Eisleben am 22. Mai 1516, dem Fronleichnams-Tag. Eine Prozession zieht langsam den kleinen Berg hinauf zur Annenkirche am Augustiner-Kloster. An beiden wird noch gebaut. Voran schreitet Johann von Staupitz. Als oberster deutscher Augustiner, Freund des sächsischen Kurfürsten und Professor in Wittenberg trägt er die Hostie, Symbol für die Existenz des "Leib des Herren", denn - das ist "Fronleichnam". Im Zug schreitet der Mönch Martin Luder mit, vor 33 Jahren hier in Eisleben geboren. Nicht zuletzt dank seines Lehrers und geistigen Vaters Staupitz wurde er Doktor der Theologie in Wittenberg und dessen rechte Hand – Luder trägt Verantwortung für die elf Ordens-Klöster Sachsens und Thüringens.
Wieder einmal hadert er mit der Unvollkommenheit seines Christseins, und zwar so heftig...
...dass mir der Schweiß ausbrach und nichts anderes zu Sinn war, ich würde vergehen vor großer Angst. Da nun die Prozession aus war, beichtet und klagt ich mein Anliegen Dr. Staupitzen. Der sagte: "Eure Gedanken sind nicht Christus!" Dies Wort nahm ich mit Freuden an; es war mir sehr tröstlich.
... erinnert er sich viele Jahre später in einer seiner vielen Tischreden, als aus dem Mönch und Dozenten Luder der hochverehrte wie gehasste Reformator Luther geworden war. So sehr diese Tischreden und andere Auskünfte zur eigenen Biografie eher Dichtung sein mögen - in diesem Falle steckt mehr Wahrheit in der Rede.
So wahr das Annenkloster zu Eisleben "echt lutherzeitlich" ist, sagt Landesarchäologe Harald Meller, und weist auf die Holzbalken der Mönchszellen:
" Das Tragwerk ist alles 1515 geschlagen. D.h. die Kubatur dieser lutherzeitlichen Zellen ist original erhalten. Wenn wir herausschauen aus diesen kleinen Butzenfenstern, dann haben wir einen wunderbaren Blick über die Stadt, wir haben den Blick, den Martin Luther damals auch hatte. Und das ist schon was ganz Außergewöhnliches, dass wir in einer originalen Mönchszelle der Zeit stehen, und nicht in einer museal nachempfundenen. Und das zeigt auch, mit welch reichen kulturgeschichtlichen Entdeckungen wir in Mitteldeutschland zu rechnen haben. "
Gerade in Bezug auf das Mittelalter und damit auch Luther: Eisleben, Mansfeld, Wittenberg – das sind die Luther-Orte Sachsen-Anhalts, einst preußische Provinz. Die Preußen haben den Kult um Luther als den deutschesten der Deutschen etabliert – zunächst als Bastion gegen Napoleon, für ein deutsches Reich, und am Ende dieses Kaiserreiches im Krieg gegen den "Rest der Welt".
1917 war der 400. Jahrestag der Reformation. Der 500. steht bevor. Kein Nationalismus trübt mehr unser Luther-Bild, aber dafür die Erkenntnis, dass die historische Bauforschung, das Faktenwissen um den "wahren Luther" noch vielfach auf der Preußenzeit beruht, und keine erschöpfende Antwort auf die Frage gibt: Wie war die Umgebung zu Zeiten Martin Luthers wirklich?
Antworten auf die "Fundsache Luther" werden die Archäologen um Harald Meller, dazu Bauforscher, Kunst- und andere Historiker in einer Landesaustellung geben. Eröffnet wird sie am diesjährigen Reformationstag, am 31. Oktober in Halle:
" Die Archäologie Luthers halte ich für außerordentlich wichtig, weil wir ein Korrektiv haben zu den historischen Aussagen, ein Korrektiv letztlich auch zu den Aussagen von Martin Luther selbst; wir können aus diesen archäologischen Relikten doch ziemlich genau die sozialgeschichtliche Stellung feststellen. "
Zum Beispiel über die Herkunft.
" Meine Eltern waren zuerst arme Leute. Mein Vater ist ein armer Häuer gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken eingetragen, damit sie uns erzogen hat. Haben harte Arbeit ausgestanden, dergleichen die Welt nicht mehr ertrüge."
