Mit weniger Glück konzipiert als die blendende Karriere des Jenenser Professors für Zeitgeschichte und rastlosen Wissenschaftsmanagers Lutz Niethammer ist zweifellos der Titel seiner neuesten Buchveröffentlichung: "Ego-Histoire?" - Untertitel "und andere Erinnerungs-Versuche". Was soll "Ego-Histoire" heißen? Dem Vorwort ist zu entnehmen, dass dieser Neologismus an der Europäischen Hochschule in Florenz aus der Taufe gehoben wurde, an der Niethammer, wie an vielen anderen internationalen Institutionen, als "Fellow" eingeladen war. Im Verlauf der Lektüre des Bandes wird deutlich, dass der Autor vor allem deshalb von "Ego-Histoire" spricht, damit er den ausgetretenen Begriff Autobiographie vermeiden kann. Darum jedoch handelt es sich in Teilen des Buchs, und zwar nicht den uninteressantesten. Wo sonst könnte man heute erfahren, dass sich der demokratische Neubeginn nach 1945 in der Schule durch Wiedereinführung der Prügelstrafe manifestierte, die von den Nazis zusammen mit dem Elternrecht abgeschafft worden war?
Zunächst aber hat man es mit einem Sammelband zu tun, der wie üblich sehr unterschiedliche Arbeiten zusammenfasst. Darunter ragt durch seine thematische Geschlossenheit deutlich der Arbeitsbericht heraus, den der Autor, landauf landab bekannt als Champion der "Oral History", zu der seinerzeit vielbeachteten DDR-Untersuchung "Die volkseigene Erfahrung" angefertigt hat. Der westdeutsche Historiker hatte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre von den DDR-Behörden ausnahmsweise die Erlaubnis erhalten, zusammen mit seinen Mitarbeitern Bewohner mehrerer DDR-Bezirke unbeaufsichtigt nach ihren Biographien und ihren Einstellungen zu befragen. Nach Maueröffnung und Vereinigung sind derartige Interviews freilich zur Banalität geworden, so dass es heute schwer fällt, das damals Außergewöhnliche des Niethammerschen Unternehmens noch nachzuvollziehen.
Lesenswert ist der Arbeitsbericht aber allemal, gerade weil er unersetzbare Einblicke in das innere Funktionieren der inzwischen untergegangenen DDR-Gesellschaft vermittelt. Obgleich die westdeutsche Historikergruppe von vielen der Befragten Auskunft über ökonomischen Niedergang und über allgemeine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen erhielt, kam auch sie nicht auf den Gedanken, dass das ganze System binnen kurzem sang- und klanglos implodieren könnte. Vor einer im Augenblick der Abdankung des Regimes von vielen in West und Ost geteilten Illusion blieben, schreibt Niethammer, die gut unterrichteten westdeutschen Befrager jedoch verschont: an ein bedeutendes liberales und sozialistisches Potential, das nach dem Mauerfall weithin als Ressource für einen Neubeginn im Osten vermutet wurde, glaubten sie nämlich nicht.
Für schlichtweg überholt mag der Historiker die damals in der DDR unternommene Arbeit nicht halten, und er argumentiert dabei auf eine gedächtnistheoretische Weise, gegen die sich schwer etwas Stichhaltiges einwenden lässt:
"Gewiss kann man nun unter viel freieren Bedingungen viel leichter Lebensgeschichten und andere Gedächtniszeugnisse zusammentragen, aber nie mehr wird das Gedächtnis so funktionieren wie damals. Damit will ich nicht sagen, die Leute in der DDR hätten sich damals 'richtiger' oder umfassender erinnert als heute. Aber auch die gegenteilige Aussage wäre falsch. Denn die spezifischen Bedingungen, unter denen Erinnerung geschieht, wirken immer an der Auswahl und Zurichtung der Gedächtnisinhalte mit. Der Kontext, auf den man sich damals kritisch oder zustimmend bezog, erscheint im Rückblick wie eine Fiktion, aber er war eine Realität, die in mehr als vierzig Jahren geronnen war und differenzierte Verhaltensmuster und Sinnkonstruktionen erzwungen hatte."
