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Luther als der sperrige Rebell

Der Historiker Heinz Schilling fordert dazu auf, das Fremde an Martin Luther wahrzunehmen und nicht den eigenen Zeitgeist zu feiern. Mit seiner radikalen Hinwendung zu dem Gnade verteilenden Gott vollzöge der Mann aus Wittenberg eine Wende hin zur substanziellen Religiosität.

Heinz Schilling im Gespräch mit Monika Konigorski |
    Monika Konigorski: Herr Professor Schilling, Sie fordern eine Wende in der Lutherbetrachtung, hin zum historischen Luther. Hat denn das aktuelle Lutherbild, das in der derzeitigen Dekade vor dem großen Reformationsjubiläum 2017 vermittelt wird, nichts mit dem historischen Mann aus Wittenberg zu tun?

    Heinz Schilling: So wie ich das beurteile, relativ wenig. In den letzten Jahrhunderten bei den Reformationsfeierlichkeiten ist immer wieder der Luther in dem Sinne des eigenen Zeitgeistes – also des frühen 17., des 18. und vor allen Dingen des frühen 20. Jahrhunderts – gefeiert worden. Es war zunächst 1617 der konfessionalistische Luther mit Aufrüstung gegen Rom am Vorabend des 30-jährigen Krieges. 1917 dann, um es kurz zu machen, der nationalistische obrigkeitliche Luther. Man feierte immer den Zeitgeist, ohne den Mann selbst zu hören, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Und ich habe den Eindruck, dass wir just wieder auf dem Weg sind in Luther unseren eigenen Zeitgeist verfestigen zu wollen. Ich würde es genau umgekehrt sehen. Wir müssen unseren eigenen Zeitgeist sozusagen, wenn wir Luther ernst nehmen, an der Person Luther hinterfragen, gleichsam uns selbst einen Spiegel aus der Geschichte heraus vorhalten und in dieser Weise eine radikale Wende hin zu dem Mann Luther, der ohne Zweifel für uns heute wichtig ist. Aber nicht in dieser aktualistischen und performativen Art, wie bisher die Dekade abgelaufen ist.

    Konigorski: Was widerspricht denn an der heutigen Darstellung, wie Sie sagen, dem historischen Luther? Haben Sie da ein konkretes Beispiel?

    Schilling: In meiner Biografie argumentiere ich ja, wir müssen das Fremde, das Sperrige an Luther zunächst einmal wahrnehmen, was er nun wirklich in seiner Zeit zunächst gewollt hat. Dem steht eine Darlegung der Lutherbeauftragten gegenüber, die ganz aktualistisch auf das abzielt, was er in unserer Zeit und für unsere Zeit bedeutet. Und das Wesentliche, was sofort als erstes herausgestellt wird, ist die Position, dass auf Luther zurückzuführen sei, dass heute in den protestantischen Kirchen Frauen ordiniert würden. Ich glaube nicht, dass das das Zentrale an Luthers Auftreten war, sondern das ist das Interesse von Frau Käßmann dieses nach vorne zu stellen. Das ist nicht das, was wir erwarten würden als Wissenschaftler, wie man heute eine Memorialkultur Luther aufbaut, auch und vor allen Dingen reflektiert.

    Konigorski: Sie sprechen auch das Thema Toleranz an und warnen davor, Luther an heutigen Auffassungen zu messen und beispielsweise, sich für seine scharfen Worte gegen die Juden zu entschuldigen. Warum?

    Schilling: Das ist ein durchaus aktuelles Problem, weil ja das Jahr der Toleranz in Worms jetzt am Reformationstag eingeleitet worden ist. Nun hat der wissenschaftliche Beirat ein Papier erarbeiten lassen von drei Theologen, Kirchenhistorikern, allgemeinen Historikern, und die durchaus sagen, man kann Luther am Beginn der modernen Toleranzentwicklung sehen. Aber die Sache ist komplizierter. Und dann wird herausgearbeitet, wo Luther intolerant war, dass er gar nicht tolerant im heutigen Sinn sein konnte und so weiter und so fort. Eine komplexe, komplizierte Argumentation. Die ist von den Politikern und von den Bischöfen abgelehnt worden, weil man sich offensichtlich nicht auf das Sperrige bei Luther einlassen will. Es ist dann viel einfacher zu sagen, was in einer zu Tausenden verteilten Broschüre der EKD passiert ist, dass man sich über Luther entschuldigen sollte. Das wird nach meinem Dafürhalten der Valenz dessen, was Luther in diesem Zusammenhang gesagt hat, sagen konnte und eben anders nicht sagen konnte in seiner Zeit, wird dieser komplizierten Situation nicht gerecht.

