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Lutheraner in Venedig
Eine Geschichte zwischen Duldung und Verfolgung

Die Lutheraner in Venedig bilden eine der ältesten evangelischen Gemeinden außerhalb Deutschlands. Schon ihr Namensgeber Martin Luther erwähnte sie vor fast 500 Jahren. Weil sie in der Lagunenstadt die Gottesdienste nur versteckt feiern konnten, ist ihre Geschichte weitgehend unbekannt geblieben.

Von Corinna Mühlstedt | 27.08.2014
    Gondeln, Boote und ein Vaporetto fahren auf dem Canale Grande vor der Rialtobrücke in Venedig
    Die Lutheraner in Venedig mussten gezwungenermaßen in einem Handelshaus an der Rialto-Brücke zusammenleben - das schützte sie auch. (dpa picture alliance/ Waltraud Grubitzsch)
    "Hier in Venedig wurde vor 20 Jahren der erste ‚Christenrat' Italiens gegründet. In ihm arbeiten die Vertreter von rund zehn verschiedenen Konfessionen zusammen. Die Präsenz der lutherischen Gemeinde habe ich dabei immer mehr schätzen gelernt. Sie wirkt ausgleichend und verbindend, denn sie ist wirklich offen für die Ökumene. Wenn man an ihre Geschichte denkt, ist das alles andere als selbstverständlich und umso positiver."
    Don Marco Scarpa ist der Ökumene-Beauftragte der katholischen Kirche Venedigs. Die lutherische Gemeinde seiner Heimatstadt ist die älteste Italiens. Unbeirrt hat sie ihren Glauben fast 500 Jahre lang gegen alle Bedrohungen verteidigt. Möglich war dies nur aufgrund der besonderen Position, die deutsche Staatsbürger hier seit dem Mittelalter genossen. Der Historiker Arnold Esch hat ihre Geschichte erforscht:
    "Sie kamen nach Venedig vor allem aus Gründen des Handels. Denn praktisch alle orientalischen Gewürze kamen über Ägypten und dann Venedig nach Europa. Und die deutschen Kaufleute holten sie sozusagen in Venedig ab, vor allem süddeutsche Kaufleute, also Augsburger, Regensburger, Nürnberger."
    Handel der Deutschen wird kontrolliert
    Es ging im Orienthandel um enorme Summen Geldes. Die Republik Venedig, die Serenissima, hieß Kaufleute daher willkommen, verband dies aber mit präzisen Regeln:
    "Um dieses Monopol, das Venedig im Gewürzhandel mit dem Orient hatte, zu wahren, achteten sie auf eine rigide Kontrolle des Handels und damit auch der deutschen Kaufleute und nötigten sie in einem 'Fondaco', in einem 'Kaufhaus der Deutschen' zu wohnen. Nachts wurden die deutschen Kaufleute dort eingeschlossen und konnten das Gebäude dann nicht mehr verlassen. Sie lebten dort, sie durften nicht in der Stadt wohnen, handelten von dort aus, und mussten ihre Gewinne im venezianischen Gewürzhandel in Venedig reinvestieren."
    Das deutsche Handelshaus, der Fondaco dei Tedeschi, lag unmittelbar neben der historischen Rialto-Brücke. Heute ist der mächtige Palazzo eine Baustelle, doch im 16. Jahrhundert war das prachtvolle Gebäude ein Wahrzeichen der Handelsmacht Venedig. Seine Fassade hatten berühmte venezianische Maler wie Giorgione und Tizian verziert. Man müsse sich den Fondaco als eine Art Mikrokosmos vorstellen, so Professor Esch, der trotz mancher Einschränkungen ein hohes Maß an Unabhängigkeit besaß:
    "Wenn die Deutschen da drin waren, konnten sie unter sich machen, was sie wollten. Diese Abgeschlossenheit hatte den Vorteil, dass sie dort auch freie Religionsausübung sich erlauben konnten, dass ihnen das erlaubt wurde von venezianischer Seite."
    Keimzelle evangelischen Gedankenguts
    Als sich im 16. Jahrhundert eine wachsende Zahl deutscher Kaufleute zum Luthertum bekannte, wurde der Fondaco in Venedig zu einer Keimzelle evangelischen Gedankenguts. Eine weitere Keimzelle bildete das mächtige Kloster der Augustiner-Eremiten neben der Kirche Santo Stefano. 1519 - keine zwei Jahre nach Beginn der Reformation in Deutschland - fand hier ein Generalkapitel des Ordens statt. Mehr als 1000 Delegierte reisten aus ganz Europa an. Auf der Tagesordnung stand der "Fall Luther". Und noch ein Aspekt habe die Verbreitung reformatorischer Impulse begünstigt, erklärt der Kirchenhistoriker Friedjof Roch: der Buchdruck. Er gelangte damals in Venedig zur Blüte und machte evangelische Schriften einem breiten Publikum zugänglich:
    "Unter der Hand kamen sehr viele Bücher nach Venedig. Das war ein Umschlagplatz, Venedig. Und die wurden hier nachdruckt und fanden hier reißenden Absatz. Die wurden dann heimlich in den Buchgeschäften unter der Theke verkauft, und das um 1519."