Hier hat die Dichtung Oberhand über die Wahrheit; so hat Luther seine Eltern wahrscheinlich nur sehr selten erlebt. Was sich bereits in der ersten Phase der wissenschaftlichen Aufarbeitung um 1900 als anzuzweifeln abzeichnete, ist nun sicher belegt. Der Archäologe Björn Schlenker hat in Mansfeld gegraben:
" Der Wohlstand der Familie ist abgesichert. Wir wissen, dass die Luthers in Mansfeld nicht eben ein einzelnes Häuschen besessen haben, sondern ein ganzes Gehöft; wir wissen, dass sie sozial sehr gut gestellt waren, dass Hans Luder – also der Vater Luthers – in der Stadtadministration ganz, ganz hoch angesiedelt war. Aus unserer Sicht muss etwas getan werden am Lutherbild."
Friedrich Schorlemmer ist anderer Meinung. Der Wittenberger Theologe meint bedauernd, dass "Luthers Murmeln", Trinkgefäße und Schlösser vor den Truhen Luders Menschen anziehen werden, die eher an Scherben aus Luthers Umfeld als an der Substanz seines Denkens Interesse haben.
Schorlemmer: " Das ist genau dasselbe, wie wenn man heute einen Splitter vom Kreuz Jesu von Golgatha nimmt und sagt: Ah, jetzt haben wir den Dornensplitter gefunden! Ich finde, dass diese Art von historischer Wissenschaft ein Reliquienkult nach der Aufklärung ist. Als wenn man dieser Wahrheit, die Luther repräsentiert, irgendwie näherkäme... Er ist schon psychoanalytisch untersucht worden (übrigens auch sehr interessant) von Eric Erikson, der junge Luther, und wenn man jetzt das Interieur seiner Zeit vorzeigt, mag das ganz interessant sein für einen Familienausflug. Aber wichtiger wäre schon, wenn mehr Leute sich mal daranmachen würden und den "Sermon von den guten Werken" lesen. "
Wenn ein Christenmensch in seinem Glauben lebt, braucht er niemand, der ihn gute Werke lehren müsste, sondern, was an ihm kommt, das tut er - und alles ist wohlgetan.
Friedrich Schorlemmer geht es um die Chance eines festen Glaubens, mit dem die Welt besser gestaltet werden kann – ohne fade Kompromisse mit vielleicht üblen Folgen eingehen zu müssen. Wie es Luther in seinen Schriften und Worten vormache. Und deshalb wird sich an seinem Bild des Reformators kaum etwas ändern, oder?
Schorlemmer: " Nein, nein, nein. Glaube ich nicht. Also – auch an Schiller hat sich nichts geändert, seit wir seinen Schädel nicht gefunden haben. Und wenn wir ihn fänden, würde sich auch nichts ändern. "
Wer aber eher nach dem umfassenden Luther als allein in Luthers theologischer Sendung forscht, nimmt andere Positionen ein. In den letzten Jahren sind einige neue Biografien erschienen. Zwei seien herausgestellt: Vom Göttinger Theologieprofessor Thomas Kaufmann erschien eine sehr kompakte Darstellung von Leben und Werk; vom Jenaer Kollegen Volker Leppin eine ausführlich erklärende – und wägende. Zwei Sätze, die im Buch getrennt stehen, und mit denen er allzu großem Optimismus vorbaut:
"Der Historiker des 21. Jahrhunderts weiß genau, dass er nicht herausfinden kann, 'wie es wirklich gewesen ist'. Die Lutherforschung steht bis heute im Banne der Selbstdarstellung des Reformators."
" Es geht darum, die Bilder die wir wissenschaftlich "malen" können von einer Person, so präzise wie möglich zu "malen". Wir hantieren mit Quellen, die unterschiedliche Informationen geben, die wir je nach Persönlichkeit vielleicht auch unterschiedlich abklopfen, um daraus ein konsistentes Bild zu schaffen – das ist letztlich unsere Aufgabe. "
Es soll also Bestand haben, ein moderneres, durch exakte Wissenschaften etwas besser gesichertes Bild von Luther. Letztlich soll es aber dem Menschen Luther, seinem Werk, seinem Glauben angemessen sein, sagt Volker Leppin. Eine schwere Aufgabe.
Für Luther lautet eine der wesentlichen, immer wieder gestellte Fragen: hat meine andauernde Gewissensqual, mein Herumschlagen mit den Teufeln und meinen Sünden Sinn? Jener Anekdote vom Fronleichnamstag 1516 und dem Herzausschütten vor Mentor Staupitz hat Luther erklärend vorangestellt:
Es ist über alle Maßen schwer, dass ein Mensch glauben soll, dass ihm Gott gnädig sei um Christus Willen, obwohl er ein großer Sünder ist. Des Menschen Herz ist zu eng, dass ihm solches nicht einleuchten will, dass er es nicht fassen kann.
