Honecker: Was bieten Sie den Studierenden?
Detering: Ich mache ein Seminar über Entwicklungen der deutschen Lyrik, der Poesie nach Paul Celan. Ich werde mit Paul Celan und mit den oft diskutierten und furchtbar reduktionistischen Gegensätzen von engagierter Poesie und reiner Poesie, also politischer und unpolitischer Dichtung, anfangen und versuchen, das bis in die unmittelbare Gegenwartsdichtung hinein zu verlängern und zu fragen, wie sich im Augenblick junge deutsche Dichter mit Zeitgeschichte und geschichtlicher Vergangenheit auseinandersetzen.
Honecker: Ein interessantes Beispiel! Celan hat sich nach den Erlebnissen der Shoa radikal verändert, auch in seinem Werk. Gibt es diese Erfahrung auch nach einer Katastrophe wie dem 11. September in der Literatur?
Detering: Ja, es gibt sie sogar manchmal in einer ganz beklemmenden Nähe zu Celan. Oft gibt es sie auch in direktem Bezug auf ihn. Ich nenne ein Beispiel. Unter den Gedichten, die ich dort mit meinen Studenten analysieren möchte, ist ein langes Gedicht von Thomas Kling, der heute Anfang 40 ist. Dieses Gedicht handelt von den Ereignissen des 11. September. Es verschränkt diese Ereignisse mit Bildern, die an den Rand des Zitats aus Celans Dichtungen über Ausschwitz gehen, und geht dann weiter zurück bis zu Goethes Faust. So entsteht ein ganz merkwürdiges Bezugsnetz von aktuellen amerikanischen Erfahrungen und den europäischen Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Honecker: Von der inhaltlichen Arbeit abgesehen, sind Sie ja so was wie ein Ein-Mann-Kommando, stellvertretend für die Arbeit der Goethe-Institute in der ganzen Welt. Was können Sie als einzelner Forscher, auch für das kulturelle Verständnis, das Sie ja nach Ihrem Lehrauftrag stärken sollen, überhaupt bewirken?
Detering: Ich hoffe nicht, ein Ein-Mann-Kommando zu sein. Ich sehe meine eigene Funktion da ganz klein und bescheiden. Erst einmal möchte ich etwas nicht erzählen, sondern zeigen. Ich möchte zeigen, dass in der deutschen Poesie in einer ungleich differenzierteren Weise von unseren, jetzt auch bedrängenden Zeiterfahrungen geredet wird. Das passiert so leider sehr wenig im transatlantischen politischen Diskurs zur Zeit. Außerdem möchte ich gerne zuhören und sehen, aus welcher Perspektive man von dort auf die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts schaut. Das hat auch einen ganz handfesten Grund und ich hoffe, davon etwas mit nach Hause zu nehmen. Ich werde dort an einer Anthologie über das eigentlich unmögliche Thema 'deutsche Dichtung vom Mittelalter bis in die Postmoderne' arbeiten. Ich glaube, dass ich von dort aus mit Hilfe meiner Kollegen und Studenten eine ganz andere Außenansicht auf diese Geschichte bekommen kann, als ich sie in Deutschland je haben könnte.
Honecker: Das müssen Sie mir erklären. Das ist eine Anthologie über deutsche Dichtung?
Detering: Das sind deutsche Gedichte vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart.
Honecker: Es geht also um einen Zeitraum von 800 Jahren.
Detering: Genau, das werden 800 Jahre Dichtung auf 600 Seiten. Das ist ein unmögliches Unterfangen. Es gibt natürlich Vorläufer, auf die man sich beziehen oder von denen man sich abstoßen kann. Wenn man aber eine solche unmögliche Auswahl unternimmt, stellt sich die Frage, was eigentlich wichtig ist und was heute als gegenwärtige oder als provozierend fremdartige Poesie überhaupt verstanden wird. Was hat noch einen Resonanzboden? Gewöhnlich wird man so etwas nur in seiner eigenen Kultur und Sprache erörtern. Ich habe jetzt die seltene Gelegenheit, das dort mit deutschlernenden oder deutschsprechenden Amerikanern erproben zu können, die von ganz anderen Fragestellungen ausgehen und, von ganz anderen Interessen geleitet, diese Gedichte lesen.
Honecker: Wie wichtig ist die Sprache Deutsch in den USA?
Detering: Ich glaube, für die USA gilt, was für die meisten großen Sprachen, zumindest des Auslands, gilt. Nach allem, was ich von Kollegen gehört habe, geht das Interesse an der deutschen wie auch an anderen kleineren Sprachen zurück. Die Dominanz des Englischen ist ganz überwältigend. Das merkt man auch an den Studentenzahlen. Man muss das aber sehr sorgfältig vom Interesse an Deutschland und deutscher Kultur unterscheiden. Da ist nach meinem Eindruck die Neugier in den letzten 10 bis 20 Jahren nicht sehr geschwunden.
Honecker: Vielen Dank, Herr Professor Detering!
Link: Max Kade Center for contemporary German literature, Washington University, St. Louis, USA.