Dies ist immer noch, wie auf dem Höhepunkt der DDR, ein dialektisches Gedicht - wenn es auch eine rückwärtsgewandte Dialektik ist, eine Art Futur 2. Denn das lyrisch-sozialistische Ich Brauns identifiziert sich hier keineswegs mit der DDR als solcher, sondern mit einer Möglichkeit, die in ihr enthalten schien und nie eingelöst wurde. Der Verlust dieser Möglichkeit schafft die Bitternis. "Wann sag ich wieder mein und meine alle": das war vor allem die Haltung des Künstlers, des DDR-Schriftstellers, der die Horizonte aufreißen, sich mit dem Gegebenen nicht abfinden wollte. Dem konkreten Land, dessen Verlust er jetzt beklagt, hat er aber selbst mit "den Tritt versetzt". Diese Zerrissenheit macht das Gedicht aus. Das zeigt sich nicht nur darin, wie rhythmisiert arythmisch die Endreime gestreut sind - so sehen die festgefügten Formen der DDR eben in der neuen Unübersichtlichkeit aus. Die Zerrissenheit findet sich in jeder Zeile, in jedem neuen Gedankenansatz. "Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle": einen Ausweg gibt es nicht."
Eine Zeile wirkt dabei programmatisch wie eine Rückschau des Schriftstellers Volker Braun: "Und unverständlich wird mein ganzer Text". Unter den neuen Gegebenheiten ist das Koordinatensystem der Texte Brauns nicht mehr vorhanden, sie operieren nun im Unendlichen und Leeren zugleich; und was sie wollten, ist nicht mehr vermittelbar. Der Leser, auf den sie abzielten, existiert nicht mehr. Doch es gibt auch eine "Unverständlichkeit", die aus tieferen Schichten herrührt, die das Bemühen, die Utopien im Blickfeld zu halten, meint: immer schwerer wurde es seit Anfang der achtziger Jahre, die dialektische Eindeutigkeit des sozialistischen Gedichts in der Bertolt Brecht-Nachfolge aufrechtzuerhalten.
Selbst in "Das Eigentum", einem Text in einer großen rhetorischen Pose, in einer geschlossenen Form, sind Spuren davon enthalten: das Gedicht verweist auf sich selbst, auf Texte von anderen, auf frühere Texte des Autors. Es entsteht ein Zusammenhang, der vor allem der Selbstvergewisserung des lyrisch-sozialistischen Ichs entspringt und sich der einlinigen Lesbarkeit immer mehr entzieht. Schon die sarkastische Umkehrung der Parole Georg Büchners aus dem "Hessischen Landboten" zeigt diesen Zitatcharakter: "KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN". Und das Bleiben, "wo der Pfeffer wächst", zielt konkret auf einen Satz des damaligen Feuilletonchefs der "Zeit" im Juli 1990: "Die toten Seelen des Realsozialismus sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst". Die Zeile "Dem Winter folgt der Sommer der Begierde" schließlich zitiert, wie Braun in einer Anmerkung mitteilt, in einem verschwiegenen Selbstgespräch eine Wendung aus seinem Gedicht "Das Lehen" von 1980: "Wie komm ich durch den Winter der Strukturen".
Dieser Verweischarakter, diese programmatische Intertextualität hat mit den Ursprüngen von Brauns Lyrik, dem emphatischen Einklang von Ich und Welt im sozialistischen Anspruch, nichts mehr zu tun. Wenn Braun nunmehr einen Band mit "Ausgewählten Gedichten" vorlegt, ist das Prinzip dieser Auswahl vom Ende dieses konkreten sozialistischen Projektes geprägt: diese Auswahl sichtet Brauns Lyrik unter dem Blickwinkel, den die letzten Gedichte wie "Das Eigentum" einnehmen. So fehlen vor allem die Gedichte, die in der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit den Akzent auf das Ideal gesetzt hatten - das Titelgedicht des Bandes >>Wir und nicht sie << aus dem Jahre 1970 etwa, mit dem Braun zweihundert Jahre später Friedrich Klopstock aufheben wollte: dieser hatte 1790 die französische Revolution mit dem Aufschrei "Sie, und nicht wir!" begrüßt.
