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Lutz van Dijk: Zu keinem ein Wort! Überleben im Versteck. Die Geschichte der Cilly Levitus-Peiser.

Je länger die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung zurückliegt, desto schwieriger wird es offenbar, vor allem Jugendlichen zu vermitteln, was sich damals zugetragen hat. Nicht selten fühlen sie sich von diesem Thema gelangweilt, empfinden seine Behandlung als erzwungene Pflichtübung. Manchmal gelingt es jedoch Zeitzeugen, Überlebenden der deutschen Massenvernichtung das Erinnern mit Leben zu erfüllen. Cilly Levitus-Peiser ist eine solche Person. Sie hat im Versteck in den Niederlanden mit falschen Papieren überlebt und sich zum Ziel gesetzt, diese Erlebnisse weiterzugeben. Ihr Buch: 'Zu keinem ein Wort’ richtet sich vorwiegend, aber nicht nur an Jugendliche. Kristine von Soden hat es gelesen:

Kristine von Soden | 17.03.2003
    Je länger die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung zurückliegt, desto schwieriger wird es offenbar, vor allem Jugendlichen zu vermitteln, was sich damals zugetragen hat. Nicht selten fühlen sie sich von diesem Thema gelangweilt, empfinden seine Behandlung als erzwungene Pflichtübung. Manchmal gelingt es jedoch Zeitzeugen, Überlebenden der deutschen Massenvernichtung das Erinnern mit Leben zu erfüllen. Cilly Levitus-Peiser ist eine solche Person. Sie hat im Versteck in den Niederlanden mit falschen Papieren überlebt und sich zum Ziel gesetzt, diese Erlebnisse weiterzugeben. Ihr Buch: 'Zu keinem ein Wort’ richtet sich vorwiegend, aber nicht nur an Jugendliche. Kristine von Soden hat es gelesen:

    Sie waren Schulkinder zwischen sechs und fünfzehn Jahren alt. Und sie stammten aus frommen jüdischen Familien in Frankfurt - manche kamen auch von außerhalb. Schon wenige Monate vor der nationalsozialistischen Machtergreifung hatten die Eltern sie ins Israelitische Waisenheim am Röderbergweg einquartiert - in der Hoffnung, dass wenigstens die Kinder eines Tages nach Palästina auswandern könnten. Denn immer bedrohlicher wurde die Pogromstimmung. Immer unerträglicher der jüdische Alltag. Vor allem nach der sogenannten "Reichskristallnacht" am 9. November 1938. Grölende HJ-Jungen und SA drangen auch ins Israelitische Waisenheim am Röderbergweg ein:

    Mit einem Brecheisen gelang es ihnen, unser stabiles Tor aufzubrechen und mit etwa dreißig Mann in den Hof zu stürmen. Die folgenden zwei Stunden herrschte nur Chaos und Entsetzen im ganzen Haus. Einige von uns versuchten, sich unter den Betten zu verstecken. Andere stellten sich auf Stühle oder kletterten auf Schränke. Wir hatten vor allem Angst, dass sie auch hier Feuer legen würden.

    Erinnerungen von Cilly Levitus-Peiser. Die damals 13jährige lebte zusammen mit ihrer älteren Schwester Hanna bereits seit 1932 im Israelitischen Waisenheim, nachdem der Vater an Lungenkebs gestorben war. Er wurde nur 36 Jahre alt. Mittellos blieb die Mutter mit vier Kindern zurück. Zwar fand sie bald eine Stelle als Haushälterin. Doch das Geld reichte nicht, um alle zu ernähren. So schickte sie ihre beiden "großen" Mädchen ins Heim; die jüngeren, Jutta und Jossl, der noch ein Säugling war, behielt sie bei sich.

    In seinem Buch "Zu keinem ein Wort!" lässt der deutsch-niederländische Jugendautor Lutz van Dijk Cilly Levitus-Peiser (heute 77 Jahre alt) ihre Lebensgeschichte in der Ich-Form erzählen. Sie selbst hatte sich immer gewünscht, ihre "Kindheit und Jugend aufzuschreiben", wie sie im Nachwort erklärt. Allein traute sie sich das jedoch nicht zu. Wohl aber mit Hilfe des Jüdischen Museums in Frankfurt, mit dem sie als jüdische Zeitzeugin und Überlebende des NS-Terrors seit vielen Jahren eng zusammenarbeitet. Der mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnete Lutz van Dijk erhielt vom Jüdischen Museum einen Werkvertrag für das Projekt. Basierend auf Interviews, historisch-dokumentarischen Recherchen sowie persönlichen Tagebüchern und Briefen von Cilly Levitus-Peiser entstand so das vorliegende Buch. Es wendet sich speziell an Jugendliche und ist weite Strecken auch aus der Perspektive von Jugendlichen geschrieben: emotional, sprachlich unkompliziert und vor allem sehr anschaulich und konkret an Details orientiert, oft auch in direkter Rede. Besonders anrührend vor diesem Hintergrund: die Kapitel über das Waisenheim mit seiner koscheren Küche, Bar Mizwah-Feiern und Schabbatruhe. Es wurde von Isidor und Rosa Marx geleitet, die für alle Kinder (75 an der Zahl!) "Onkel Isidor" und "Tante Rosa" waren.

