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Luther digital

Die Bibelverleger verdienen jedes Jahr 400 Millionen Dollar mit der Herausgabe neuer Bibeln. Das wirft die Frage auf, ob die Heilige Schrift eigentlich im Internet verfügbar ist. Auf jeden Fall ist es jetzt ihr erster Übersetzer: Die Wolfenbüttler Herzog August Bibliothek stellte noch im 460. Todesjahr Martin Luthers den digitalen Katalog der Lutherdrucke ins Netz.

Von Wolfgang Stenke | 11.11.2006
    "Sie gehen auf die Spalte Bildbeschreibungen und geben ein das Wort "Ablaß". Und da haben Sie jetzt sechs Einträge. Sie haben also sechs Bilder."
    Die Literaturwissenschaftlerin Maria von Katte bei der Arbeit mit dem digitalen Katalog der Wolfenbütteler Luther-Drucke. Mit ein paar Mouseclicks zum Stichwort "Ablaßhandel" entfaltet sich das reichhaltig illustrierte Universum der theologischen Streitschriften und Traktate aus der Zeit der Reformation.

    "In dem einen schreibt und verkauft der Papst "Ablaßbriefe". Und dann sehen Sie beim vierten Beispiel, das ist jetzt eine Prozession, eine kirchliche, streng katholische Prozession, und da steht ein riesiger "Ablaßsack" und gleich neben dem "Ablaßsack" eine schwer gefüllte Geldtruhe."
    5910 Drucke von Luthers Schriften - Varianten der Luther-Bibel ausgenommen - fanden sich in mehr als 30 Jahren der Recherche in den Beständen der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Da, wo im 18. Jahrhundert Gotthold Ephraim Lessing die Sammlung der Braunschweiger Herzöge pflegte und in seinen Mußestunden "Emilia Galotti" schrieb.

    Die Forschungs- und Studienstätte für europäische Kulturgeschichte beherbergt den weltweit größten Bestand an Luther-Drucken der Jahre 1513 bis 1546. Sie sind jetzt digital katalogisiert und über das Internet verfügbar - unter http://dbs.hab.de/luther.

    Eine virtuelle Fundgrube für Theologen, Germanisten und Kunsthistoriker. Seit 1970 hat man in Wolfenbüttel an der Erschließung der Bestände gearbeitet, ursprünglich mit dem Ziel einer Buchpublikation. Doch mit den Mitteln des Buchdrucks hätten sich die bibliophilen Schätze nur unter immensen Reproduktionskosten darstellen lassen. Paul Raabe, der Doyen unter den deutschen Bibliothekaren, trug sich deshalb während seiner Amtszeit in den 90er Jahren mit dem Gedanken, die Wolfenbütteler Luther-Schriften auf CD-Rom zu katalogisieren.

    Daraus wurde dann, das Internet machte es möglich, ein Online-Projekt - mit Volltext-Suche und PDF-Dateien, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. - Maria von Katte, die die Arbeit geleitet hat, fand die Drucke im Zuge der Recherchen an unterschiedlichen Standorten der Bibliothek und gebunden zu unterschiedlichen Konvoluten. Quellen erster Ordnung für die Sozialgeschichte der Reformation und der Glaubenskämpfe in Deutschland.- Ein Beispiel:

    "Im Juli 1520 brachte ein sehr rühriger Verleger in Basel eine Werkausgabe von Luther heraus. Das sind fast 298 Blatt, eine sehr schöne Titelzeichnung, ein Holzschnitt. Und er war, als ich ihn fand, in einem bedauernswerten Zustand."
    Der Band trug Brand- und Wasserspuren, war stark restaurierungsbedürftig.

    "Und ich blätterte ihn durch und fand darin, eingebunden, das einzige Exemplar einer der frühesten Thesenreihen von Luther, die er formuliert hatte für die Promotion eines Schülers in Wittenberg, die Anfang September 1517 dort stattfand. Und dieser Band war am Ende gezeichnet mit dem Namen Rupert Freyschlag."
    Bibliothekarische Kriminalistik: Die Spur führte in das Benediktinerkloster von Salzburg, wo ein Mönch namens Rupert Freyschlag gelebt hat. Die Luther-Schriften, die ihm gehörten, sollten im Zuge der Gegenreformation verbrannt werden.

    "Es gab eine große Säuberungswelle Ende des 16. Jahrhunderts und die Spekulation ist, dass dieser Band dann auf diesem Stapel gelegen hat und von irgendjemandem doch gerettet wurde. Auf jeden Fall hat ihn Herzog August gekauft, 1656, er kam aus Augsburg. Und niemand hat ihn entdeckt bis zum Jahre 1983."
    Luthers Thesenplakat und viele andere Schriften stehen nun im digitalen Katalog der Herzog August Bibliothek der Forschung zur Verfügung. Die Besitzer der dort verzeichneten Bände waren nicht nur Kleriker. Selbst das gemeine Volk, Handwerker oder Torwächter zum Beispiel, erwarb Bücher des Reformators. Sie wurden wieder und wieder gelesen und als Familienerbe an die Nachkommen weitergegeben. Vom regen Gebrauch zeugen die handschriftlichen Anmerkungen in zerlesenen Katechismen und Streitschriften.

    Wie heftig Katholiken und Protestanten sich einst über religiöse Fragen in die Haare geraten sind, das lehrt eine deftige Marginalie, die Maria von Katte während der Arbeit am Online-Katalog in Luthers Pamphlet über die babylonische Gefangenschaft der Kirche entdeckt hat:

    "Mir fällt jetzt eine Bemerkung ein, geschrieben von einer etwas schlichteren Hand. Sie lautet: "Mit diesem Büchlein hat Martinus dem Papst vor seinen Altar geschissen.""
    Offenbar hat auch im christlichen Abendland die Entwicklung einer interkonfessionellen Streitkultur etwas länger gedauert.