Die damals offensive Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft und mit der Bundesrepublik, die als Fortsetzung der deutschen Traditionslinie vor 1945 erschien, hat Braun heute ad acta gelegt. "Es ist ein leibloses Buch, elend dem Zeitgeist verbunden", sagte er kürzlich über >>Wir und nicht sie <<. Aus seiner Sturm und Drang-Zeit, seinen kraftvollen frühen Gedichten, die ein starkes Ich mit einer starken gesellschaftlichen Vorstellung dialektisch zusammenzubringen versuchen, läßt er nur noch jene gelten, die offene Fragen aussprechen, in denen Zweifel anklingt, in denen die ungestümen Forderungen des Ich zwangsläufig an der Gesellschaft abprallen müssen. Das Ende des Gedichts "Der Lebenswandel Volker Brauns" , einer kokette Etüde im Duktus von Brecht, wirkt angesichts dessen, was da kommen sollte, wie ein ästhetischer Vor-Schein:
Ich, gemodelt aus vieler Geschlechter Stoff Die ich in mir spüre, einer gemischten Gesellschaft Fortsatz Mit gemischten Gefühlen harre ich meiner Entschlüsse. Für einen Augenblick im Dämmer seh ich meine Schienbeine glänzen Wie Totengebein, und ich liege abwesend von mir Und ich frage mich, ob ich zuviel nicht rede Zuviel nicht rede für unsern Kopf und Kragen.
Diese Gedichtauswahl zeigt die Entwicklung einer ganz bestimmten Subjektivität. Der Schwerpunkt liegt beim Ich und seinen Ausprägungen, nicht bei den abstrakten Anstrengungen des Begriffs. Die hier gedruckten ersten, frühen Gedichte verblüffen durch ihr jugendlichen Ertasten der Welt, durch ihre Genrebilder der Gefühle, ein langsames Hineinwachsen - dieses Hineinwachsen, das etwas ganz anderes ist als das "Hineingeboren"-Sein der späteren Generation, kann man vor allem im Umgang mit der Natur studieren. Und den Kontrapunkt zur Gesellschaft bildet schon früh der Körper, der ekstatische, pathetische Augenblick, das unbedingte Bei-Sich- und Außer-Sich-Sein: es ist dieser Kontrapunkt, der im Nachhinein am stärksten widerhallt.
Braun hat seine Gedichte mit Zeitangaben in vier Kapitel eingeteilt, die den politischen Jahreszahlen keinen Tribut zollen: weder spielen das Jahr 1968, mit dem Einmarsch in Prag, noch das Jahr 1976 mit der Biermann-Ausbürgerung und der entscheidenden kulturpolitischen Zäsur in der DDR, noch das Jahr 1989 eine Rolle. Brauns Einteilung ist seiner biographischen Entwicklung geschuldet. Daß er die Gedichte ohne Nachweis des Erstdrucks, des Erscheinens oder Nicht-Erscheinens in einem bestimmten Gedichtband zusammenstellt, legt zusätzlich Wert darauf, daß die kulturpolitischen Rahmenbedingungen in seiner lyrischen Entwicklung nur sekundär gewesen sind. Fehlen schon in der ersten Abteilung die Dokumente einer Aufbruchstimmung, die Ausprägungen des "operativen Charakters" des Gedichts mit seiner "arbeitenden Subjektivität" - man denke nur an den furiosen Ausruf aus dem ersten Gedichtband >>Provokation für mich <<: "Kommt uns nicht mir Fertigem. Wir brauchen Halbfabrikate" - so beginnt die zweite Abteilung gleich mit der Vision des Ich als "alter Mann" :
"Ich fühle mich leben Weit entfernt von den vorgedruckten Versammlungen und vollsynchronisierten Berichten". Und es gibt für den, der Resignatives oder Sarkastisches zitieren will, reichlich Material - so etwa die Zeilen: "Die große Gewißheit der Klassiker und die langen Gesichter der Nachwelt".