"Oral History", betont Lutz Niethammer an mehreren Stellen, ist selbst keine Geschichtsschreibung, kann jedoch, wenn kritische Deutung gesammelter Aussagen hinzutritt, der Historiographie wertvolle Impulse hinzufügen. Voraussetzung solcher Deutungsarbeit sei für den Historiker jedoch die Problematisierung des Gedächtnisses und der Erinnerung. Es gehe dabei nicht um deren sprichwörtliche Unzuverlässigkeit. Es gehe um die speziellen Bedingungen der Deformation von Gedächtnisinhalten. Niethammer zeigt das, verdienstvollerweise, an seinem eigenen Beispiel. 1939 geboren und also bei Ende des Zweiten Weltkriegs fünf bis sechs Jahre alt, glaubte Niethammer sich stets an das aus 80 Kilometer Entfernung in einem ländlichen Fensterausschnitt gesehene Bild des brennenden Stuttgart zu erinnern. Es stellte sich jedoch heraus, dass die männerlose Familie - der Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft - in jenem brennenden Stuttgart selbst ausgebombt worden war. Der Autor kommentiert diese Erinnerungsverschiebung:
"Anscheinend habe ich die unerträgliche Geschichte aus meiner Kindheit verdrängt und sie gegen ein Märchen von Zwergen und Frauen, von idyllischem Schutz und einsamer Isolierung eingetauscht, gegen den Glaskasten einer langen Schüchternheit, die mich auf spätere Abenteuer der Unmittelbarkeit scharf machte, und gegen lang anhaltende und eigentümlich angstlose Phantasien eines frühen Todes, die sich als Illusion erweisen sollten."
Diese Selbstanalyse lässt sich freilich auch anders lesen, nämlich als Entfaltung der Entstehung einer auffallend narzisstischen Disposition, gerade unterstrichen durch den Hinweis auf die dann dementierten Vorstellungen von einem frühen eigenen Tod. Ein solch eingestimmter Mensch wird sich vermutlich im Erwachsenenalter für unverwundbar, wenn nicht für unbesiegbar halten, und wie eine unbewusst verfasste Illustration dieser narzisstischen Prägung hat Niethammer dann seinen autobiographischen Karriere-Bericht "Jenseits von Oeuvre" zu Papier gebracht. Promotion beim berühmten Werner Conze, Assistentenstelle beim berühmten Hans Mommsen, akademische Spitzenämter, Einladungen zu besten US-amerikanischen Universitäten, "Fellow" hier und dort, erfolgreicher Manager akademisch-politischer Vernetzungen wie in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung, alles gelang dem schwäbischen Tausendsassa. Eines nur scheint Niethammer nach den in diesem Band vereinten Selbstzeugnissen nicht gelungen zu sein, nämlich die Entwicklung einer Perspektive, die dem rastlosen Professor erlaubte, sich selbst zwischendurch aus ironisch-selbstkritischer Distanz zu betrachten.
"In memoriam. Nachruf" ist der letzte Teil des Bandes überschrieben. Niethammer gedenkt dort einer Reihe frühverstorbener Kollegen, wie des Zeithistorikers Detlef Peukert. Einen Abschnitt hat er dem Jenenser Schüler Jens Fügener gewidmet, der, noch in der DDR promoviert, sich auf die Habilitation über US-amerikanische Diplomatiegeschichte vorbereitete. Wie Niethammer mitteilt, litt der junge Historiker an einer Behinderung, die ihn jedoch, wenn auch mit großen Anstrengungen, schreiben und lehren ließ. Kurz vor der Abreise zu einem Forschungsaufenthalt in den USA stürzte Fügener sich vom obersten Stockwerk der Jenenser Universitätsbibliothek, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem nebenan ein rauschendes Kolloquium zum 60. Geburtstag Professor Niethammers stattfand. Niethammer bemerkt dazu, dass er die Botschaft dieses Suizids, die sich von Ort und Zeitpunkt her unübersehbar auch an ihn selbst richtete, nicht habe verstehen können. Ein merkwürdiges, vielleicht nur durch Selbstschutz erklärbares Eingeständnis. Es zeigt, dass es dem Zeithistoriker Niethammer, aller theoretischen Gewitztheit zum Trotz, offenbar an Fähigkeit und Bereitschaft mangelt, die Wirkung seiner eigenen Gestalt auf andere wahrzunehmen. Der Kontrast zwischen einem begabten, jedoch an seiner Zukunft verzweifelnden jungen Menschen und dem etablierten, emsig produzierenden und nun auch noch gefeierten Manager-Professor hätte ihm sonst ins Auge springen und ihn die Botschaft der Tat Jens Fügeners entziffern lassen müssen.
