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Drewermann: "Protestanten, nehmt euch wirklich ernst"

Eugen Drewermann war Priester - bis ihm die katholische Kirche vor 25 Jahren die Lehr- und Predigtbefugnis entzog, 2005 trat er aus der Kirche aus. In seinem Buch "Luther wollte mehr" beschäftigt er sich nun mit dem Reformator. Mit Blick auf die heutige Situation der evangelischen Kirche forderte er im DLF: "Protestanten, besinnt euch auf euch selbst!"

Eugen Drewermann im Gespräch mit Christiane Florin | 28.12.2016
    Eugen Drewermann, Theologe und Psychologe, aufgenommen am 08.03.2002 in der ZDF-Sendung "Nachtstudio" in Berlin.
    "Ich hätte viel darum gegeben, sie hätten es viel früher getan", sagte der Kirchenkritiker Eugen Drewermann mit Blick auf die Positionierung der Kirchen zur Flüchtlingspolitik. (picture alliance / dpa / Klaus Franke)
    Christiane Florin: Herr Drewermann, Sie sind 1940 geboren, ihr Vater war evangelisch, Ihre Mutter katholisch. Mit welchem Luther-Bild sind Sie aufgewachsen?
    Eugen Drewermann: Von meinem Vater kenne ich den Ausspruch: "Luther war ein rechten Kerl", so drückte er sich ruhrgebietsdeutschmäßig aus. Und er meinte damit, das Luther als Charakter stark gewesen ist, für sich selber eingestanden hat. Was er weniger vermittelt hat, habe ich von meiner Mutter gelernt, dass das alles nur möglich ist auf dem Hintergrund eines Vertrauens, das Menschen von ihrer eigenen Angst befreit, ihnen die Abhängigkeit von fremden Autoritäten nimmt und sie zu sich selber führt. Gottvertrauen und Selbstvertrauen in einer Einheit.
    Florin: Ist Luther für Sie harte Kost? Ist es Ihnen schwer gefallen, Luther zu verstehen?
    Drewermann: Eigentlich gar nicht. Es gibt wunderbare Dinge, die man gar nicht oft genug sagen kann. Sehr berührt zum Beispiel hat mich aus der "Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen", im Jahre 1520 geschrieben, ein Satz, den Luther gleich an den Anfang gesetzt, und der zum Schlüssel seiner ganzen Denkweise werden kann. Es heißt da: "Wenn du gute Werke sehen willst, musst du schauen auf die Person." Alle Menschen schauen in aller Regel auf das, was sich begeben hat, auf die Handlung, auf die Hand, die die Handlung vollführt hat. Aber Luther meint, es genügt überhaupt nicht. Dann sind wir sehr schnell fertig mit unserem Urteil. Aber wir sollten hinter jeder Handlung den Menschen sehen. Wir sollten nicht die Hände, sondern das Herz eines Menschen betrachten.
    Heute wissen wir aktuell, wie unglaublich Recht er hat, und wie das ganze Menschen- und Weltbild sich ändert, wenn wir auch nur dieser Anregung folgen würden. Wir müssen, um einen Menschen zu begreifen, seine ganze Biografie durchgehen. Wir müssen lernen, zuzuhören, wie er sich selbst versteht. Und dann fährt Luther fort, was das alles bewirken soll. "Alle Gesetze", sagt er, "können dir nur sagen, was du tun sollst. Sie geben dir aber nicht die Kraft dazu."
    Das lässt die ganze Ethik formal bestehen und setzt sie zugleich außer Kraft, indem Religion die Beziehung zu Gott, die Art, wie Jesus uns Gott gebracht hat, den Menschen überhaupt erst befähigen soll, das tun zu können, was er tun möchte. Da hat er Paulus auf seiner Seite, da hat er die Gleichnisse Jesu auf seiner Seite. Da hat er Augustinus als Theologen zum Paten. Und damit tritt er in seine Zeit hinein und möchte in Richtung von Gnade, von Vertrauen, von Selbstbewusstsein eine Kirche erneuern, eine ganze Zeit umgestalten, die wesentlich von Angst geprägt ist.