Vor dem Hintergrund der späten Gedichte wie "Das Eigentum" gelesen, entfaltet sich aber auch hier die Dialektik zwischen der Hoffnung des einzelnen und der Uneinlösbarkeit derselben. Es ist nicht diese Hoffnung, es sind nicht die Utopien, die durch die Auswahl dieses Gedichtbands außer Kraft gesetzt werden. Im Wissen um den Fortgang der Geschichte bleibt gerade die Gewißheit, mit der das Ich auf seine Kraft und seine Ideale besteht, erhalten; sie wird dem kruden Gang der Geschichte entgegengesetzt - "aus dem Hinterhalt/Geschichte":diese Fügung taucht im Gedicht "Der Teutoburger Wald" auf, das ein frühes Zeugnis für die nun beginnenden, neuen Suchbewegungen des Ich ist. Die Geschichte, mit der sich das Ich bisher eins gefühlt hatte, kommt nun aus dem Hinterhalt, und um ihr zu begegnen, dissoziiert sich das Ich. Literaturgeschichte, deutsche Geschichte und die Biographie des Autors werden ineinandergelesen, stehen als unbehauene Wortbrocken nebeneinander und setzten sich zu einer neuen Wahrnehmungslandschaft zusammen. Ein Wort wie "waldursprünglich", das dem Hölderlin-Duktus nachempfunden ist, weist in diese Richtung. Der Text geht nicht mehr aus sich heraus, sondern es geht immer weiter in den Text hinein.
Braun versucht, sein dialektisches Schreiben trotz aller Widerstände weiterzuführen, der Bogen spannt sich immer mehr, immer mehr Widersprüche müssen in das Raster der Dialektik aufgenommen werden, und in seinen Gedichten knarren und quietschen die Scharniere der Dialektik immer schriller, die Mechanik rattert und stottert, es ist immer schwerer auszuhalten. Braun verficht den Anspruch weiter, läßt von den Utopien der Gesellschaft nicht ab. Doch es wird immer undurchsichtiger, wo die Hoffnungen sind; es wird immer schwieriger, zu vermitteln, auch und vor allem in der Selbstvergewisserung des Autors selbst. Langsam verkarstet die Sprache, immer schwerer werden die Worte, monologisch, abgehackt; sie stehen unverbunden im Raum, und ihre Assoziationsflächen werden immer größer.
Wie sich im Westen die Moderne leerlief und als letzten Ausläufer das hermetische Gedicht hervorbrachte, das dunkle, am Rande des Verstummens: so läuft sich bei Braun das gesellschaftliche Versprechen leer. Im Laufe der achtziger Jahre entsteht in seinen Gedichten, den avancierten westlichen Schreibweisen verwandt, eine sozialistische Hermetik. Das Auseinanderklaffen von Utopie und realem Sozialismus wird nicht von außen benannt, sondern es drückt sich in der Sprache selbst aus - es sprechen mehrere Stimmen, die verschiedene rhetorische Figuren und existenzielle Haltungen durchspielen, vereinzelt durch Großschreibung hervorgehoben und in ein immer unübersichtlicher werdendes Gewirr von Satzzeichen gepreßt. Doch die Utopie wird nicht verraten. Das Ich flüchtet nicht, es sperrt sich.
"Die Konstruktion setzt Dekonstruktion voraus", heißt es in einem Gedicht über Walter Benjamin. Der Übergang von Theatertexten, mit rhetorischer Zerstückelung und fragmentarischen Monologen, zu Gedichten ist bei Braun fließend: es sind Assoziationsbündel, die freigesetzt werden, ein "Sprengsatz der Strukturen", wie es im Text "Antikensaal" heißt, und sie haben als Zielrichtung nur noch innerliterarische Fixpunkte: "Das innerste Afrika", so ein Gedichttitel, steht dafür.