"Ego-Histoire und andere Erinnerungsversuche" von Lutz Niethammer. Erschienen ist der 350-seitige Band im Böhlau Verlag, und er kostet 29.90 Euro.
Zunächst aber hat man es mit einem Sammelband zu tun, der wie üblich sehr unterschiedliche Arbeiten zusammenfasst. Darunter ragt durch seine thematische Geschlossenheit deutlich der Arbeitsbericht heraus, den der Autor, landauf landab bekannt als Champion der "Oral History", zu der seinerzeit vielbeachteten DDR-Untersuchung "Die volkseigene Erfahrung" angefertigt hat. Der westdeutsche Historiker hatte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre von den DDR-Behörden ausnahmsweise die Erlaubnis erhalten, zusammen mit seinen Mitarbeitern Bewohner mehrerer DDR-Bezirke unbeaufsichtigt nach ihren Biographien und ihren Einstellungen zu befragen. Nach Maueröffnung und Vereinigung sind derartige Interviews freilich zur Banalität geworden, so dass es heute schwer fällt, das damals Außergewöhnliche des Niethammerschen Unternehmens noch nachzuvollziehen.
Lesenswert ist der Arbeitsbericht aber allemal, gerade weil er unersetzbare Einblicke in das innere Funktionieren der inzwischen untergegangenen DDR-Gesellschaft vermittelt. Obgleich die westdeutsche Historikergruppe von vielen der Befragten Auskunft über ökonomischen Niedergang und über allgemeine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen erhielt, kam auch sie nicht auf den Gedanken, dass das ganze System binnen kurzem sang- und klanglos implodieren könnte. Vor einer im Augenblick der Abdankung des Regimes von vielen in West und Ost geteilten Illusion blieben, schreibt Niethammer, die gut unterrichteten westdeutschen Befrager jedoch verschont: an ein bedeutendes liberales und sozialistisches Potential, das nach dem Mauerfall weithin als Ressource für einen Neubeginn im Osten vermutet wurde, glaubten sie nämlich nicht.
Für schlichtweg überholt mag der Historiker die damals in der DDR unternommene Arbeit nicht halten, und er argumentiert dabei auf eine gedächtnistheoretische Weise, gegen die sich schwer etwas Stichhaltiges einwenden lässt:
"Gewiss kann man nun unter viel freieren Bedingungen viel leichter Lebensgeschichten und andere Gedächtniszeugnisse zusammentragen, aber nie mehr wird das Gedächtnis so funktionieren wie damals. Damit will ich nicht sagen, die Leute in der DDR hätten sich damals 'richtiger' oder umfassender erinnert als heute. Aber auch die gegenteilige Aussage wäre falsch. Denn die spezifischen Bedingungen, unter denen Erinnerung geschieht, wirken immer an der Auswahl und Zurichtung der Gedächtnisinhalte mit. Der Kontext, auf den man sich damals kritisch oder zustimmend bezog, erscheint im Rückblick wie eine Fiktion, aber er war eine Realität, die in mehr als vierzig Jahren geronnen war und differenzierte Verhaltensmuster und Sinnkonstruktionen erzwungen hatte."