    "Luther hält sich an die Bibel - das einzige, das ihm geblieben ist"
    Florin: Gnade, dieses zentrale Wort für Luther ist uns heute eher fremd. Die meisten wollen Recht bekommen, Recht behalten und gerade keine Gnade, oder nicht auf Gnade angewiesen sein. Sie schreiben das auch. Warum braucht ein Mensch, oder der Mensch Gnade?
    Drewermann: Es gibt eine wunderschöne Stelle, an der Luther sich selbst erklärt, ohne es theologisch weiter zu formulieren. Er sitzt 1521 auf der Wartburg, man hat ihn gekidnappt, um ihm das Leben zu retten vor dem Bann, den er in Worms mit nach Hause mitgebracht hat und hält sich an das einzige, was ihm noch geblieben ist – die Bibel. Wie sagt er sie sich selbst, wie sagt er sie den Menschen? Und nun steht er vor der Frage. Im ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums, wie soll er übersetzen? Gott sendet den Engel Gabriel in eine Stadt in Galiläa mit Namen Nazareth zu einem jungen Mädchen mit Namen Maria. Da tritt der Engel ein und redet das Kind oder das Mädchen an. Aber wie? Im Lateinischen in der Übersetzung, die die katholische Kirche bis heute beibehält, steht: "Du bist voll der Gnade."
    Und Luther sagt neun Jahre später im Brief zum Dolmetschen: "Das geht überhaupt nicht. Die Deutschen denken dann an ein gefülltes Bierfass." Und es steht griechisch nicht da. Griechisch steht da das Partizip Passiv Perfekt von einem Wort, das von Gnade abgeleitet ist. Sagt man jetzt "du Begnadigte", dann wäre Maria freigesprochen worden von ihrer Schuld, sozusagen in Huntsville noch gerade dem Galgen entronnen. Das wird der Engel nicht gemeint haben. Oder wollte er sagen: "du Begnadete"? Dann wäre in Maria etwas wie Beethoven oder Goethe zu vermuten. Auch nicht ist das gemeint.
    Luther schreibt neun Jahre nach seiner Bibelübersetzung: "Ich hätte sagen sollen: So redet der Engel. Es grüßt dich Gott, du liebe Maria." Wenn Gott zu einem Menschen redet, hüllt er ihn ein in seine Gnade und wo irgend jetzt in Marburg, Erfurt, Wittenberg ein Junge zu seinem Mädchen redet: "Du Liebe", redet er die Sprache des Engels, der vom Himmel in sein Leben tritt und umgekehrt. Wenn Gott etwas den Menschen zu sagen hat, ist es dieses Wort: du Liebe."
    "Wir leben in einer Welt, die Gnade nicht kennen kann, aber Leistung braucht"
    Florin: Aber die Wahrscheinlichkeit, dass heute jemand in Deutschland an Engel denkt, an Gott denkt, an Gnade denkt, die ist doch sehr gering, wenn wir uns einfach mal die Zahl der Christen anschauen. Ein Drittel der Deutschen bekennt sich zu keiner Konfession. Gnade ohne Gott, geht das?
    Drewermann: Leider muss das heute so gehen. Das Paradoxe ist, dass die meisten Menschen, wie Sie richtig sagen, mit dem Wort Gnade außerhalb der Kirchenräume kaum etwas anfangen können. Aber wenn man das Psychologendeutsch verwenden würde, könnte jeder es verstehen. Ein jeder Mensch lebt von einer Akzeptation, einem Wohlwollen, einer Bestätigung, die unbedingt ihm gelten muss, die er sich nicht erst erkämpft, erarbeitet, erleistet, abquält. Und dann muss man vergleichen, worunter die Menschen wirklich leiden. Wir leben buchstäblich in einer gnadenlosen Welt. Das Wort gnadenlos ist ein Werbetitel, schon in der Filmindustrie. Sans merci, gnadenlos, Django. Das ist sofort publikumswirksam, aufregend, krass, gewalttätig. Wir leben in einer Welt, die Gnade nicht kennen kann, aber Leistung braucht.
