Donnerstag, 18. April 2024

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Lyrik zwischen Null und Eins
Wer reitet so spät durch Bit und Byte?

"Die Krähe krummt schöner und freier daher", so lautet der Anfang eines Gedichts. Geschrieben hat es kein Dichter, sondern ein Computer, nachdem er sich durch riesige Lyriksammlungen gearbeitet hatte. Moderne Versionen programmierter Reime täuschen sogar menschliche Leser und erregen echte Gefühle.

Von Volkart Wildermuth | 06.01.2019
Goethe in Digitalien: Eine verpixelte Version des berühmten Porträtes des Dichters in der Campagna
Goethe konnte richtig gut dichten. Computeralgorithmen lernen das jetzt auch. (picture alliance / dpa)
Die Krähe krummt schöner und freier daher
dreht ab und gleitet übers Viertel Meer.
[Computergedicht, programmiert von Jack Hopkins]
Eugen Wassiliwizky: "Wie wirken Gedichte auf den Körper und auf das Gehirn des Menschen? Und zwar bewegende Gedichte, emotional starke Gedichte."
Seine strahlenden Rippen,
seine strahlenden Rippen umgurten leer und sehr
Weniger schön als würdevoll zu sehen.
[Computergedicht, programmiert von Jack Hopkins]
Jack Hopinks: "Es gibt hier kein Geheimnis, keine magische Sauce, die ein Mensch einem Gedicht verleiht und die eine Maschine nicht kopieren kann. Es ist egal, wie Kunst entsteht, so lange sie geschätzt wird."
"Wie in Babel in der Bibel lieben People die Piepen
Und die, die dienen, verdienen viel weniger, als sie verdienten
Google mal Babylon! Babel mal Googylon
Bubblegum Goodie Booty Party on, Babylon!"
[Bas Böttcher]
Ich höre gerne Dichtern zu. Hier reimt Poetryslammer Bas Böttcher mit Sprachwitz sein Publikum locker. Die Verse rasen, der Kopf kommt kaum noch hinterher. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat zu einem offenen Salon geladen. Es geht um hohe Kultur und Alltagsdialekte - und um "Code Poetry". Aus dem Gedränge fliehe ich in eine etwas versteckte Ecke. Darin ein Computer. Das Schild darüber preist ihn an als "Automaten-Gedicht-Automat".
Poesie auf Knopfdruck
Forscherin, die anonym bleiben möchte: "Ja also der Gedichtautomat verarbeitet einen Eingabetext und durch Löschen von verschiedenen Wörtern oder durch Neusortierung der Wörter entsteht ein Gedicht."
Dann probiere ich das jetzt mal aus, ich werde hier jetzt einen Text von mir eingeben. Das ist ein Text über fettleibige Kinder, den ich mal in einem Beitrag verwendet habe. Mal sehen, wie der sich jetzt als Gedicht macht. Ok. Es denkt.
"Steig Volkart, Gründe zwei steigt extrem 124 weltweit dick, Wildermuth."
Mit dem Ende bin ich jetzt nicht ganz so einverstanden. Der Bauch kommt zwar so langsam, aber noch bin ich schlank. Geben wir Goethe eine Chance: Über allen Gipfeln ist Ruh.
"Warte Ruh ist Gipfeln Walde spürest, schweigen bald Vögelein."
Ja das ist nicht so schlecht. Aber wenn man ehrlich ist, so gut ist es auch nicht. Und das Rohmaterial für die Maschine war immerhin Goethe, wenn auch nur ein paar Zeilen. Vielleicht ist genau das das Problem. Das Berliner Programm ist eher eine Spielerei.
Neuronale Netzwerke lernen zu dichten
Es gibt aber auch ganz ernsthafte Versuche, den Computern das Reimen beizubringen.
"Gedichte habe ich immer geliebt. Meine Mutter war Schriftstellerin, bei uns zu Hause gab es viel Poesie."
Jack Hopkins, Informatiker, Spezialist für Cybersicherheit.