Genau das ist es, was den eigentlichen reformatorischen Gehalt seines Denkens ausmacht: die Gnade Gottes, die jedem Sünder zufällt, die man nicht per Ablass kaufen muss. Diese Erkenntnis reifte in Luther bei der Beschäftigung mit den Paulusbriefen in den Jahren 1515/1516. Volker Leppin:
" Er selbst und andere haben seine Bekehrung mit der Bekehrung des Paulus verglichen. Das ist durchaus ein Muster, in dem er sich verstanden hat, in dem sich viele andere verstanden haben. Es gibt Forscher, die sprechen von einer sogenannten Turmerlebnistradition (Luther berichtet ja von einem Erlebnis im Turm, einem plötzlichen Durchbruch), und das zieht sich durch das ganze Mittelalter hindurch, kann man zurückverfolgen bis auf Augustin, dass immer wieder diese Plötzlichkeit der Erfahrung geschildert wird. Das Muster, was dahinter steht, ist Paulus selbst. "
Wie sprach Luther nach Tisch? Dort – er wies auf ein Gebäude außerhalb seiner Wohnung – dort über der "Kloake" (super cloacam) hat es mich ereilt. Das Gebäude existiert tatsächlich, die Archäologen haben es vor einigen Jahren ergraben, den Anbau ans Augustiner-Kloster zu Wittenberg, der jetzigen Lutherhalle. Deren Direktor Martin Treu schaut hinab auf die Reste eines Baues, der einst drei, gar vier Stockwerke hoch gewesen sein mag und im 19. Jahrhundert von den Preußen abgerissen wurde – leider ohne jegliche Dokumentation.
Treu: " Wenn wir runtergehen sehen wir, dass sich da unten eine einzelne Latrine befindet, und das Besondere ist nicht die Latrine, sondern dass sie einzeln ist. Normalerweise hat man im Spätmittelalter die aus technischen Gründen immer "in Reihe geschaltet". Hier eine einzelne deutet auf einen hochgestellten Nutzer. Und das dürfte Luther gewesen sein. "
Dürfte – das klingt nicht nach letzter Sicherheit, erst recht nicht in Bezug auf die Datierung des Baus. Es kann nicht anders gewesen sein, sagt Martin Treu:
" Das ist der Ort, wo seine wichtigsten Schriften entstanden sind. Wir haben hier den Ort mit der Lutherstube, wo sein Lebensmittelpunkt war, was die Familie anging, und das Refektorium als den Ort der Mahlzeiten, der Kommunikation, des Großhaushaltes. Aber dieser Ort ist derjenige, wo er am stärksten bei sich war. Wir wissen nun aus guter Überlieferung, dass er teilweise sich Tage hier eingeschlossen hat, wenn er an einer wichtigen Sache arbeitete, und auch zu den Mahlzeiten nicht erschien – einmal hat man ihn sogar ohnmächtig gefunden, durch Überarbeitung. Also insofern ist dies – wenn Sie so wollen – die wichtigste gebaute Lutherreliquie, wenn wir uns nicht bei Äußerlichkeiten aufhalten wollen, sondern zu den Inhalten vorstoßen wollen. "
Volker Leppin belässt es nicht beim Fakt an sich, und auch nicht bei Latein:
" Luther war ja sehr drastischer und deutlicher in seiner Sprechweise; er benutzt gelegentlich den Begriff des "Scheißhauses", und das ist für ihn eine Metapher für "die Welt". Diese Welt ist so arm und dreckig, sie ist, so sagt er es dann, ein Scheißhaus. Und dort wurde ihm die Erkenntnis gegeben. Wenn er also von einem Turm und einer Erkenntnis (hier "super cloacam") spricht, heißt das letztlich: in dieser dreckigen Erde hat Gott mir die Gnade gegeben, diese Erkenntnis zu bekommen. "
Und die Archäologen? Welchen Standpunkt vertreten die Ausgräber und damit (überspitzt formuliert) Verursacher dieser und künftiger Debatten? Björn Schlenker:
" Aus unserer Sicht kann sich im Lutherbild schon einiges ändern, aber es ist letztlich eine Sache der Reformationshistoriker, da Klarheit zu schaffen. Wir liefern quasi das Pulver dazu, indem wir über die Sachkultur der Luthers, über den sozialen Status, über die Wohngepflogenheiten inzwischen einiges beitragen können. Aber die Diskussionen müssen die Reformationshistoriker führen. "
Nicht mitreden können und wollen die Archäologen, wann genau die Reformation begonnen hat: wann kann man in dem Jahre dauernden Erkenntnisprozess Luthers tatsächlich von Reformation reden? Ist es das Turmerlebnis?, was leider nicht datierbar und damit konkret zu feiern ist. Keiner der Befragten wählt dieses Ereignis. Friedrich Schorlemmer wählt den Tag der Hochzeit mit Katharina von Bora am 13. Juni 1525:
" Diese Heirat hat die Reformation geerdet; die Verbindung zwischen der Verantwortung, die ein Mensch in seinem kleinen Bereich, in seiner Familie hat, in seinem Beruf hat, und die er dann im größeren Gemeinwesen hat, sich so auch aufbaut und von der Familie aus als – das es pathetisch klingt, das kann ja sein – als der Keimzelle der Gesellschaft, in der wir das Grundlegende für die Gesellschaft lernen – das lernen wir übrigens auch nicht mit der Einkind- und Zweihundefamilie, sondern in der Mehrkindfamilie."