    Die Sicherung des Industriestandortes Deutschland will den internationalen, globalen Leistungswettbewerb. Die ins Zittern kommt, wenn die Pisa Studien belegen, dass die Schüler in den MINT Fächern noch nicht an vorderster Stelle stehen. Vernichtend der eine im Kampf gegen den anderen. Weil wir von Gnade nicht mehr wissen, weil wir von Gott eigentlich gar nicht mehr hören, sind wir hinein gestürzt in eine Welt, die zum Gottesersatz nur noch das Geld, die Macht und das Militär übrig lässt. Ein Hunger nach Gott, der ungeheuer ist, und Luther lehrt uns eine Sprache, die jeder verstehen könnte, indem man sie auf die Marktplätze außerhalb der Kirche, in das Erfahrungsmoment der Menschen setzt.
    "Alles was wir sind, ist ein Geschenk, das wir nicht verdient haben"
    Florin: Sind wir in diese Welt "hineingestürzt", oder haben wir das genauso gewollt?
    Drewermann: In gewissem Sinne hat man sich schwer getan von Anfang an, das zu verstehen, was der Mann aus Nazareth zu sagen hatte. Die Kranken, die Armen, die am Boden Liegenden, die Ausgegrenzten, die Verlorenen, die Bettler am Wegesrand wissen, dass es genauso ist und sein muss. Sie können überhaupt nur leben von einem Herzen, das sich öffnet und Händen, die sich auftun. Sie sind gar nicht im Stande, die Voraussetzungen zu erfüllen, unter der unsere Leistungsgesellschaft bereit wäre, sie zu akzeptieren. Aber dann begehen wir einen großen Irrtum. Wir tun so, wie wenn das, was wir hätten im Geldbeutel, in der Achtung der Anderen, in den Rangpositionen der Gesellschaft, wir uns selbst verdient, erkämpft, erstritten hätten. Tatsächlich haben wir eine Menge dazu beigetragen, ich will das nicht leugnen, von Kindertagen an. Womöglich waren wir fleißig, arbeitsam, aufmerksam, und so weiter.
    Tatsächlich täuschen wir uns über das Wesentliche, dass wir nicht da sitzen am Wegesrand, nicht uns befinden da ganz unten, sondern oben auf dem Kutschbock sitzen, ist ein reines Glück. Selbst die Voraussetzungen aller Leistungen bestehen in dem Geschenk, dass wir einigermaßen gesund sind, und dazu haben wir nur minimal beigetragen. Und das ist der Grundgedanke Jesu, und den greift Luther wieder auf in seiner so genannten Gnaden- oder Rechtfertigungslehre. Alles, was wir sind, ist ein Geschenk, das wir nicht verdient haben. Das aber uns verpflichtet, an die Unglücklichen, an die weniger Ausgezeichneten weiterzugeben. Die Position von oben und unten fällt völlig dahin. Alle brauchen wir die gleiche Güte, dasselbe Erbarmen. Sind vereint in derselben Not und bedürfen einer Zuwendung, die uns enthebt von jeder Voraussetzung. Das ist der Hintergrund.
    Florin: Ist Luther für Sie ein Sozialrevolutionär? Er hat sich ja anders verhalten.
    Drewermann: Er hat in dem Konflikt mit Thomas Müntzer sich gründlich anders verhalten und damit beginnen Teile der Tragödie der Reformationsgeschichte. Luther hat die Erfahrung Jesu, die Hilflosigkeit des Menschen im Sinn der Augustinischen absoluten Lehre, die Erlösung, wie Paulus sie definiert, hat in seiner Theologie so verdichtet, dass wir heute die Psychoanalyse, die Psychotherapie, eins zu eins einsetzen können, um zu verstehen, was Heilung ist, was Selbstwerdung ist. Wie Angst abgearbeitet wird in Vertrauen, wie wir ein Gegenüber brauchen, das uns bei der Hand nimmt und zurückholt.