"Nur meine eigenen Reime waren furchtbar, ich hatte einfach kein Talent. Aber es hat mich nicht losgelassen, ich wollte immer Gedichte schreiben können."
Auf direktem Wege konnte Jack Hopkins dieses Ziel nicht erreichen. Aber auch wenn seine Reime holpern, beim Programmieren macht ihm so leicht keiner etwas vor. Und so suchte er seinen ganz eigenen Weg zur Poesie. Zusammen mit einem Kollegen hat er einen Computer gefüttert mit englischer Lyrik des 20. Jahrhunderts: sieben Millionen Wörter! In einem ersten Schritt hat ein neuronales Netzwerk gelernt, welche Wörter häufig aufeinanderfolgen. Wichtig, um einigermaßen sinnvolle Sätze zu bilden. Nebenbei, diese Strategie der Computerpoesie wurde erstmals 1959 von Theo Lutz an der Hochschule Esslingen angewandt.
Ein Turm ist wütend.
Jeder Tisch ist frei.
Ein Fremder ist leise und Nicht
Jedes Schloss ist frei.
[Computergedicht, programmiert von Theo Lutz]
Kafka-Worte, neu sortiert. Heute ist die Computerwissenschaft weiter. Ihre Programme analysieren nicht nur Wortschatz, sondern auch Satzstrukturen. Außerdem ließ Jack Hopkins ein zweites neuronales Netz lyrische Stilmittel extrahieren. Nach der Analyse legte er den Hebel um. Statt Gedichte zu analysieren, begann der Computer selbst zu dichten.
"Sie können zum Beispiel sagen, dass Sie ein Gedicht über den Winter haben möchten. Dann arbeitet das System mit Wörtern wie kalt, Frost und Schneemann. Dann legen sie den Rhythmus oder das Reimschema fest. Wenn sie damit herumspielen, erhalten Sie Verse, die so klingen, als hätte sie ein leibhaftiger Dichter geschrieben. Das zum Beispiel hat mir gefallen:
Grell blitzt der Wind zum Sturm bereit
durch Sommersonne, Dunst und mürben Stein
Brutale Landschaft tickt in dieser Zeit
Herab vom Hügel in das ganze Sein.
[Computergedicht, programmiert von Jack Hopkins]
Der Computer hat eine Sprache genutzt, die ich aufregend und interessant finde. Beim ersten Lesen hat es bei mir durchaus ein wenig Gefühl ausgelöst."
Dramatische Naturbilder und dann die Irritation: Brutale Landschaft tickt in dieser Zeit. Klingt anregend. Jack Hopkins hat siebzig Testleser gebeten, Gedichte seines Programms und solche von menschlichen Dichtern zu bewerten – natürlich ohne zu wissen, welche Verse von wem stammen! Ergebnis: Menschliche Reime sind verständlicher, dafür dichtet der Computer stilistisch exakter.
"Es ist lustig, das Gedicht, das die Leute am meisten mochten, kommt aus dem Computer."
Erfrorene Wasser sind jetzt tot
Schwarz wie der Regen, der den Himmel friert
Die klamme Ode unserer Herrin Angst
befreit den Schrei gebiert.
[Computergedicht, programmiert von Jack Hopkins]
Mensch oder Maschine - das ist hier die Frage
So, ich gehe jetzt mal zur Seite: botpoet.com. Da eröffnet sich dann ein Fenster, ein Fakir stellt mir die Frage: Wurde dieses Gedicht von einem Menschen oder einem Computer geschrieben? Da ist auch gleich eines zur Auswahl. "Rain is a star some birds spoke out for you about the tale of sages". Ok, es geht um Regen, Vögel, weise Menschen. Klingt aber irgendwie erst mal etwas durcheinander. Also, ich klick da unten an: Bot. Mal sehen. Ok, es hat gestimmt, es war von einem Computerprogramm, das Ray Kurzweil geschrieben hat. Ich kann dann ein weiteres Gedicht ausprobieren. Vegetable swallow, also die Gemüse-Schwalbe: "Two smiles meet towards the child wheel of my zeal". Also, das klingt für mich auch eher nach Computer. Mal sehen: Da lag ich falsch, das war von Tristan Tzara - ein menschlicher Dichter.