    Bei uns im Waisenhaus arbeiteten viele christliche Dienstmädchen. (...) Onkel Isidor und Tante Rosa behandelten sie genauso wie die jüdischen Angestellten. (...) Eine von den Dienstmädchen mochte ich besonders gern, Lisa. Wir redeten nicht viel, aber schauten einander oft an und dann lächelte sie. Ich wusste nicht viel über Christen, außer dass sie irgendwie anders waren als wir. Lisa war die erste Christin, die ich näher kennen lernte. Einmal war meine schwarze Puppe heruntergefallen und kaputtgegangen. Sogar ihr Kleid war zerrissen. Es war schrecklich. Zu allem Unglück verschwand sie kurz darauf ganz. Ich suchte sie überall. Am Sonntagabend lag sie dann plötzlich wieder auf meinem Bett. Sie war repariert und trug obendrein ein neu gehäkeltes Kleid. (...) Auf einmal stand Lisa hinter mir und lächelte schüchtern, ohne ein Wort zu sagen.

    Spätestens nach dem Novemberpogrom war es mit der Geborgenheit im Waisenheim vorbei. Und es stand fest: So schnell wie möglich müssen die Kinder aus Deutschland heraus, um sie vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Für Isidor und Rosa Marx bedeutete das, sich um die Einreisedokumente nach Palästina zu kümmern. Tag und Nacht telefonierten sie mit Haifa und jüdischen Hilfsorganisationen, füllten sie endlose Listen für Kleidung und Bettwäsche, Spielsachen und Bücher aus. Plötzlich und unerwartet die Nachricht aus Holland: Sofort könne eine Gruppe Frankfurter Kinder in holländischen Pflegefamilien aufgenommen werden. Aus Berlin, Hamburg, München waren bereits rettende Kindertransporte, auch nach England, unterwegs. Auch Cilly, inzwischen 15, wurde für die Emigration nach Holland ausgewählt. Nicht allerdings mit Hannah zusammen, sondern mit ihrer jüngeren Schwester Jutta. Das hatte die Mutter mit den Marxens entschieden. Am 22. November 1938 war Abreisetag. Tränen und Umarmungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. Es ging nach Utrecht.

    Eine gewaltige Traurigkeit hatte mich ergriffen und ließ mich nicht mehr los. (...) Am nächsten Morgen wusste ich gar nicht, wo ich war. Erst allmählich wurde mir bewusst, wie weit wir weg waren von daheim und dass Jutta und ich ganz allein waren. So allein. Nach dem Frühstück durfte jeder, der wollte, eine Karte nach Frankfurt schreiben. Ich schrieb: "Liebe Mama! Wir sind gut angekommen in Holland. Die Fahrt war sehr schön...Die Leute hier sind sehr nett. Auch das Essen ist gut. Bitte mach Dir keine Sorgen. Liebe Grüße von Deiner Cilly.

    Cilly sah ihre Mutter nie wieder. Sie wurde 1942 mit dem kleinen Jossl nach Minsk deportiert. Beide kamen dort in den Vernichtungslagern um. Das erfuhr Cilly allerdings erst sehr viel später - Jahrzehnte nach dem Krieg, als die Geschichte des Holocaust wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Bis weit in die 80er Jahre hinein wollte sie nicht wahrhaben, dass ihre Mutter umgebracht worden war - ein Trauma, das sie entscheidend motivierte, ihre Erlebnisse "herauszulassen". Vor allem über die Zeit in Holland, die den größten Teil des Buches umfasst. Unter der Überschrift "Heimweh" schildert Cilly Levitus-Peiser zunächst, wie es ihr und ihrer Schwester in den ersten Wochen und Monaten in der Ferne erging. Dem Aufenthalt im Israelitischen Mädchen-Waisenhaus in Amsterdam folgten harte, von ständiger Angst und Einsamkeit geprägte Jahre, in denen sich Cilly mehr oder weniger allein durchschlagen musste. 1940 erlebte sie den Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande und die schweren Bombardements von Rotterdam. Nach der Kapitulation der Niederlande spürte sie am eigenen Leibe die berüchtigten "Anordnungen" gegen Juden. Zum Beispiel durften sie ab sofort keine öffentlichen Parks, Restaurants, Kinos, Theater, Büchereien mehr besuchen.

    Außerdem durften wir ab sofort keine Straßenbahnen mehr benutzen.

    1942 begannen die Deportationen über das niederländische Lager Westerbork in die deutschen Konzentrationslager in Osteuropa. Cilly, die mittlerweile eine Ausbildung zur Säuglings- und Kinderpflegerin absolviert hatte, gelang es, den Todestransporten zu entkommen. Mit Hilfe gefälschter Papiere tauchte sie unter. Ihr neuer Name lautete Lambertha Kroon. "Zu keinem ein Wort!" hatte ihr jene holländische Lehrerin (eine Nicht-Jüdin) damals eingeimpft, als sie sie in ihr erstes Versteck begleitete. Es war bei einer holländischen Familie in einem kleinen Dorf in Brabant. "Das Anpassen, das Aufgeben der eigenen Identität, aber auch der Wille zum Durchhalten", resümiert Cilly Levitus-Peiser am Ende ihres Buches, habe ihr geholfen, das alles zu überstehen.

    Diesem Buch seien viele Leser gewünscht.

    Kristine von Soden besprach Zu keinem ein Wort! Überleben im Versteck. Die Geschichte der Cilly Levitus-Peiser, aufgezeichnet von Lutz van Dijk. Erschienen ist das Buch bei Elefanten Press im Bertelsmann/Jugendbuch Verlag. Es hat 220 Seiten und kostet 12.90 €.