    All das steht im Grunde vor 500 Jahren bei Luther und müsste weiterentwickelt werden. Aber wie wird aus dem, was Menschen persönlich gut tut, jetzt eine soziale Umkehr des gesamten Getriebes der Gesellschaft? Die Reformation wäre nie zustande gekommen, wenn Luther in Worms auf dem Reichstag stehen geblieben wäre. Das ist in meinen Augen der größte Moment im Leben Luthers. Von Karl dem Fünften wissen wir historisch den Eintrag. Man hat herumdiskutiert, fast eine ganze Woche lang, Kaiser Karl der Fünfte versteht die ganze Theologie nicht, aber am Ende fasst er als mächtigster Mann im Reich seine Erfahrung in dem Satz zusammen: "Es kann mit nicht erscheinen wie ein einzelner Mann nicht Recht haben könnte gegen die ganze Christenheit." Genau das aber ist der Standpunkt der Propheten.
    Das ist ganz dicht an dem wie Jesus gelebt hat. Dahin drängt es Luther, ohne dass er es eigentlich will. Ein Einzelner, der sich bezieht auf die Bibel, der sich bezieht auf sein Gewissen, der sieht, was Menschen brauchen, damit sie sich befreien von Angst, im Gegenüber Gottes, kann im Widerspruch zu allen Päpsten, Kardinälen, Konzilien, Theologen, Fürsten, Herrschern, Kaisern, muss im Widerspruch zu alldem eintreten mit dem, was ihm evident ist. Nur so beginnt die Reformation und nur so ändert sich die Welt.
    "Luther ist ein Prophet, kein Held"
    Florin: Hat Luther wirklich keine Angst mehr gehabt, oder ist er nicht doch, wie manche Biografen behaupten, ein Angstmensch geblieben?
    Drewermann: Er ist beides, und das macht die ganze Spannung aus. Er war im Inneren voller Skrupel. Er konnte an Hypochondrien leiden, er konnte Ängste haben, auch sich selbst gegenüber ist er schuldig. Man muss denken, dass seine Schulderfahrungen seit dem Blitzeinschlag von 1505 und dem Bekenntnis "ich will ein Mönch werden, heilige Mutter Anna" sich gerettet haben in einem Vertrauen, das ihn der Angst enthebt. Und das ist jetzt das Erstaunliche. Er weiß, auf dem Reichstag in Worms, dass man ihn totschlagen wird mit dem Bann.
    Jeder, der ihn ermordet, tut ein Gott wohlgefällig Werk. Man hat ihm vorher gesagt, "Mönchlein, du gehst einen schweren Gang." Und seine Antwort war historisch: "Selbst wenn in Worms der Teufel so viele wohnten wie Schindeln auf den Dächern sind, ich muss da hin." Das ist wirkliche Größe, dass man psychologisch vielerlei Anlässe haben mag, Angst zu haben, aber dass sie sich überwinden lassen in einem absoluten Vertrauen und einem absoluten Auftrag. Dafür steht Luther wirklich.
    Florin: Ist er für Sie ein Held?
    Drewermann: Er ist ein Prophet. In diesem Augenblick. Helden sind was anderes. Da sind wir in der griechischen Mythologie, wie man Schlangen enthauptet und Ungeheuer vernichtet. Rein seelisch ist das heroisch zu nennen, aber das Element der Existenzform ist das Prophetische.
    "Würden wir statt von Sünde von Verzweiflung sprechen, hätte wir das exakte Wort"
    Florin: Sünde ist ja auch so ein Wort, das ähnlich wie Gnade in der Alltagssprache kaum noch auftaucht, außer als Steuersünde oder Kaloriensünde. Ist das nicht ein Fortschritt?