"Manche Computergedichte werden von 65 Prozent der Besucher unserer Webseite für menschliche Werke gehalten. Es ist schwer, sie auseinanderzuhalten."
Und genau das will der New Yorker Literaturwissenschaftler und Autor Oscar Schwarz mit seiner Internetseite "Botpoet" belegen. Die Mehrheit der Leser glaubt hinter den besten programmierten Verse eine menschliche Stimme wahrzunehmen. Diese Computergedichte sollte man dann auch als eigenständige Literatur betrachten, meint Oscar Schwartz. Seine Web-Umfrage ergab aber noch ein zweites, überraschendes Ergebnis.
Rot flattert der Grund für hübsche Flaggen
Und Bänder
Bänder von Flaggen
[Red Faces, Gertrude Stein]
65 Prozent der Besucher der "Botpoet"-Seite klicken bei diesem Gedicht auf "Computer". Aber es stammt von Gertrude Stein, einer durch und durch menschlichen Dichterin, die aber nach Meinung der Massen klingt wie ein Algorithmus. Vielleicht sollten Gedichte einfach nicht per Umfrage bewertet werden.
Mann: "Ich glaube, Poesie spielt eine viel zu geringe Rolle in Deutschland, mittlerweile auch bei mir selbst."
Frau: "Ich kenne ein Gedicht, das ich sehr gerne mag und das ist eigentlich nur ein Satz und das heißt: 'Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.' Und das ist von Hilde Domin und das bedeutet für mich, sich ein bisschen auch auf das Universum verlassen zu können, sage ich jetzt mal. Einfach Dinge auszuprobieren und drauflos zu arbeiten oder zu leben."
Jetzt geht es hier ja um das Gedicht und das Gehirn auch und um die Physiologie, was das auslöst. Ist das für Sie ein zu technischer Umgang mit Gedichten?

Frau: "Ich glaube nicht, ich bin sehr gespannt, wie man das tatsächlich untersuchen kann. Das weiß ich nicht. Aber Fakt ist ja, dass lyrische Sprache vor allem in Verbindung mit Musik in jedem Fall Auswirkungen auf den Körper hat. Und ich denke, das zu untersuchen ist ein interessanter Ansatz."
Ob Verse von Computern oder Poeten gedichtet wurden, das lässt sich gar nicht so einfach feststellen. Das belegt inzwischen eine ganze Reihe von Experimenten. Wer auch immer der Urheber war, die besten Verse lösen Gefühle aus.
"Wir haben ein statistisches Maß dafür entwickelt, wie melodisch ein Gedicht ist."
"Ich bin Literaturwissenschaftler und Philosoph von Hause aus. Mich hat aber immer Präzision interessiert. Ich habe immer wissen wollen, was die Gedichte, die ich gerne mag und ich gerne im Detail analysiert habe, nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen bewirken."
Ein ganzes Buch hat Winfried Menninghaus über 13 Verse von Hölderlin geschrieben. Es enthält seine subjektive Sicht. Doch jetzt will der Direktor am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik Objektivität – und die soll der Computer liefern. Ganz ähnlich wie bei Jack Hopkins oder Oscar Schwarz müssen sich die Programme in Frankfurt durch Gedichtmassen arbeiten.
Zur Verdeutlichung erklingen auf dem Sprach-Salon in Berlin vertonte Gedichte. Jede Silbe wird von einem Vokal geprägt und der kann dunkel, tief, oder hell, hoch sein. Die Tonhöhe wechselt im Lauf der Verse und Strophen und am Ende zieht das Programm Bilanz.
"Insbesondere haben wir ein statistisches Maß dafür entwickelt, wie melodisch ein Gedicht ist."
