Das Buch erscheint wie ein Kompendium, ist aber weit mehr. Geschrieben wie aus einem Guss, zeigt der Autor Lutz Raphael, Historiker aus Trier, gegen welche Mächte und Interessen die Gegenwart der Geschichte erkämpft werden muss. Dafür mustert Raphael das schwierige Verhältnis von politischer Ideologie und nationaler Erinnerungskultur. Er schreibt eine Geschichte der Geschichtswissenschaften, die den tradierten Rahmen der Nationalgeschichte gesprengt hat. Denn die einst staatsnahe Konsenskultur der klassischen Historikerzunft bekam durch die großen Kriege, die politischen Umbrüche und die sozialen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts Risse. So konnte sich das Berufsbild der Historiker aus der Nähe zu Staats- und Rechtswissenschaften lösen. Neue Disziplinen wie Politikwissenschaften, Soziologie und Psychologie gaben die wichtigsten Anstöße für die Erweiterung des tradierten Forschungsfeldes.
Die Geschichtswissenschaft hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem ganz erheblichen Maße von den Innovationen ihrer Nachbardisziplinen profitiert; aus diesem Grund muss den interdisziplinären Transfers besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
In Methodenidee, Denkstil und Deutungsmuster hat das 'Vernunftunternehmen Geschichtswissenschaft' auf das 'Zeitalter der Extreme' reagiert. Lineare Fortschrittsthesen und großformatige Modernisierungstheorien wollten nicht mehr ohne weiteres greifen. Die grundstürzenden Erfahrungen von Repression und Revolte im 20. Jahrhundert haben den Historikern vielmehr ein geschärftes Problembewusstsein für die barbarische Kehrseite des europäischen Humanismus verschafft. In diesem Zwielicht haben sich zwei große Strömungen entwickelt, die Raphael mit Literatur-Beispielen von hohem Erklärungswert vorstellt. Es sind die materialistische Geschichtsauffassung und die Sozialgeschichte einerseits, die Historische Anthropologie und die Neue Kulturgeschichte andererseits.
In Verbindung mit zivilisationskritischen Überlegungen aus der frühen Kritischen Theorie, der Tiefenpsychologie und der Wissenssoziologie gewannen materialistische Interpretationen der Geschichte an Attraktivität. Die marxistisch inspirierte Ideologiekritik verstand es für viele Historiker der Zeitgeschichte aus dem Geiste der Aufklärung, in der Legitimität der Macht die Rationalisierung von Gewalt plausibel werden zu lassen. Werner Sombarts dreibändige Geschichte des modernen Kapitalismus, Edward P. Thompsons Buch über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse und Barrington Moores Studie über die sozialen Ursprünge von Diktatur und Demokratie bilden in diesem Kontext Meilensteine der sozialgeschichtlichen Forschung, wie der Autor betont. Sombart beschreibt im Gegenzug zu Max Webers Protestantismusthese die sozialpsychologischen Komponenten im frühkapitalistischen Unternehmergeist, die Europa als einheitlichen Wirtschaftsraum überhaupt erst begründen; Thompson verfasst eine Sozialgeschichte 'von unten', die die Rolle radikaldemokratischer Intellektueller als Anwälte der Arbeiterschaft berücksichtigt; Moore wiederum untersucht die moralische Dimension ökonomischer Ausbeutung und politischer Ungerechtigkeit von der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert. Hans Ulrich Wehlers Entwurf einer Historischen Sozialwissenschaft bildet die zeitgenössische Speerspitze jener politiknahen Historik, die den Charme des oppositionellen Engagements bewahrt hat.
Wehlers deutsche Gesellschaftsgeschichte hat die Forschungserträge einer ganzen Generation sozialhistorischer Forschung in einer Gesamtdarstellung synthetisiert.
Dennoch gelten die Impulse der Historischen Anthropologie und der Neuen Kulturgeschichte Lutz Raphael als besonders fruchtbar. Sie verbinden konkrete Milieustudien mit einem ebenso weiten wie vagen Fragehorizont, der ein ganzes Weltbild erschließen soll. Man untersucht diffuse Gegenstände wie halbbewusste Wahrnehmungsmuster und Ideenkonglomerate, massenhafte Gewohnheiten und Gefühlslagen, um die geistige Ausstattung geschichtlicher Akteure zu bestimmen.