    Konigorski: Sie schauen da auf den historischen Kontext von Luther in seiner Zeit, wie Sie sagen. Welche Elemente von Luthers Religiosität waren schlicht zeittypisch? Seine Auseinandersetzung mit der Leistungsfrömmigkeit beispielsweise?

    Schilling: Na ja, das ist sicherlich eine Wende, die Bestand hat, denn kein Mensch – auch die katholische Kirche nicht – wird heute die Leitungsfrömmigkeit in der Weise vertreten, wie das im späten Mittelalter der Fall war. Aber was Luther in die Welt gebracht hat mit seiner radikalen Hinwendung zu dem allein die Gnade verteilenden Gott, das ist eine Wende hin zur substanziellen Religiosität. Und diese Wende hin zur substanziellen Religiosität, die im Renaissance-Papsttum in Gefahr war, verloren zu werden, die ist eigentlich das bleibende Legat an die Neuzeit und mit dieser geradezu, ja erratischen Bedeutung der Religion, die er für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft gefordert hat, hat er eine ungeheure Dynamik in die Neuzeit gebracht, die im Guten aber auch im Bösen – denken Sie an den 30-jährigen Krieg – die Neuzeit geprägt hat. Und auch die katholische Kirche geprägt hat, indem sie darauf reagieren musste. Was den Antisemitismus anbelangt, ist natürlich ein außerordentlich schwerwiegender Punkt, den man nicht unter den Teppich kehren kann. Zu begreifen, warum er so verfahren ist und so furchtbar gegen die Juden gewettert hat, heißt nicht, dass man ihn hier entschuldigen will. Aber bevor ich mich für irgendetwas entschuldige – ich finde das sowieso schon absurd, sich für etwas zu entschuldigen, was vor 500 Jahren ein Mensch getan hat – aber bevor man das kann, muss man, glaube ich, sehr sorgfältig analysieren, warum hat er dieses in seiner Zeit so getan. Und auf jeden Fall darf es nicht gleichgesetzt werden mit dem ethnischen Antisemitismus der Hitlerzeit. Nein, da liegen 450 Jahre dazwischen. Und insbesondere die Menschen des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts waren dafür verantwortlich, nicht Luther.

    Konigorski: Warum hat er sich so antisemitisch geäußert?

    Schilling: Weil es ihm darum ging, das reine Evangelium wieder aufzubauen. Und er sah sich in dieser Situation in einem Endzeitkampf, wo auf der einen Seite die bösen Mächte im Bündnis mit Rom, im Bündnis mit den Türken und eben im Bündnis mit den Juden das von ihm wiederentdeckte reine Wort und klare Wort des Evangeliums wieder verdecken wollten. Die schlimmen Dinge gegen die Juden sind ja in seinen Spätjahren formuliert worden. In der frühen Zeit, im Aufbruch der Reformation war er begeistert und hat den Juden angeboten, sich jetzt für sie einzusetzen. Denn er ging davon aus, da das Evangelium nun so klar auf dem Tisch lag, müssten auch die Juden das erkennen und sich seiner Version des Evangeliums anschließen. Erst 20 Jahre später, als er aufgrund sehr komplizierter historischer Zusammenhänge nicht mehr sicher sein konnte, dass sich nun das Evangelium durchsetzen würde, hat er die Juden als verstockt beschimpft und hat sie als Leute eingeschätzt, die mit dem Teufel im Bündnis waren, um sein Lebenswerk zu zerstören. Der junge Luther setzt auf die Juden, der späte Luther sieht sie im Bündnis mit dem Satan, wie er eben auch die Päpste und die Türken als Vertreter des Islam entsprechend beurteilt und scharf angreift.

    Heinz Schilling: "Martin Luther - Rebell in einer Zeit des Umbruchs", Verlag C.H. Beck, 714 Seiten, 29,95 Euro