Das gelingt im Übrigen bei jeder Art von Text oder Musik. Erstes Ergebnis: Am allermelodischsten sind Popsongs - für die Musikindustrie sicher keine Überraschung. Dagegen holpert die spontane Alltagssprache extrem unmusikalisch daher. Gedichte liegen in der Mitte zwischen Sachtext und Musik. Computergedichte wurden bislang noch nicht bewertet. Aber da sie vor allem die Oberfläche, den Klang menschlicher Dichter imitieren, kann man wohl die These wagen: Auch sie erzeugen ein hohes Melodiemaß irgendwo zwischen Text und Musik. Mehr als nur ein Fun Fact meint Winfried Menninghaus.
"Unser Melodiemaß, das ist eine Zahl, die sagt voraus, als wie schön das Gedicht und als wie bewegend und als wie melodisch es empfunden wird. Und das ist auch noch mein ganz starker Hinweis darauf, dass wir wirklich buchstäblich Musik hören, nicht nur im Takt, nicht nur in der Schlusswendung, sondern über den ganzen Verlauf in Form bestimmter Muster von Tonhöhen buchstäblich. Das halte ich bis heute für unsere eigentlich stärkste Einsicht. Damit zeigen wir: Ja, die Lyrik ist die Verbindung von Musik und Sprache."
Können Sie den Wert nutzen, um den Gewinner eines Poetry-Slams vorher zu sagen?
"Theoretisch ja. Da wäre ich schon optimistisch, dass es zumindest eine Korrelation gibt, zwischen unserem Maß und dem Gewinner."
Was digitaler Poesie abgeht
Sein Licht erfüllt. So sanft folgt er dem Weg
wechselt von Dunkel hin auf strahlend Steg
und setzt sie auf der Trauer Pfad, den sie so lang gemieden
auf dem doch alle ihre Freunde schon verschieden.
[Deap-speare, programmiert von Jey Han Lau]
Das Programm Deep-speare versucht, die Sonette von William Shakespeare zu imitieren. Rhythmus und Reim klingen für mich akzeptabel. Beim Melodiemaß von Winfried Menninghaus sollten sie hohe Werte erzielen. Und trotzdem: Hinter dem angenehmen Fluss der Silben finden sich keine immer weiter gestaffelten Bedeutungsebenen, die das Wiederlesen des echten Shakespeare so lohnend machen. Der Dichter Rishi Dastidar reimt deshalb:
Neuronale Netze ergreifen nun den Stift
Warum nur? fragen wir verblüfft.
[Rishi Dastidar]
Für Dastidar präsentieren die Computergedichte reine Oberfläche, es fehlt ihnen die Tiefe. Fragen wir einen anderen Poeten, einen, der sich durchaus auch von der Hirnforschung inspirieren lässt, Durs Grünbein. Aber auch er sagt: Die Gedichtforscher und die Gedichtprogrammierer verfehlen derzeit noch etwas Wesentliches: Poesie begeistert nicht nur, weil sie schön klingt.
"Ich zum Beispiel merke, dass mich Gedichte anziehen, die stark mit Paradoxa einhergehen. Mich verblüffen, wo Dinge verknüpft werden, die vorher noch nie so verknüpft wurden, wo es eben gerade nicht sozusagen das wohl Gelungene, eine vollendete Form, wie wir sie auch kennen, ein sehr schön gestaltetes Sonett. Sondern tatsächlich innerhalb irgendeiner Zeile etwas absolut Irritierendes und Verstörendes."
als hätten sich alle buchstaben
auf einmal aus der zeitung gelöst
und stünden als schwarm in der luft;
der stein von rosetta, ohne den stein.
[versuch über mücken, Jan Wagner]
Computer erkennen Verknüpfungen nicht, sie sehen nur statistische Strudel in Buchstabensümpfen. Aber die Algorithmen lernen dazu: Der Computerpoet Oscar Schwarz kann sich vorstellen, dass sich die Programme letzten Endes in die Welt und sogar in die menschlichen Gefühle hineinrechnen werden.
"Wenn Programme einmal Gefühle verstehen, dann ganz anders als wir Menschen. Sie werden statistische Verfahren nutzen. Es gibt heute unglaubliche Mengen von Daten. Die Computer können über Assoziationen lernen, was für Menschen das Wort 'traurig' bedeutet oder 'glücklich'."