Volker Leppin entscheidet sich notgedrungen für den legendenhaften Anschlag der 95 Thesen. Lieber wählte er aber jenen Punkt,
Leppin: " … an dem er dezidiert sagt: mit dem, was bisher war, geh ich nicht mehr weiter. Der ist im Dezember 1520 erreicht, als er die vom Papst ausgesandte Bannbulle und das Kirchenrecht verbrennt, in Wittenberg. Das ist kein besonders schönes Symbol nach den Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert mit Bücherverbrennungen gemacht haben; daher ist es mir lieber (ob er nun stattgefunden hat oder nicht) den Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 zu feiern. Aber als Akt "Ich mache jetzt Schluss mit der Kirche, die ich für eine Kirche des Antichrist halte" – der ist ganz dezidiert im Dezember 1520 anzusetzen. "
Martin Treu wählt einen noch anderen Zeitpunkt: den März 1518, als Luther all seine Ablasskritiken zusammenfasst und als "Sermon von Ablass und Gnade" herausgibt – auf Deutsch .
" Und der erfährt nun 22 Auflagen innerhalb von zwei Jahren, wird in die europäischen Nachbarsprachen übersetzt, d.h. wir können ohne Weiteres von mindestens 25.000 Exemplaren ausgehen. Will sagen: erst als er seinen richtigen Adressaten findet, nämlich den gebildeten deutschen Mittelstand, aber nicht die universitär Ausgebildeten – erst da wird die Ablasskritik zur Bombe. "
Was seien dagegen die etwa 500 Exemplare, die von den Thesen gedruckt, verschickt, verteilt wurden...? Martin Treu würdigt Luther hier als ersten Medienrevolutionär: niemand habe zu jener Zeit auch nur annähernd so viel veröffentlicht wie er.
Bleibt dennoch die Frage der Authentizität des Thesenanschlags an die Schlosskirche zu Wittenberg. Direkt verbürgt ist er nicht, und bezweifelt wird er spätestens seit 1961, als der katholische Lutherforscher Erwin Iserloh seine Zweifel begründete. So stichhaltig, dass sich auch Volker Leppin anschloss:
" Ich sage nicht: kann nicht gewesen sein; ich halte es nur nicht für sonderlich wahrscheinlich. Wer am genausten wissen konnte, was am 31. Oktober 1517 durch Martin Luther geschehen ist, ist Martin Luther selbst. Seine eigenen Berichte setzen voraus, dass er – nachdem er seine Thesen gegen den Ablass an die Bischöfe gesendet hat – zunächst eine gewisse Zeit hat verstreichen lassen, ehe er an die Öffentlichkeit gegangen ist – so schilderte er es in mehreren Zusammenhängen. Und dem widerspricht einfach die Auffassung, dass Thesen an die Kirchentüren in Wittenberg angeschlagen worden seien. "
Jedenfalls nicht im ersten Schritt. Mit der Mehrzahl (also Kirchentüren statt allein der Schlosskirche) trat im vergangenen Herbst Martin Treu an die Öffentlichkeit: er hatte Notizen wiedergefunden, dass nicht nur an die Schlosskirche, sondern an alle Kirchen Wittenbergs Thesen angeschlagen wurden, so wie es im universitären Meinungsstreit üblich gewesen sei. Aber waren diese 95 Thesen direkt für die Uni bestimmt?