Die Mentalitätengeschichte der 50er und 60er Jahre wandte sich kulturellen Massenphänomenen zu und suchte methodisch den Anschluss an die Sozialgeschichte von Gruppen und Klassen. (...) Dabei trat immer wieder die Beharrungskraft kollektiver Vorstellungen zu Tage.
Für solche mit der historischen Anatomie kollektiver Mentalitäten befassten Abhandlungen, wie sie die französische Annales-Schule um Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel vorlegt, hegt der Autor starke Sympathien. Diese einflussreiche Historikergruppe versteht sich als Arbeiter im Weinberg der Geschichte. Hier werden scharfsinnige Überlegungen an Zeichen und Symbolen, Gesten und Zeremonien erprobt, um in der Trägheit des Alltagslebens charakteristische Züge von historischer Verbindlichkeit auszumachen. So wird Marc Blochs Buch über die Feudalgesellschaft von Raphael als sozialpsychologisches Kabinettstück empfohlen.
Personale Abhängigkeiten, ihre Riten und Rechtsformen prägen Denken und Fühlen der Menschen.
Sprachliche Eleganz, episodischer Stil und impressionistisches Flair dieser Geschichtsschreibung verraten eine schöngeistige Prägung, die manchen künstlich, anderen künstlerisch erscheint. In dichter Beschreibung akribischen Prüfungen unterzogen, sollen exemplarische Geschichten mit pittoresken Details die Signatur einer Epoche bestimmen.
Die Kulturgeschichte frühneuzeitlichen Alltagslebens mit den zentralen Themen Tod, Geburt, Krankheit, Heirat, die Sozialgeschichte der Familie und die Hinwendung zur Geschichte der Marginalisierten und Unterdrückten wurden ihre zentralen Arbeitsgebiete.
Raphaels Buch diskutiert die beiden Grundrichtungen der zeitgenössischen Historik umfassend und zuverlässig. Sie stehen nicht in strikter Abgrenzung zueinander, sondern pflegen einen lebhaften Austausch. Übergänge zwischen soziologischen und psychologischen Akzentuierungen sind die Regel, teilt doch die Historikerzunft von heute den radikalen Impetus von Herrschaftskritik. Das zeigt Raphaels knapper Überblick auf zugleich anregende wie lehrreiche Weise.
Khosrow Nosratian war das über Lutz Raphaels Buch: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. Erschienen ist es im C.H. Beck Verlag, hat 292 Seiten und kostet 14.90 Euro.
Die Geschichtswissenschaft hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem ganz erheblichen Maße von den Innovationen ihrer Nachbardisziplinen profitiert; aus diesem Grund muss den interdisziplinären Transfers besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
In Methodenidee, Denkstil und Deutungsmuster hat das 'Vernunftunternehmen Geschichtswissenschaft' auf das 'Zeitalter der Extreme' reagiert. Lineare Fortschrittsthesen und großformatige Modernisierungstheorien wollten nicht mehr ohne weiteres greifen. Die grundstürzenden Erfahrungen von Repression und Revolte im 20. Jahrhundert haben den Historikern vielmehr ein geschärftes Problembewusstsein für die barbarische Kehrseite des europäischen Humanismus verschafft. In diesem Zwielicht haben sich zwei große Strömungen entwickelt, die Raphael mit Literatur-Beispielen von hohem Erklärungswert vorstellt. Es sind die materialistische Geschichtsauffassung und die Sozialgeschichte einerseits, die Historische Anthropologie und die Neue Kulturgeschichte andererseits.