    Texte deutscher Reformatoren erschienen dabei oft in einer italienischen Kurzfassung und unter falschem Namen. 1527 ließ die Serenissima einige Schriften Martin Luthers und andere Bücher demonstrativ verbrennen, konnte damit aber die Begeisterung der Venezianer für das Gedankengut nicht bremsen. War die multikulturelle Atmosphäre der Hafenstadt doch schon lange ein Nährboden für neue geistige Strömungen:
    "Im Spätmittelalter gab es eine starke Bewegung, die die Erneuerung der Kirche forderte. Und in Venedig traf es sich, dass Jugendliche des Adels sich regelmäßig trafen, um das Neue Testament in der Originalsprache zu lesen. Das ist deswegen interessant, weil die völlig unabhängig von Luther das Testament gelesen haben, selbstverständlich in Griechisch. Was von der Kirche sogar verboten war. Aber in Venedig war das möglich."
    Verzweifelte Briefe an Martin Luther
    Die erste Bibel-Übersetzung in der Landessprache Italienisch erschien in Venedig - trotz kirchlicher Verbote - 1532, also noch zwei Jahre vor der Bibel-Übersetzung Martin Luthers in Deutschland. Doch 1542 belebte der Vatikan die Inquisition neu. Rasch erreichte ihr langer Arm auch Venedig. In den folgenden 50 Jahren zählte man dort 219 Prozesse wegen lutherischer Häresie. Alle italienischen Anhänger der Lehren Luthers, die nicht rechtzeitig nach Deutschland oder in die Schweiz flohen, kamen grausam zu Tode. Eines der bekanntesten Opfer wurde 1556 der Franziskaner Provinzial Fra Baldo Lupettino:
    "Der ist '56 ertränkt worden hier in der Lagune. Wenn von der Kirche jemand des Unglaubens zu Tode verurteilt wurde, wurde er den politischen Machthabern übergeben, dass sie das Todesurteil ausführten. Und das Todesurteil wurde ausgeführt nach dem Vorbild der Geheimpolizei in Venedig, und die machte das nachts, damit die Leute nicht zu sehr protestierten."
    In ihrer Not sandten die venezianischen Lutheraner 1542 und '43 verzweifelte Briefe an Martin Luther. Es waren Hilfeschreie, verbunden mit der Hoffnung, der Wittenberger könne die evangelischen Fürsten Deutschlands dazu bewegen, Einfluss auf die Entwicklung im Veneto zu nehmen. Luther konnte die Venezianer aber letztlich nur geistig unterstützen.
    Ohne weltlichen Schutz hatten die evangelischen Gemeinden Italiens aber gegen die Inquisition keine Chance. Am Ende des 16. Jahrhunderts, so der Historiker Arnold Esch, galten sie als "vernichtet". Nur im Schutz des Fondaco dei Tedeschi konnte das Luthertum in Venedig überleben. Es waren wirtschaftliche Erwägungen, die die Serenissima veranlassten, dem Druck der Inquisition mit Blick auf die deutschen Lutheraner nicht nachzugeben:
    "Das Prinzip Venedigs ist immer gewesen, sich nicht von Rom reinreden lassen - wenn es um das Verhältnis zu den Handelspartnern ging, das gute Verhältnis zu den Kaufleuten in Süddeutschland. Hier ging es um Ausländer, die Geld brachten, und die man konzentriert in einem Gebäude unter Kontrolle halten konnte, sodass eine verdeckte Religionsausübung möglich war."
    Verbindliche Ordnung für alle Mitglieder
    Die venezianische Regierung tolerierte sogar evangelische Gottesdienste, aber nur, solange sie innerhalb des Fondaco stattfanden und nichts davon an die Öffentlichkeit drang. Der erste evangelische Pfarrer aus Deutschland, der ab 1650 im Fondaco Dienst tat, übte sein Amt getarnt als Arzt aus. Die heutige Präsidentin der lutherischen Gemeinde Venedigs, Lore Sarpellon, weiß, wie gewagt seine Tätigkeit war:
    "Der zweite Pfarrer, Johann Georg Renier, der wurde entdeckt und wurde ausgewiesen. Er musste innerhalb von drei Tagen Venedig verlassen. Das war ein Schock für die evangelischen Kaufleute in Venedig. Denen wurde zum ersten Mal bewusst: auch hier sind wir nicht sicher. Und seitdem hat man dann eine Kirchenordnung verfasst: Es gab genaue Vorschriften, wie man zu den Gottesdiensten gehen sollte. Man durfte nicht in einer größeren Gruppe sich in den Gottesdienst-Raum begeben und sollte nicht auffallen: Man durfte nicht laut sprechen, es wurde auch während den Gottesdiensten nicht gesungen."
    1654 machten die Verantwortlichen des Fondaco die Ordnung für alle evangelischen Mitglieder verbindlich. Sie blieb fast 150 Jahre gültig. Erst 1797 kam mit den Truppen Napoleons die Religionsfreiheit nach Venedig. Als wenig später das deutsche Handelshaus aufgelöst wurde, mussten die Lutheraner allerdings eine neue Bleibe suchen. Sie fanden sie 1813 am Campo SS. Apostoli in der sogenannten Scuola del Angelo Custode. In der Schutzengel-Kirche konnte die Gemeinde inzwischen ihre 200-jährige Präsenz feiern. Zu ihrer Freude, so Pfarrer Bernd Prigge, geschah dies in ökumenischem Einklang mit der Nachbarschaft.
    "Wir haben eine wunderbare Kooperation. Als vor zwei Jahren unsere Kirchendecke runterkam nach dem Erdbeben in der Emilia Romania, haben wir eine große Welle der Solidarität, auch ganz besonders von der katholischen Kirche erlebt. Der Patriarch hat uns eine Spende gegeben, und unser Jubiläum haben wir zum Teil in der katholischen Kirche gefeiert."