Was aber wirklich sicher ist: die gedruckten Ablass-Thesen, die Luther versandte, unterzeichnete er nicht mehr mit Luder, sondern mit Luther in Anlehnung an den griechischen Begriff "Eleutherios", als frei, in Gott frei. Unnütz also, einen neuen Reformationstag zu suchen.
Wieder einmal hadert er mit der Unvollkommenheit seines Christseins, und zwar so heftig...
...dass mir der Schweiß ausbrach und nichts anderes zu Sinn war, ich würde vergehen vor großer Angst. Da nun die Prozession aus war, beichtet und klagt ich mein Anliegen Dr. Staupitzen. Der sagte: "Eure Gedanken sind nicht Christus!" Dies Wort nahm ich mit Freuden an; es war mir sehr tröstlich.
... erinnert er sich viele Jahre später in einer seiner vielen Tischreden, als aus dem Mönch und Dozenten Luder der hochverehrte wie gehasste Reformator Luther geworden war. So sehr diese Tischreden und andere Auskünfte zur eigenen Biografie eher Dichtung sein mögen - in diesem Falle steckt mehr Wahrheit in der Rede.
So wahr das Annenkloster zu Eisleben "echt lutherzeitlich" ist, sagt Landesarchäologe Harald Meller, und weist auf die Holzbalken der Mönchszellen:
" Das Tragwerk ist alles 1515 geschlagen. D.h. die Kubatur dieser lutherzeitlichen Zellen ist original erhalten. Wenn wir herausschauen aus diesen kleinen Butzenfenstern, dann haben wir einen wunderbaren Blick über die Stadt, wir haben den Blick, den Martin Luther damals auch hatte. Und das ist schon was ganz Außergewöhnliches, dass wir in einer originalen Mönchszelle der Zeit stehen, und nicht in einer museal nachempfundenen. Und das zeigt auch, mit welch reichen kulturgeschichtlichen Entdeckungen wir in Mitteldeutschland zu rechnen haben. "
Gerade in Bezug auf das Mittelalter und damit auch Luther: Eisleben, Mansfeld, Wittenberg – das sind die Luther-Orte Sachsen-Anhalts, einst preußische Provinz. Die Preußen haben den Kult um Luther als den deutschesten der Deutschen etabliert – zunächst als Bastion gegen Napoleon, für ein deutsches Reich, und am Ende dieses Kaiserreiches im Krieg gegen den "Rest der Welt".
1917 war der 400. Jahrestag der Reformation. Der 500. steht bevor. Kein Nationalismus trübt mehr unser Luther-Bild, aber dafür die Erkenntnis, dass die historische Bauforschung, das Faktenwissen um den "wahren Luther" noch vielfach auf der Preußenzeit beruht, und keine erschöpfende Antwort auf die Frage gibt: Wie war die Umgebung zu Zeiten Martin Luthers wirklich?
Antworten auf die "Fundsache Luther" werden die Archäologen um Harald Meller, dazu Bauforscher, Kunst- und andere Historiker in einer Landesaustellung geben. Eröffnet wird sie am diesjährigen Reformationstag, am 31. Oktober in Halle:
" Die Archäologie Luthers halte ich für außerordentlich wichtig, weil wir ein Korrektiv haben zu den historischen Aussagen, ein Korrektiv letztlich auch zu den Aussagen von Martin Luther selbst; wir können aus diesen archäologischen Relikten doch ziemlich genau die sozialgeschichtliche Stellung feststellen. "
Zum Beispiel über die Herkunft.
" Meine Eltern waren zuerst arme Leute. Mein Vater ist ein armer Häuer gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken eingetragen, damit sie uns erzogen hat. Haben harte Arbeit ausgestanden, dergleichen die Welt nicht mehr ertrüge."
Hier hat die Dichtung Oberhand über die Wahrheit; so hat Luther seine Eltern wahrscheinlich nur sehr selten erlebt. Was sich bereits in der ersten Phase der wissenschaftlichen Aufarbeitung um 1900 als anzuzweifeln abzeichnete, ist nun sicher belegt. Der Archäologe Björn Schlenker hat in Mansfeld gegraben:
" Der Wohlstand der Familie ist abgesichert. Wir wissen, dass die Luthers in Mansfeld nicht eben ein einzelnes Häuschen besessen haben, sondern ein ganzes Gehöft; wir wissen, dass sie sozial sehr gut gestellt waren, dass Hans Luder – also der Vater Luthers – in der Stadtadministration ganz, ganz hoch angesiedelt war. Aus unserer Sicht muss etwas getan werden am Lutherbild."