Unter den neuen Gedichten ist "Schreiben im Schredder" das am meisten entfesselte. Daß bei Leipzig nach der Wende Hunderttausende von Büchern auf der Mülldeponie landeten, weil der DDR-Druck nicht mehr auf Gegenliebe bei den Käufern stieß, ist für Braun Anlaß zum literarischen Selbstgespräch:
"(...) Was für ein Umweg der Geschichte Für ein Aufatmen, wieviele Staaten Muß man einstampfen für einen Rest Atemluft Die Literatur die auf der Straße liegt Kann sie aufheben, aber wer liest sie Das Feuilleton faselt auf Hiddensee Über die MACHT DES FEUILLETONS In das Schweigen des Meeres, ich schäme mich Mit Schweinen gekämpft zu haben Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen Gegen die ich antrat ein treuer Verräter In der schimmernden Rüstung der Worte KEINE MACHT FÜR NIEMAND WIR SIND GLEICH Getäuscht von ihrem heldenhaften Wühlen In der Scheiße, die die Geschichte war Und berauscht vom Mist, der die Macht war In der Arbeitervorstadt SCHWEINEÖDE Was für Kämpfe im Koben, und das Jauchzen nach Brüderlichkeit in der Jauche Biermann klaren Augs mußte es ausbaden In der Grube nebenan bis es ihm schmeckte Berichteschreibende Schweine ER RESIDIERT IN DER KANTINE DES BERLINER ENSEMBLES UND LIESS SICH VON MIR EINE COLA BRINGEN Grunzend an meinem Abendbrottisch Glitschige Schweine in Amt und Würden Was für Schlachten bis der Mist gedruckt war Genehmigt, gebunden und ausgeliefert An die Hungernden hungernd nach Wahrheit (...)"
Es ist eine scheinbar ziellose Wut, eine halsbrecherische Suada in die DDR-Geschichte, mit Stasi, Parteichargen, Bürokratie - und die dem abgerungenen Bücher, der kostbare Gegenentwurf, liegen nun im Müll: vernichtet vom viel größeren Gegner, dem profitorientierten Markt. Es ist ein verzweifeltes Um-Sich-Schlagen, das mit DDR-Nostalgie wenig zu tun hat, zu real ist dieser reale Sozialismus gegenwärtig. Doch daß hier eine Geschichte ausgelöscht wird, betrifft auch dieses Ich, das Teil dieser Geschichte war. Die DDR, die eigene Befindlichkeit in der DDR - das wird bis in kleinste Nuancen ausdifferenziert, hier agiert auch im sarkastischen Rückblick eine ausgeklügelte dialektische Ausdifferenzierungsmaschine, eine, die die eigene Subjektivität auf verwickelte Weise herausarbeitet. Der Blick nach außen ist jedoch ein Rundum-Blick, ein Panorama, das derlei Differenzierungen nicht nötig hat: der Westen, die hereingeschwappte neue Gesellschaft scheint diese Mühe der Differenzierung gar nicht erst zu lohnen. Daß der Westen als einziger monolithischer Block erfahren wird, weist zurück auf die Eigentümlichkeiten der DDR-Provinz. Sie allein lassen die Gedichte Brauns zu einem sich anarchisch aufbäumenden, unberechenbaren Widerpart werden, diese Lyrik kann das Einverständnis mit allem verweigern.
Es ist in den Gedichten Brauns zu verfolgen, wie im Verschwinden des sozialistischen Versprechens in der DDR das Gesellschaftliche an sich, die Zivilisation selbst zum Schrecken wird. Mehr als zwanzig Jahre, nachdem er dort im Tagebau gearbeitet hatte, schrieb Braun 1983 das Gedicht "Burghammer": wo früher die Natur ein Rohstoff war, Material für den neuen Gesellschaftsentwurf, ist sie nun geschunden, zerstört. Braun besteht immer vehementer auf das sich freikämpfende Ich, auf den auf sich selbst zurückgeworfenen Körper. Doch in diesem antigesellschaftlichen Affekt, in diesem Vitalismus, der dem Gesellschaftsvertrag der Bundesrepublik entgegensteht und einer zutiefst deutschen, preußischen Traditionslinie entstammt, sind auch die Spuren der sozialistischen Hoffnung enthalten. Ist dieser Widerspruch auflösbar - ist es vielleicht letztlich gar keiner? Die DDR ist der Widerborst, der Stachel im Fleisch. Die Gedichte Volker Brauns werden weiterhin eine fremde, nicht aufhebbare Sprache sein.