    Drewermann: Nein, das ist ein ungeheures Missverständnis, an dem die Theologen ihr gerüttelt Maß Schuld tragen. Die Theologen haben den Begriff der Sünde als Übertretung göttlicher Gebote interpretiert und dann auf ein und dasselbe Niveau gebracht wie die Übertretung staatlicher Gesetze. Die sind ernst zu nehmen, weil die Staatsmacht natürlich Übertretungen ahndet. Bei Gott ist das nicht so sicher. Er ist unsichtbar und dann wird aus der Sünde das Beliebige. Sie haben vollkommen recht, es geht dann um Kalorien vielleicht, die man zuviel zu sich nimmt oder irgendetwas Albernes.
    Würden wir, statt von Sünde, sprechen von Verzweiflung, hätten wir das exakte Wort dafür. Jesus, im Gleichnis vom verlorenen Schaf, hat das Wort eigentlich mitgebracht, von Verlorenheit zu reden. Wenn wir sehen, dass jemand verzweifelt ist, wenn wir wissen, dass jemand ein Verlorener ist, bleibt es uns evident. Wir werden mit dem erhobenen Zeigefinger "du musst jetzt aber", mit dem ausgestreckten Zeigefinger "da könnt ihr mal gucken", oder der geballten Faust "jetzt bringe ich es dir mal bei" überhaupt nicht weiterkommen.
    Florin: Sondern wie?
    Drewermann: Der so genannte gute Wille existiert nicht. Wie im Gleichnis Jesu, wir müssen auf die Suche gehen, wo der andere sich befindet. Und wir müssten Glück haben, wenn wir ihn anträfen. Dann müssten wir ihn auf den Schultern zurück tragen. Das ist ein Bemühen, wie wir es am besten exemplarisch in der Psychotherapie beschrieben finden. Nur mit einem Zuhören, das nie verurteilt, sondern sich bemüht, zu akzeptieren, öffnet sich das Herz des anderen, dass es wahrhaftig werden kann, sich selbst gegenüber. Das wäre jetzt Gnade und Verlorenheit im Wechselspiel.
    "Man hat den Glauben verpackt in Lehrsätze"
    Florin: Aber kann eine Kirche, eine Institution das überhaupt, oder gehört nicht das moralische Urteil, auch das Verurteilen, zum Wesen einer Institution dazu, die natürlich auch immer am Selbsterhalt interessiert ist?
    Drewermann: Alle komplexen Gesellschaften müssen Regelwerke haben, um das Zusammenleben zu vereinfachen oder überhaupt zu ordnen. Aber jeder weiß, dass diese Regeln sehr willkürlich sind und relativ in Bezug auf den Kulturraum, in dem sie sich gebildet haben. Wenn Sie in Deutschland Auto fahren, herrscht da Rechtsverkehr. Wenn Sie in London fahren, Linksverkehr. Es muss nicht so sein wie es ist, aber es ist rein per Dezision festgelegt. Darunter sind die moralischen Gesetze, die zum Beispiel sagen: "Du sollst nicht töten." Das hat dann auch mit dem Verhalten im Straßenverkehr natürlich zu tun.
    Aber setzen Sie mal, dass jemand in einer schweren Nervenkrise sich befindet oder dass er ein Alkoholiker ist oder dass er drogenabhängig wäre. Oder dass die Mechanik seines Autos nicht wirklich funktioniert. Dann sind Unfälle vorhergesehen, die Sie mit der Straßenverkehrsordnung und dem fünften Gebot nicht mehr aushebeln können. Sie müssen sich dann interessieren für das Getriebe – äußerlich wie innerlich.
    Florin: Die Kirchen neigen dazu, die Straßenverkehrsordnung – jetzt mal im übertragenen Sinne – auf alles anzuwenden?