Friedrich Schorlemmer ist anderer Meinung. Der Wittenberger Theologe meint bedauernd, dass "Luthers Murmeln", Trinkgefäße und Schlösser vor den Truhen Luders Menschen anziehen werden, die eher an Scherben aus Luthers Umfeld als an der Substanz seines Denkens Interesse haben.
Schorlemmer: " Das ist genau dasselbe, wie wenn man heute einen Splitter vom Kreuz Jesu von Golgatha nimmt und sagt: Ah, jetzt haben wir den Dornensplitter gefunden! Ich finde, dass diese Art von historischer Wissenschaft ein Reliquienkult nach der Aufklärung ist. Als wenn man dieser Wahrheit, die Luther repräsentiert, irgendwie näherkäme... Er ist schon psychoanalytisch untersucht worden (übrigens auch sehr interessant) von Eric Erikson, der junge Luther, und wenn man jetzt das Interieur seiner Zeit vorzeigt, mag das ganz interessant sein für einen Familienausflug. Aber wichtiger wäre schon, wenn mehr Leute sich mal daranmachen würden und den "Sermon von den guten Werken" lesen. "
Wenn ein Christenmensch in seinem Glauben lebt, braucht er niemand, der ihn gute Werke lehren müsste, sondern, was an ihm kommt, das tut er - und alles ist wohlgetan.
Friedrich Schorlemmer geht es um die Chance eines festen Glaubens, mit dem die Welt besser gestaltet werden kann – ohne fade Kompromisse mit vielleicht üblen Folgen eingehen zu müssen. Wie es Luther in seinen Schriften und Worten vormache. Und deshalb wird sich an seinem Bild des Reformators kaum etwas ändern, oder?
Schorlemmer: " Nein, nein, nein. Glaube ich nicht. Also – auch an Schiller hat sich nichts geändert, seit wir seinen Schädel nicht gefunden haben. Und wenn wir ihn fänden, würde sich auch nichts ändern. "
Wer aber eher nach dem umfassenden Luther als allein in Luthers theologischer Sendung forscht, nimmt andere Positionen ein. In den letzten Jahren sind einige neue Biografien erschienen. Zwei seien herausgestellt: Vom Göttinger Theologieprofessor Thomas Kaufmann erschien eine sehr kompakte Darstellung von Leben und Werk; vom Jenaer Kollegen Volker Leppin eine ausführlich erklärende – und wägende. Zwei Sätze, die im Buch getrennt stehen, und mit denen er allzu großem Optimismus vorbaut:
"Der Historiker des 21. Jahrhunderts weiß genau, dass er nicht herausfinden kann, 'wie es wirklich gewesen ist'. Die Lutherforschung steht bis heute im Banne der Selbstdarstellung des Reformators."
" Es geht darum, die Bilder die wir wissenschaftlich "malen" können von einer Person, so präzise wie möglich zu "malen". Wir hantieren mit Quellen, die unterschiedliche Informationen geben, die wir je nach Persönlichkeit vielleicht auch unterschiedlich abklopfen, um daraus ein konsistentes Bild zu schaffen – das ist letztlich unsere Aufgabe. "
Es soll also Bestand haben, ein moderneres, durch exakte Wissenschaften etwas besser gesichertes Bild von Luther. Letztlich soll es aber dem Menschen Luther, seinem Werk, seinem Glauben angemessen sein, sagt Volker Leppin. Eine schwere Aufgabe.
Für Luther lautet eine der wesentlichen, immer wieder gestellte Fragen: hat meine andauernde Gewissensqual, mein Herumschlagen mit den Teufeln und meinen Sünden Sinn? Jener Anekdote vom Fronleichnamstag 1516 und dem Herzausschütten vor Mentor Staupitz hat Luther erklärend vorangestellt:
Es ist über alle Maßen schwer, dass ein Mensch glauben soll, dass ihm Gott gnädig sei um Christus Willen, obwohl er ein großer Sünder ist. Des Menschen Herz ist zu eng, dass ihm solches nicht einleuchten will, dass er es nicht fassen kann.
