfach nur irgendwie brav eine Frage stellen oder zuhören, sondern einfach vielleicht mal hineinrufen und sagen 'Haltet die Schnauze' - weniger ruhig halten."

    Professor Wilhelm Heitmeyer hält derartige Beobachtungen nicht für falsch, aber sie zeigen seiner Meinung nach nur einen Teil der Wirklichkeit. Die soziale Gefahr einer Wirtschaftskrise sieht der Wissenschaftler nicht allein in möglichen sozialen Unruhen. Der Kontrollverlust der Politik über das Kapital trage noch ein ganz anderes Risiko in sich.

    "Es ist nur zu hoffen, dass die Anstrengungen, die es in der Politik zurzeit gibt, nicht nur inszeniert sind und nach einer möglichen Erholung, von der niemand weiß, wann sie denn auftreten wird, alles wieder in alten Bahnen verläuft. Dann ist schon mit Folgerungen zu rechnen. Ich nehme allerdings auch dann nicht an, dass es zu diesen unsteuerbaren Unruhen kommt, sondern es kommt möglicherweise noch viel schlimmer, nämlich dass die Menschen sich innerlich und äußerlich vom demokratischen System verabschieden. Das ist für eine Gesellschaft natürlich eine Katastrophe."