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Luzide lodernde Lust

Das Opern-Festival in Aix-en-Provence gehört zu den großen europäischen Musikfestspielen. Neben dem traditionellen Fokus auf Mozart gefiel der britische Komponist George Benjamin - mit seiner gefeierten, wenngleich mörderisch-blutigen Opernpremiere.

Von Frieder Reininghaus |
    Es wurde alles Erdenkliche unternommen, um den Erfolg der Uraufführung von "Written on Skin" zu programmieren – von der Verpflichtung brillanter Sänger wie Christopher Purves, Bejun Mehta und Barbara Hannigan, einer prominenten Regisseurin und eines hochleistungsfähigen Orchesters, des Mahler Chamber Orchestra, bis zur Kooperation mit den großen Bühnen in London, Amsterdam, Florenz und Toulouse. Der Dramaturg Martin Crimp hatte, gestützt auf einen Razo des 13. Jahrhunderts, ein Libretto beigesteuert. In ihm hallen Kindheitsmuster der abendländischen Dichtung nach. Mit der Übertragung und Erweiterung der Ballade eines namentlich nicht bekannten Trobadors geht es um eine jener von Begehren, Eifersucht und mörderischer Rache erfüllten Dreiecksgeschichten, mit der zuletzt Salvatore Sciarrino durch die "Tödliche Blume" und quer durch Europa reüssierte.

    Crimp und Benjamin öffnen die Schleuse zum Mittelalter mit einem theatralen Eingangsakt, gewähren dann Einblicke in das Haus eines Protektors, der sich mit der 14-jährigen Agnès eine Trophäe zugelegt hat. Der Land- und Warlord nimmt einen jungen Buchmaler in sein Haus auf, der seinen Ruhm und sein Glück in Wort und Bild festhalten soll. Die Tragödie ist programmiert: Die Jungen finden zueinander. Dass der Chronist auf Geheiß von Agnès die Liebesglut auf die Tierhaut bannt und dem Auftraggeber vor Augen führt, das ist dem Alten dann doch zu viel – er schlachtet den naiven Künstler und lässt seine Frau, lecker zubereitet, das Herz verspeisen. Dazu meint die Sopranistin Barbara Hannigan:

    "Ja, ich spiele die Agnes – und habe mit einer ganzen Palette von Gewalttätigkeiten zu tun, denn da geht es zur Sache. Wir haben einen Fechtmeister, der mit uns arbeitet – und wir trainieren die Aktionen vor jeder Vorstellung wegen der Verletzungsgefahr. Das Stück ist eben am Ende höchst gewaltförmig und ich bin gespannt, was das Publikum davon hält."

    Das Publikum war aus dem Häuschen. Es bekam – fotorealistisch beziehungsweise "filmisch" in zwei Etagen inszeniert – eine zwischen Gegenwart und Mittelalter changierende Geschichte serviert, in der die Lust luzide lodert, die Eifersucht eisig eifert, Tätlichkeiten und Totschlag vollendete Tatsachen schaffen. George Benjamins kunsthandwerklich hochstehende Musik, die Melodieformeln und Spielmannston aus uralten Zeiten aufgreift, steht in der Traditionslinie der moderaten britischen Moderne. Benjamin erweist sich als kompetenter und maßvoll konservativer Nachfolger von Britten, Tippett und Birtwistle. Mit dem hohen Anteil von Altem im Neuen trifft er auf einen Nerv der Zeit und erfüllt offenkundig Sehnsüchte der Geschmacksträgerschicht.

    Dessen Aufnahmebereitschaft überreizte William Christie, indem er mit der gleichfalls stark gealterten Spezialtruppe Les Arts Florissants eine klerikal-bürokratische Tragödie von Marc-Antoine Charpentier und vom Hofe Ludwigs XIV. in den Hof der Archevêché umtopfte. Andreas Homoki beorderte die dem Alten Testament entstammenden Figuren Saul, David und Jonathan in einen mit nordischem Lärchenholz getäfelten Einheitsraum und in optisch erregendes Ikea-Mobiliar. Der Einstand des neuen Züricher Operndirektors auf dem großen internationalen Opernparkett erwies sich als kläglich – die beste Voraussetzung dafür, dass er weiter durchgereicht wird.

    Zu den erfreulichen Petitessen in Aix gehörte die Erinnerung an Maurice Ravels Kammeroper vom Kind und dem Zauberspuk ("L'Enfant et les sortilèges"): Ein junges Team präsentierte im Théâtre du Jeu de Paume die pädagogisch gemünzte Geschichte, in der ein aufsässiger Knabe während eines von der Mutter wwegen Insubordination verhängten Stubenarrests das Mobiliar zertrümmert und die Haustiere quält. Weder der Lehnstuhl noch die chinesische Tasse, die Uhr, die Prinzessin aus dem Bilderbuch oder die Haustiere sind vor seinem rabiaten Zugriff sicher. Doch die Dinge und Lebewesen machen ihm Vorhaltungen und das Tierreich im nächtlichen Garten bekehrt ihn zu Mitleid und Sanftmut – Damien Caille-Perret hat ein wundersam vollgerümpeltes Zimmer für diese Geschichte geschaffen und Anne Autran preiswürdige Kostüme.

    Auf der Domaine Grand Saint Jean, 20 Kilometer westlich von Aix-en-Provence, besann sich das Festival auf seine Funktion als Sommerfrische in gleichsam reinster Form: Andreas Spering dirigierte zum Sonnenuntergang "La finta giardiniera", eine Buffa-Oper des 19-jährigen Mozart, der bei der Betönung der rokokösen Liebesintrige kein Ende finden konnte. Zwei Sängerinnen ragten aus dem wiederum durchweg jungen Ensemble hervor: Layla Claire in der Titelpartie und Sabine Devieilhe als quirlige Serpetta. Sie empfehlen sich für höhere Aufgaben.