Genau das ist es, was den eigentlichen reformatorischen Gehalt seines Denkens ausmacht: die Gnade Gottes, die jedem Sünder zufällt, die man nicht per Ablass kaufen muss. Diese Erkenntnis reifte in Luther bei der Beschäftigung mit den Paulusbriefen in den Jahren 1515/1516. Volker Leppin:
" Er selbst und andere haben seine Bekehrung mit der Bekehrung des Paulus verglichen. Das ist durchaus ein Muster, in dem er sich verstanden hat, in dem sich viele andere verstanden haben. Es gibt Forscher, die sprechen von einer sogenannten Turmerlebnistradition (Luther berichtet ja von einem Erlebnis im Turm, einem plötzlichen Durchbruch), und das zieht sich durch das ganze Mittelalter hindurch, kann man zurückverfolgen bis auf Augustin, dass immer wieder diese Plötzlichkeit der Erfahrung geschildert wird. Das Muster, was dahinter steht, ist Paulus selbst. "
Wie sprach Luther nach Tisch? Dort – er wies auf ein Gebäude außerhalb seiner Wohnung – dort über der "Kloake" (super cloacam) hat es mich ereilt. Das Gebäude existiert tatsächlich, die Archäologen haben es vor einigen Jahren ergraben, den Anbau ans Augustiner-Kloster zu Wittenberg, der jetzigen Lutherhalle. Deren Direktor Martin Treu schaut hinab auf die Reste eines Baues, der einst drei, gar vier Stockwerke hoch gewesen sein mag und im 19. Jahrhundert von den Preußen abgerissen wurde – leider ohne jegliche Dokumentation.
Treu: " Wenn wir runtergehen sehen wir, dass sich da unten eine einzelne Latrine befindet, und das Besondere ist nicht die Latrine, sondern dass sie einzeln ist. Normalerweise hat man im Spätmittelalter die aus technischen Gründen immer "in Reihe geschaltet". Hier eine einzelne deutet auf einen hochgestellten Nutzer. Und das dürfte Luther gewesen sein. "
Dürfte – das klingt nicht nach letzter Sicherheit, erst recht nicht in Bezug auf die Datierung des Baus. Es kann nicht anders gewesen sein, sagt Martin Treu:
" Das ist der Ort, wo seine wichtigsten Schriften entstanden sind. Wir haben hier den Ort mit der Lutherstube, wo sein Lebensmittelpunkt war, was die Familie anging, und das Refektorium als den Ort der Mahlzeiten, der Kommunikation, des Großhaushaltes. Aber dieser Ort ist derjenige, wo er am stärksten bei sich war. Wir wissen nun aus guter Überlieferung, dass er teilweise sich Tage hier eingeschlossen hat, wenn er an einer wichtigen Sache arbeitete, und auch zu den Mahlzeiten nicht erschien – einmal hat man ihn sogar ohnmächtig gefunden, durch Überarbeitung. Also insofern ist dies – wenn Sie so wollen – die wichtigste gebaute Lutherreliquie, wenn wir uns nicht bei Äußerlichkeiten aufhalten wollen, sondern zu den Inhalten vorstoßen wollen. "
Volker Leppin belässt es nicht beim Fakt an sich, und auch nicht bei Latein:
" Luther war ja sehr drastischer und deutlicher in seiner Sprechweise; er benutzt gelegentlich den Begriff des "Scheißhauses", und das ist für ihn eine Metapher für "die Welt". Diese Welt ist so arm und dreckig, sie ist, so sagt er es dann, ein Scheißhaus. Und dort wurde ihm die Erkenntnis gegeben. Wenn er also von einem Turm und einer Erkenntnis (hier "super cloacam") spricht, heißt das letztlich: in dieser dreckigen Erde hat Gott mir die Gnade gegeben, diese Erkenntnis zu bekommen. "
Und die Archäologen? Welchen Standpunkt vertreten die Ausgräber und damit (überspitzt formuliert) Verursacher dieser und künftiger Debatten? Björn Schlenker:
" Aus unserer Sicht kann sich im Lutherbild schon einiges ändern, aber es ist letztlich eine Sache der Reformationshistoriker, da Klarheit zu schaffen. Wir liefern quasi das Pulver dazu, indem wir über die Sachkultur der Luthers, über den sozialen Status, über die Wohngepflogenheiten inzwischen einiges beitragen können. Aber die Diskussionen müssen die Reformationshistoriker führen. "
Nicht mitreden können und wollen die Archäologen, wann genau die Reformation begonnen hat: wann kann man in dem Jahre dauernden Erkenntnisprozess Luthers tatsächlich von Reformation reden? Ist es das Turmerlebnis?, was leider nicht datierbar und damit konkret zu feiern ist. Keiner der Befragten wählt dieses Ereignis. Friedrich Schorlemmer wählt den Tag der Hochzeit mit Katharina von Bora am 13. Juni 1525:
" Diese Heirat hat die Reformation geerdet; die Verbindung zwischen der Verantwortung, die ein Mensch in seinem kleinen Bereich, in seiner Familie hat, in seinem Beruf hat, und die er dann im größeren Gemeinwesen hat, sich so auch aufbaut und von der Familie aus als – das es pathetisch klingt, das kann ja sein – als der Keimzelle der Gesellschaft, in der wir das Grundlegende für die Gesellschaft lernen – das lernen wir übrigens auch nicht mit der Einkind- und Zweihundefamilie, sondern in der Mehrkindfamilie."