Gute Gedichte machen Gänsehaut
Gefühle sind schwierig, für Computer, für Dichter, für Menschen. Die Lyrikliebhaber vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik wollen genau verstehen, wie Poesie Gefühle auslöst, und überfluten ihre Versuchspersonen geradezu mit Versen.
Hautschweiß, Herzrate, die Lach- und die Stirnfaltenmuskulatur, all das überwacht Eugen Wassiliwizky bei Jamben und Trochäen, von Reim zu Reim. Und erstmals richtet der Hirnforscher und Psychologe auch eine Kamera auf die Haut am Unterarm.
"Gänsehaut ist eine unglaublich starke Reaktion. Das ist eine physiologische Reaktion, die hier in Gang gesetzt wird vom Körper, die eigentlich hier nichts verloren hat in diesem Kontext. Wahrscheinlich hat das was mit Anspannung und Entspannung zu tun, auf jeden Fall ist klar: Es ist eine unglaublich starke physiologische Reaktion, die nur bei Gipfelpunkten von Emotionserleben gezeigt wird."
Die Überraschung: Auch Gedichte machen Gänsehaut! Durchschnittlich einmal pro Minute und zwar bei unterschiedlichen Personen jeweils an ähnlichen Stellen.
"Und der absolute Chiller war "Die Bürgschaft" von Friedrich Schiller. Das sehen wir an den objektiven Daten, die wir gemessen haben."
Dichter Durs Grünbein kann den wissenschaftlich exakten Befund aus Frankfurt kaum fassen:
"Was sind das für Leute! Deren Lieblingsgedicht die Bürgschaft ist, mein Gott Mich würden wahrscheinlich Passagen der Bürgschaft so frustrieren, dass man bei mir nur noch Kriechströme misst."
Doch irgendetwas muss "Die Bürgschaft" haben.
Das Geheimnis der "Bürgschaft"
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:
Ihn schlugen die Häscher in Bande
"Zum einen ist das metrisch geschrieben. Das heißt, wir haben ein politisches Versmaß. Was durchgehalten wird, was sehr wichtig ist für die Etablierung von solchen Peak-Momenten, die mit Gänsehaut begleitet sind."
Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!"
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
"Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
"Das sollst du am Kreuze bereuen."
"Zum anderen haben wir auch sehr viele Situationen, in denen Leute miteinander reden, wir haben die Darstellung wörtlicher Rede. Also Kommunikationssituation, der soziale Aspekt ist sehr, sehr wichtig beim Bewegt sein."
Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor,
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den Freund empor
"Und drittens: Wir haben einen Plot. Also wir haben eine Erzählung und die Erzählung selbst lenkt auch schon sehr viel an Erwartungshaltung und Entspannung, die extrem wichtig sind für die Entstehung von Gänsehaut."
Da zertrennt er gewaltig den dichter Chor:
»Mich, Henker«, ruft er, »erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!«
[Die Bürgschaft, Friedrich Schiller]
Emotionale Verse aktivieren das Belohnungssystem
Winfried Menninghaus: "Das Lesen der Literatur, das man in der Regel als hochkulturelles Spätprodukt der menschlichen Evolution betrachtet, reicht das hinab in die Lustempfindungen unserer tiefer sitzenden Gehirnareale?"
Eugen Wassiliwizky: "Und siehe da, zu den Momenten, wenn die Leute Gänsehaut haben, ist auch das Belohnungszentrum aktiv. Und dieses Belohnungszentrum ist stark vernetzt mit den Basalganglien und es sind Strukturen, die auch sehr stark in die Verarbeitung von Rhythmik involviert sind. Das heißt, wir haben hier eine Überschneidung von der Wirkung des poetischen Versmaßes und dem Erleben von Belohnung."
Man könnte ja sagen, Dichter wissen schon ganz genau, welche Knöpfe Sie in unserem evolutionären Gehirn drücken müssen.