"Oral History", betont Lutz Niethammer an mehreren Stellen, ist selbst keine Geschichtsschreibung, kann jedoch, wenn kritische Deutung gesammelter Aussagen hinzutritt, der Historiographie wertvolle Impulse hinzufügen. Voraussetzung solcher Deutungsarbeit sei für den Historiker jedoch die Problematisierung des Gedächtnisses und der Erinnerung. Es gehe dabei nicht um deren sprichwörtliche Unzuverlässigkeit. Es gehe um die speziellen Bedingungen der Deformation von Gedächtnisinhalten. Niethammer zeigt das, verdienstvollerweise, an seinem eigenen Beispiel. 1939 geboren und also bei Ende des Zweiten Weltkriegs fünf bis sechs Jahre alt, glaubte Niethammer sich stets an das aus 80 Kilometer Entfernung in einem ländlichen Fensterausschnitt gesehene Bild des brennenden Stuttgart zu erinnern. Es stellte sich jedoch heraus, dass die männerlose Familie - der Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft - in jenem brennenden Stuttgart selbst ausgebombt worden war. Der Autor kommentiert diese Erinnerungsverschiebung:
"Anscheinend habe ich die unerträgliche Geschichte aus meiner Kindheit verdrängt und sie gegen ein Märchen von Zwergen und Frauen, von idyllischem Schutz und einsamer Isolierung eingetauscht, gegen den Glaskasten einer langen Schüchternheit, die mich auf spätere Abenteuer der Unmittelbarkeit scharf machte, und gegen lang anhaltende und eigentümlich angstlose Phantasien eines frühen Todes, die sich als Illusion erweisen sollten."
Diese Selbstanalyse lässt sich freilich auch anders lesen, nämlich als Entfaltung der Entstehung einer auffallend narzisstischen Disposition, gerade unterstrichen durch den Hinweis auf die dann dementierten Vorstellungen von einem frühen eigenen Tod. Ein solch eingestimmter Mensch wird sich vermutlich im Erwachsenenalter für unverwundbar, wenn nicht für unbesiegbar halten, und wie eine unbewusst verfasste Illustration dieser narzisstischen Prägung hat Niethammer dann seinen autobiographischen Karriere-Bericht "Jenseits von Oeuvre" zu Papier gebracht. Promotion beim berühmten Werner Conze, Assistentenstelle beim berühmten Hans Mommsen, akademische Spitzenämter, Einladungen zu besten US-amerikanischen Universitäten, "Fellow" hier und dort, erfolgreicher Manager akademisch-politischer Vernetzungen wie in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung, alles gelang dem schwäbischen Tausendsassa. Eines nur scheint Niethammer nach den in diesem Band vereinten Selbstzeugnissen nicht gelungen zu sein, nämlich die Entwicklung einer Perspektive, die dem rastlosen Professor erlaubte, sich selbst zwischendurch aus ironisch-selbstkritischer Distanz zu betrachten.
"In memoriam. Nachruf" ist der letzte Teil des Bandes überschrieben. Niethammer gedenkt dort einer Reihe frühverstorbener Kollegen, wie des Zeithistorikers Detlef Peukert. Einen Abschnitt hat er dem Jenenser Schüler Jens Fügener gewidmet, der, noch in der DDR promoviert, sich auf die Habilitation über US-amerikanische Diplomatiegeschichte vorbereitete. Wie Niethammer mitteilt, litt der junge Historiker an einer Behinderung, die ihn jedoch, wenn auch mit großen Anstrengungen, schreiben und lehren ließ. Kurz vor der Abreise zu einem Forschungsaufenthalt in den USA stürzte Fügener sich vom obersten Stockwerk der Jenenser Universitätsbibliothek, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem nebenan ein rauschendes Kolloquium zum 60. Geburtstag Professor Niethammers stattfand. Niethammer bemerkt dazu, dass er die Botschaft dieses Suizids, die sich von Ort und Zeitpunkt her unübersehbar auch an ihn selbst richtete, nicht habe verstehen können. Ein merkwürdiges, vielleicht nur durch Selbstschutz erklärbares Eingeständnis. Es zeigt, dass es dem Zeithistoriker Niethammer, aller theoretischen Gewitztheit zum Trotz, offenbar an Fähigkeit und Bereitschaft mangelt, die Wirkung seiner eigenen Gestalt auf andere wahrzunehmen. Der Kontrast zwischen einem begabten, jedoch an seiner Zukunft verzweifelnden jungen Menschen und dem etablierten, emsig produzierenden und nun auch noch gefeierten Manager-Professor hätte ihm sonst ins Auge springen und ihn die Botschaft der Tat Jens Fügeners entziffern lassen müssen.
"Ego-Histoire und andere Erinnerungsversuche" von Lutz Niethammer. Erschienen ist der 350-seitige Band im Böhlau Verlag, und er kostet 29.90 Euro.