Volker Leppin entscheidet sich notgedrungen für den legendenhaften Anschlag der 95 Thesen. Lieber wählte er aber jenen Punkt,
Leppin: " … an dem er dezidiert sagt: mit dem, was bisher war, geh ich nicht mehr weiter. Der ist im Dezember 1520 erreicht, als er die vom Papst ausgesandte Bannbulle und das Kirchenrecht verbrennt, in Wittenberg. Das ist kein besonders schönes Symbol nach den Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert mit Bücherverbrennungen gemacht haben; daher ist es mir lieber (ob er nun stattgefunden hat oder nicht) den Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 zu feiern. Aber als Akt "Ich mache jetzt Schluss mit der Kirche, die ich für eine Kirche des Antichrist halte" – der ist ganz dezidiert im Dezember 1520 anzusetzen. "
Martin Treu wählt einen noch anderen Zeitpunkt: den März 1518, als Luther all seine Ablasskritiken zusammenfasst und als "Sermon von Ablass und Gnade" herausgibt – auf Deutsch .
" Und der erfährt nun 22 Auflagen innerhalb von zwei Jahren, wird in die europäischen Nachbarsprachen übersetzt, d.h. wir können ohne Weiteres von mindestens 25.000 Exemplaren ausgehen. Will sagen: erst als er seinen richtigen Adressaten findet, nämlich den gebildeten deutschen Mittelstand, aber nicht die universitär Ausgebildeten – erst da wird die Ablasskritik zur Bombe. "
Was seien dagegen die etwa 500 Exemplare, die von den Thesen gedruckt, verschickt, verteilt wurden...? Martin Treu würdigt Luther hier als ersten Medienrevolutionär: niemand habe zu jener Zeit auch nur annähernd so viel veröffentlicht wie er.
Bleibt dennoch die Frage der Authentizität des Thesenanschlags an die Schlosskirche zu Wittenberg. Direkt verbürgt ist er nicht, und bezweifelt wird er spätestens seit 1961, als der katholische Lutherforscher Erwin Iserloh seine Zweifel begründete. So stichhaltig, dass sich auch Volker Leppin anschloss:
" Ich sage nicht: kann nicht gewesen sein; ich halte es nur nicht für sonderlich wahrscheinlich. Wer am genausten wissen konnte, was am 31. Oktober 1517 durch Martin Luther geschehen ist, ist Martin Luther selbst. Seine eigenen Berichte setzen voraus, dass er – nachdem er seine Thesen gegen den Ablass an die Bischöfe gesendet hat – zunächst eine gewisse Zeit hat verstreichen lassen, ehe er an die Öffentlichkeit gegangen ist – so schilderte er es in mehreren Zusammenhängen. Und dem widerspricht einfach die Auffassung, dass Thesen an die Kirchentüren in Wittenberg angeschlagen worden seien. "
Jedenfalls nicht im ersten Schritt. Mit der Mehrzahl (also Kirchentüren statt allein der Schlosskirche) trat im vergangenen Herbst Martin Treu an die Öffentlichkeit: er hatte Notizen wiedergefunden, dass nicht nur an die Schlosskirche, sondern an alle Kirchen Wittenbergs Thesen angeschlagen wurden, so wie es im universitären Meinungsstreit üblich gewesen sei. Aber waren diese 95 Thesen direkt für die Uni bestimmt?
Was aber wirklich sicher ist: die gedruckten Ablass-Thesen, die Luther versandte, unterzeichnete er nicht mehr mit Luder, sondern mit Luther in Anlehnung an den griechischen Begriff "Eleutherios", als frei, in Gott frei. Unnütz also, einen neuen Reformationstag zu suchen.