Winfried Menninghaus: "Das ist ihre ganz besondere Expertise. Sie sind natürlich Experten für Emotionsregulation für Emotionsauslösung. Sie wissen, welche Trigger es braucht, aber sie wissen vor allen Dingen auch, wie man der Sprache ein besonderes Extra geben kann."
Wenn die Felder sich verdunkeln,
fühl ich, wird mein Auge heller;
schon versucht ein Stern zu funkeln,
und die Grillen wispern schneller.
Jeder Laut wird bilderreicher,
das Gewohnte sonderbarer,
hinterm Wald der Himmel bleicher,
jeder Wipfel hebt sich klarer.
Und du merkst es nicht im Schreiten,
wie das Licht verhundertfältigt
sich entringt den Dunkelheiten.
Plötzlich stehst du überwältigt.
[Manche Nacht, Richard Dehmel]
Jack Hopkins: Ich würde sagen, die Zahl der wirklich herausragenden Gedichte ist ein verschwindender Bruchteil aller Reime, die je geschrieben wurden. Das Gleiche gilt für Computer-Poesie. Selbst wenn die meisten schrecklich sind, kann es eines unter tausend geben, das wirklich, wirklich gut ist, das die Leute kreativ finden.
Goethe, Computer und die BVG
Forscherin: "Mein Lieblingsgedicht, ich kenn nicht ganz so viele muss ich sagen aber Willkommen und Abschied von Goethe ist mir stark im Gedächtnis geblieben."
Dann holen Sie es doch mal raus aus dem Gedächtnis!
"Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde
Es war getan fast eh gedacht
der Abend wiegte schon die Erde und in den Bergen hing die Nacht."
[Willkommen und Abschied, Johann Wolfgang von Goethe]
Sehr schön erinnert mich ein bisschen an die BVG-Werbung hier in Berlin, die haben das zitiert.
Forscherin:: "Tatsächlich, das wusste ich nicht."
Ein junger Mann stürmt in die U-Bahn und mit diesen Zeilen erobert er das Herz einer jungen Frau.
Forscherin: "Klappt heute immer noch."
Für Reklame kommen Reime heute schon aus dem Computer: Der Haiku-Bot der "New York Times" suchte in Artikeln gezielt nach den typischen Silbenfolgen der japanischen Gedichtform. Und fand das hier:
Es ist wirklich schwer
schlechte Nachrichten zu melden
ohne zu weinen
oder das:
Ich fühlte mich so
als sähe ich ihn selbst sein
Gewissen graben
Die Ergebnisse konnte man sich aufs Mobiltelefon schicken lassen – als lyrische Appetithäppchen. Die Zeitung scheint die Macht der Poesie allerdings überschätzt zu haben. Der Service wurde Ende 2017 eingestellt. In anderen Branchen sind automatisierte Texte aber gerade dabei, aus den Startlöchern herauszuschießen.
Von der Datenbank zur Prosa
"Zum Beispiel der Finanzbereich. Das heißt, der Börsenbericht und vielleicht nicht nur der Börsenbericht einmal am Tag, sondern ein Echtzeit Börsenbericht. In dem Moment, wo ein Mensch eine Website betritt, wird der Text live generiert."
Der Computerlinguist Sebastian Golly ist beim Berliner Startup retresco Leiter Textgenerierung. Seine Spezialität ist es, Datenbanken in Prosa umzusetzen.
Sebastian Golly: "Fußball Spielberichte, die lassen sich gut automatisieren."
Jetzt ist ja beim Fußballspiel der Fußball Reporter klassisch so ganz emotionaler Reporter, der so richtig mitgeht mit dem Spiel. Was können sie tatsächlich transportieren davon?
Sebastian Golly: "Was wir transportieren können, ist erst einmal inhaltlich alles, was sich in Daten widerspiegelt. Und wir können versuchen, diese Aussagen möglichst emotional zu formulieren. Also wir müssen nicht nur sagen: Der Spieler erzielte in der 63. Minute ein Tor. Sondern wir können durchaus sagen, wenn es die Daten hergeben, der hämmerte den Ball zwischen die Pfosten. Das heißt, da können wir eine gewisse Emotionalität reinbringen."