In Verbindung mit zivilisationskritischen Überlegungen aus der frühen Kritischen Theorie, der Tiefenpsychologie und der Wissenssoziologie gewannen materialistische Interpretationen der Geschichte an Attraktivität. Die marxistisch inspirierte Ideologiekritik verstand es für viele Historiker der Zeitgeschichte aus dem Geiste der Aufklärung, in der Legitimität der Macht die Rationalisierung von Gewalt plausibel werden zu lassen. Werner Sombarts dreibändige Geschichte des modernen Kapitalismus, Edward P. Thompsons Buch über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse und Barrington Moores Studie über die sozialen Ursprünge von Diktatur und Demokratie bilden in diesem Kontext Meilensteine der sozialgeschichtlichen Forschung, wie der Autor betont. Sombart beschreibt im Gegenzug zu Max Webers Protestantismusthese die sozialpsychologischen Komponenten im frühkapitalistischen Unternehmergeist, die Europa als einheitlichen Wirtschaftsraum überhaupt erst begründen; Thompson verfasst eine Sozialgeschichte 'von unten', die die Rolle radikaldemokratischer Intellektueller als Anwälte der Arbeiterschaft berücksichtigt; Moore wiederum untersucht die moralische Dimension ökonomischer Ausbeutung und politischer Ungerechtigkeit von der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert. Hans Ulrich Wehlers Entwurf einer Historischen Sozialwissenschaft bildet die zeitgenössische Speerspitze jener politiknahen Historik, die den Charme des oppositionellen Engagements bewahrt hat.
Wehlers deutsche Gesellschaftsgeschichte hat die Forschungserträge einer ganzen Generation sozialhistorischer Forschung in einer Gesamtdarstellung synthetisiert.
Dennoch gelten die Impulse der Historischen Anthropologie und der Neuen Kulturgeschichte Lutz Raphael als besonders fruchtbar. Sie verbinden konkrete Milieustudien mit einem ebenso weiten wie vagen Fragehorizont, der ein ganzes Weltbild erschließen soll. Man untersucht diffuse Gegenstände wie halbbewusste Wahrnehmungsmuster und Ideenkonglomerate, massenhafte Gewohnheiten und Gefühlslagen, um die geistige Ausstattung geschichtlicher Akteure zu bestimmen.
Die Mentalitätengeschichte der 50er und 60er Jahre wandte sich kulturellen Massenphänomenen zu und suchte methodisch den Anschluss an die Sozialgeschichte von Gruppen und Klassen. (...) Dabei trat immer wieder die Beharrungskraft kollektiver Vorstellungen zu Tage.
Für solche mit der historischen Anatomie kollektiver Mentalitäten befassten Abhandlungen, wie sie die französische Annales-Schule um Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel vorlegt, hegt der Autor starke Sympathien. Diese einflussreiche Historikergruppe versteht sich als Arbeiter im Weinberg der Geschichte. Hier werden scharfsinnige Überlegungen an Zeichen und Symbolen, Gesten und Zeremonien erprobt, um in der Trägheit des Alltagslebens charakteristische Züge von historischer Verbindlichkeit auszumachen. So wird Marc Blochs Buch über die Feudalgesellschaft von Raphael als sozialpsychologisches Kabinettstück empfohlen.
Personale Abhängigkeiten, ihre Riten und Rechtsformen prägen Denken und Fühlen der Menschen.
Sprachliche Eleganz, episodischer Stil und impressionistisches Flair dieser Geschichtsschreibung verraten eine schöngeistige Prägung, die manchen künstlich, anderen künstlerisch erscheint. In dichter Beschreibung akribischen Prüfungen unterzogen, sollen exemplarische Geschichten mit pittoresken Details die Signatur einer Epoche bestimmen.
Die Kulturgeschichte frühneuzeitlichen Alltagslebens mit den zentralen Themen Tod, Geburt, Krankheit, Heirat, die Sozialgeschichte der Familie und die Hinwendung zur Geschichte der Marginalisierten und Unterdrückten wurden ihre zentralen Arbeitsgebiete.
Raphaels Buch diskutiert die beiden Grundrichtungen der zeitgenössischen Historik umfassend und zuverlässig. Sie stehen nicht in strikter Abgrenzung zueinander, sondern pflegen einen lebhaften Austausch. Übergänge zwischen soziologischen und psychologischen Akzentuierungen sind die Regel, teilt doch die Historikerzunft von heute den radikalen Impetus von Herrschaftskritik. Das zeigt Raphaels knapper Überblick auf zugleich anregende wie lehrreiche Weise.
Khosrow Nosratian war das über Lutz Raphaels Buch: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. Erschienen ist es im C.H. Beck Verlag, hat 292 Seiten und kostet 14.90 Euro.