    Drewermann: Das Problem ist, dass das Menschenbild ungeheuer verflacht worden ist. Man hat den Glauben weitgehend verpackt in Lehrsätze, die man von außen, vom theologischen Katheder her zum Schulwissen abarbeiten kann. In Wirklichkeit gilt es, das alles zu personalisieren und zu existenzialisieren. Und dafür eigentlich steht Luther, obwohl er am Rande des Mittelalters viel getan hat, seine eigene Gnadenlehre ungnädig als ein neues Dogma in die Welt zu bringen. Auch darin liegt ein Stück Tragik der Reformation. Gerne würde ich Luther sagen: "Die richtige Entdeckung, Menschen und ihre Angst lassen sich nur befreien in unbedingter Zuwendung des Vertrauens, das sie in Gott haben." Im Sinne der Botschaft Jesu: "Du bist mein Sohn, du fällst mir nie aus den Händen." Das muss man sagen in einer ganz leisen Sprache. Dichterisch, vorsichtig. Luther hat das versucht. Er hat die Psalme übersetzt, er hat Lieder geschrieben. Er konnte großartig sein. Aber er konnte auch aus dem Widerspruch, in den er hinein gedrängt wurde, Rechthabereien entgegen dogmatischem Sinne formulieren. Und dann bis zur Brutalität seine eigene Botschaft auslegen. Da war er nicht Gesellschaft verändernd, da war er auf der Seite der Fürsten, für die Beibehaltung der bestehenden Gewaltordnung in Staat und Gesellschaft. Bis auf den Zins. Da hält er durch und sagt: "Man darf an der Armut des anderen sich nicht bereichern."
    "Protestanten, besinnt euch auf euch selbst!"
    Florin: Nun wird ja die evangelische Kirche oft als viel zu zeitgeistig, zu weich kritisiert. Sie würde alles segnen, da sei nichts Widerständiges mehr. Teilen Sie diesen Befund?
    Drewermann: Da ist was dran, und ich habe mein Buch über Luther mehr eigentlich auch geschrieben, um zu sagen: Protestanten, jetzt besinnt euch auf euch selbst. Nehmt euch wirklich ernst. Es geht um das Individuum, es geht um Angst. Es geht um Vertrauen. Das sind eure Themen, aber schielt nicht auf die Gesellschaft oder auf das verfälschte Vorbild der römisch-katholischen Kirche. Die hat unendlich viel mehr Macht. Die kleine Schlosskirche in Wittenberg, verglichen mit dem Petersdom, das ist nicht der Vergleich. Alles, was Gott zu sagen hat, geht durch die Passage des Subjekts, des Einzelnen. Und dann bleibt es dabei.
    Kierkegaard hat zwischen den beiden Konfessionen mal gesagt, wenn der Protestantismus seine Kraft verliert, wird er zum Atheismus. Wenn der Katholizismus seine Kraft verliert, wird er zum Polytheismus. Er hängt sich an jeden Fetisch. Und beide würden in diesem Falle vorbei gehen an dem Kern, der alles verbindet, die Innerlichkeit des Individuums. Da ist der mystische Ansatz bei Luther gegenwärtig. Und da hätte er eigentlich in Ruhe weitermachen sollen. Man hat ihn nicht gelassen, ich kann es ihm nicht vorwerfen.
    Florin: Und mehr Innerlichkeit für die evangelische Kirche, was heißt das konkret? Sich nicht mehr einmischen in politische oder gesellschaftspolitische Debatten?
    Drewermann: Nein, unbedingt. Man muss aus dem Frieden, den der einzelne gewinnt, im Gegenüber von Akzeptanz, zum Beispiel in der Friedensbewegung, unbedingt fordern, dass miteinander geredet wird. Man kann doch nicht Johannes 1 "Im Anfang war das Wort" als Weihnachtsevangelium nehmen und dann sehen, wie alles auseinander bricht unter dem Machtdiktat. Man redet nicht, man bombt.
    "Wir tun so, als ob wir asyl- und menschenfreundlich wären"
    Florin: Aber Frau Käßmann hat es doch mal vorgeschlagen und hat gesagt, man müsse mit den Taliban reden. Da haben sich Hohn und Spott über sie ergossen.