Wäre das für ihre Texte auch von Interesse, um sozusagen ihre Fußballberichte noch emotionaler zu machen? Wenn sie da sozusagen ein Shakespearemodul noch mit reinklicken?
Sebastian Golly:"Ja, interessante Vorstellung. Fußballberichte sowie Shakespeare sie geschrieben hätte. Das vielleicht nicht unbedingt. Das entspricht, glaube ich, auch nicht unbedingt der Lesererwartung. Aber wir müssen auch ganz klar objektiv bleiben und das wichtigste Kriterium ist, dass wir keine inhaltlich falschen Aussagen treffen oder Aussagen, die sich aus den Daten gar nicht ableiten lassen. Dann lieber ein Text, der sich ein bisschen weniger emotional und angenehm liest, der aber einfach den Fakten entspricht."
Wo sind die Beine von Schulze?
Wem gehört denn das Knie?
Wirr wie lebendige Sulze
mengt sich die Anatomie.
Hat sich der Schiedsrichter bemeistert,
lange parteilos zu sein,
aber nun ruft er begeistert:
"Schulze, stell ihm ein Bein!"
[Fußball, Joachim Ringelnatz]
Das Ende der Kreativität?
"Es gibt heute quasi Manufakturen, wo Leute Romantikkitsch für Geld schreiben. Ich könnte mir vorstellen, dass das komplett automatisiert wird."
Karmel Allison programmiert im Silicon Valley lernende Algorithmen. In Ihrer Freizeit arbeitet sie aber auch an Lyrikprogrammen. Und für die sieht sie auch praktische Anwendungen.
"Die Programme könnten zu einem Werkzeug auch für Gebrauchslyrik werden. Wenn ich ein Gefühl ausdrücken will, dann nutze ich so ein Programm. Es hilft mir auszudrücken, was ich ausdrücken will."
Am Ende entscheidet hier der Mensch, welche Reime er verwenden will. Deshalb glaubt Karmel Allison auch nicht, dass Computerlyrik eine Gefahr für die Kreativität darstellt. Der Fotoapparat hat schließlich auch nicht das Ende der Malerei eingeläutet.
"Ein erfreulicher Aspekt der Computer Gedichte ist, dass sie Leser ganz anders herausfordern als menschliche Gedichte. Bei Poesie geht es meist um die Frage: Was will der Autor damit sagen? Bei Computergedichten ist klar: Alle Bedeutung, die du entdeckst, hast du – zumindest bis zu einem gewissen Grad - selbst hineingelegt."
Fisch los!
Du magst die langen schwarzen
Häuser dort, wo die Äste sich wiegen
vor Euch Smaragd-
Welt im Wasser aber
ihr Schatten dort wie glitzernde
Augen scheint nah.
[Deep Gimble II, programmiert von Karmel Allison]
Als Jack Hopkins, der Programmierer ohne lyrisches Talent, mit dem Programmieren von Versen begann, hat er die ersten Gedichte an seine Freundin geschickt. So wollte er seine romantische Seite zeigen.
"Die Gedichte haben ihr gefallen, bis ich ihr gestand, woher sie kamen. Jetzt würde sie Gedichten von mir misstrauen. Aber sie unterstützt mich und mag meinen Ansatz. Trotzdem nimmt die Automatisierung natürlich etwas Romantik aus romantischen Gedichten."
Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinnen, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich, Dir, ich Dir, Du mir, ---- wir?
Das gehört beiläufig nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Lass sie sagen, sie wissen nicht wie der Kirchturm steht. Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.

Anna Blume, Anna, A---N---N---A!
Ich träufle Deinen Namen,
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es Anna, weißt Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen,
Und Du, Du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten, wie von vorne:
A------N----N-----A
Rinderlag träufelt STREICHELN über meinen Rücken,
Anna Blume,
Du tropfes Tier,
Ich -------liebe-------Dir!"
[Anna Blume, Kurt Schwitters]