    Drewermann: Aber dieser Widerspruch ist absolut nötig. Martin Luther konnte sich berufen auf den Reichstag zu Worms. Man schiebt ihm den Satz zu: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Aber er hätte auch sagen können mit Petrus: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." Und das ist nicht eine Frage des äußeren Erfolgs. Der wahre Widerspruch, der dann auch was ändert, der Reformation ermöglicht hat, ist nicht das Kalkül "wie setze ich mich durch?, wie bringe ich die Fürsten auf meine Seite? Wie viele Dollar muss ich aufbringen, um einen Wahlkampf zu gewinnen?" Die Frage ist, was stimmt zwischen mir selbst und Gott und wie hilft es den Menschen an meiner Seite? Was dann daraus wird ist wie wenn Sie einen Stein ins Wasser werfen: Er zieht seine Kreise und Sie können nicht vorhersehen, wie die sich an den Uferrändern brechen. Aber dass Sie den Stein ins Wasser bekommen, das ist die Aufgabe, wofür wir leben.
    Florin: Halten Sie es für richtig, dass sich die Kirchen – es sind ja beide – in der Flüchtlingspolitik so eindeutig positionieren?
    Drewermann: Ich hätte viel darum gegeben, sie hätten es viel früher getan. Schon in den 90er-Jahren nach dem Schengen-Abkommen war deutlich, was für eine Art von Außenpolitik wir den Flüchtlingen gegenüber einschlagen würden. Auf all das greifen wir jetzt zurück und tun so, als wenn wir asyl- und menschenfreundlich wären. Im Gegenteil, wir treiben im Strom eines Europas, das sich abschottet an der Südgrenze, um seinen Wohlstand zu halten, unter Bedingungen, die die Verwüstung der Dritten Welt überhaupt zur Voraussetzung haben, soweit ab, dass die Kirchen protestieren müssen.
    "Ich komme aus dem Land der Inquisition"
    Florin: Halten Sie das für Fassade, dass die Kirchen sich jetzt so engagieren?
    Drewermann: Nein, ich glaube, da ist etwas Echtes dran, auch in dem Protest gegenüber den kapitalistischen Ausbeutungsprozessen, der Zerstörung der Natur, der Dritten-Welt-Problematik. Allerdings läuft man hinter Evidenzen her, die seit mindestens einem halben Jahrhundert hätten aufgegriffen werden müssen und können.
    Florin: Ein Buch über Luther, ein Buch über einen Einzelnen gegen die mächtige Institution katholische Kirche. Diese Erfahrung kennen Sie ja nun auch. Täuscht mein Eindruck, oder ist es nicht auch ein Buch über Sie selbst?
    Drewermann: Ich selbst komme in dem Buch recht wenig vor, außer dass ich glaube, die Spannung zwischen Angst, Verzweiflung und Gnade genügend zu kennen, auch vom eigenen Erlebten zu wissen, dass sie Jedermanns Geschichte ist.
    Florin: Sie sind aus der katholischen Kirche ausgetreten, 2005. Warum sind Sie nicht in die evangelische eingetreten?
    Drewermann: Es hat ein spanischer Psychoanalytiker schon gesagt, als die Auseinandersetzung Ende der 80er-Jahre im vergangenen Jahrhundert begonnen hat – ich wollte halt die Bibel dichterisch lesen, die Symbole verstehen, den Glauben innerlich begründen – das passte der katholischen Kirche nicht mehr: "Ich komme aus dem Land der Inquisition, ich weiß, Sie haben keine Chance. Sie werden in der Öffentlichkeit nicht einmal wirklich sagen können, worum es Ihnen geht." Aber jetzt schon ist es ganz einfach, nur katholisch zu sein. Es ist ganz einfach, nur evangelisch zu sein. Aber Christ zu werden, das ist fast unmöglich. Nur das sollten wir versuchen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Eugen Drewermann: "Luther wollte mehr". Der Reformator und sein Glaube.
    Herder, Freiburg 2016. 320 Seiten, 19,99 Euro