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Lyrische Bearbeitungen zu Wechselfällen der Geschichte

Seit 1999 erscheint die Tschechische Bibliothek in der Deutschen Verlags-Anstalt in München. Band 33 der Reihe ist eine Anthologie tschechischer Lyrik der vergangenen Jahrzehnte, von den renommierten Bohemisten Urs Heftrich und Michael Spirit unter dem einem Gedicht von Vladimir Holan entliehenen Titel "Höhlen tief im Wörterbuch" herausgegeben. 230 Texte von fast 80 Dichtern enthält der Band.

Von Brigitte van Kann | 21.02.2007
    Es gibt Projekte, die sehr deutlich daran erinnern, dass das gemeinsame Haus Europa nicht nur Autosalons und profitable Ladenpassagen beherbergt, sondern auch Wohnstatt von Sprachen und Literaturen ist. Ein solches Projekt ist die viel zu wenig beachtete Tschechische Bibliothek. Seit 1999 erscheint sie in der Deutschen Verlags-Anstalt in München, immerhin unter der Schirmherrschaft der Präsidenten der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland und gefördert von der Robert Bosch Stiftung: in jedem Bücherfrühling und jedem Bücherherbst jeweils zwei Bände, die bedeutende tschechische Autoren in deutscher Übersetzung vorstellen. Band 33 der Reihe ist eine Anthologie tschechischer Lyrik der letzten Jahrzehnte, von den renommierten Bohemisten Urs Heftrich und Michael Spirit unter dem schönen, einem Gedicht von Vladimir Holan entliehenen Titel "Höhlen tief im Wörterbuch" herausgegeben. 230 Texte von fast 80 Dichtern enthält der Band, der trotz seiner 445 Seiten noch in die Jackentasche passt und sich damit als Reisebegleiter empfiehlt.

    Heftrich: "Was wir versucht haben mit dem Band ist auch ein Abbild der tschechischen Geschichte im 20. Jahrhundert mit den beiden großen Katastrophen Nationalsozialismus und Stalinismus zu liefern. Und so sind natürlich viele Texte drin, die einen politischen Subtext haben oder allein dadurch politisch sind, dass sie nicht politisch sein wollten, sich dem verweigert haben."

    In sechs Zeitzonen, wenn man so will, haben die Herausgeber die tschechische Lyrik von 1928 bis heute eingeteilt. Wie sehr die Wechselfälle der Geschichte, die deutsche Besatzung und ab 1948 das kommunistische Regime Dichter und Dichtung des kleinen Landes bedrohten, aber auch zur poetischen Selbstbehauptung herausforderten, macht das eher ungewöhnliche Editionsprinzip deutlich: Nicht das Jahr des Erscheinens bestimmt die Chronologie, sondern das Jahr der Entstehung eines Texts.

    "Es war dezidiert unser Bestreben, ein Bild der Literatur zu zeichnen, wie sie tatsächlich existiert hat, unabhängig von der Wahrnehmung durch das Ausland und natürlich auch einen Großteil des heimischen Publikums, um deutlich zu machen, dass oft gerade in den finstersten Jahren zwischen Stalins Tod und dem Tauwetter unglaublich viel entstanden ist, das ein sehr hohes Niveau hatte und, das ist typisch für die tschechische Literatur, erst Jahrzehnte später gedruckt werden konnte."

    "Ja einst gefriert sogar der Lethefluß
    wer zweimal stirbt wird ewig leben
    dann überqueren sie die Bucht zu Fuß
    die Dichter die man lebenslang verbot

    Die Schwäne ziehen hoch vor ihnen her
    am Strand wiehert ein Pferd wie schwarzer Wind
    im Fluss das Wasser des Vergessens schwer
    und abgrundtief gefriert bis an den Grund

    Jan Skácel: Landschaft mit einem schwarzen Pferd und dem Fluss des Vergessens, geschrieben 1988/89"

    Die Geschichte der tschechischen Dichtung ist, wie Urs Heftrich in seinem kundigen Nachwort ausführt, in den zentralen Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine blutige, verzweiflungsvolle gewesen: Die deutsche Besatzung ab 1938 bedeutete für viele der in dieser Anthologie versammelten Dichter Tod, Gefängnis, Zwangsarbeit, Untergrund oder Exil. Marginal oder zweitrangig wurde die Dichtung dadurch nicht, im Gegenteil.

    "Ich würde auf jeden Fall davon ausgehen, dass die Lyrik eine sehr wichtige Bedeutung hatte, weil sie einer der Bereiche war, wo man sein Publikum erreichen und den Zensor leichter austricksen konnte als mit einem Prosatext oder Drama, weil Lyrik per se als etwas schwer zu Verstehendes, Hermetisches gilt und man damit natürlich Möglichkeiten hat, Ambivalenzen in einen Text einzubauen, die das Publikum versteht, aber der Zensor vielleicht nicht, und die harmlos wirken können, es dann aber faktisch eben nicht sind."

    So schnellen im so genannten Protektorat Böhmen und Mähren die Auflagenzahlen für Gedichtbände in die Höhe. Wurden vor 1938 rund 1000 Exemplare pro Band gedruckt, sind es nun bis zu 20-mal mehr. Nicht weniger beeindruckend: Anzahl und Qualität der Texte, die nicht erscheinen können. Erst nach Kriegsende erreicht Jiri Weils Totenklage für die Ermordeten, ein Zyklus von Prosagedichten mit dem Titel "Farben", die Leser, ebenso wie Josef Capeks Gedicht "Vor der großen Reise", das er im KZ schrieb. Angesichts des drohenden Transports in den Tod findet der Dichter ausgerechnet Trost bei einem deutschen Dichter, bei Novalis, der die Frage nach dem Wohin mit "Immer nach Hause" beantwortet hatte.

    "Vor der großen Reise

    Schwere Tage, schwere Zeit,
    keinem ist die Wahl gegeben.
    Letzte Tage, Dunkelheit,
    bringt ihr Tod oder das Leben?

    Was nur wird das Fahrtziel sein –
    Todesrachen, Neubeginnen?
    Tausend gehn, nicht du allein ...
    Wirst du, wirst du nicht entrinnen?

    Dann der große Reisetag
    – lang hast du ihn abgesehen:
    Lebensernte, Schnitterschlag –
    – stets wirst du nach Hause gehen!"

    Die Jahre unter kommunistischer Herrschaft bringen den Überlebenden neue Unfreiheit und Publikationsverbote. Große Dichter wie Vladimir Holan schreiben für die Schublade und geraten an den Rand der Existenz. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 geht eine weitere Dichtergeneration ins Exil oder in den Untergrund. Viele tschechische Dichter halten sich als Taxifahrer und Nachtwächter über Wasser und ignorieren das immer zahnloser werdende Regime, so sehr, dass sie es nicht einmal ihrer Gegnerschaft für würdig befinden.

    Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vereinigen sich die Ströme der tschechischen Lyrik, der offizielle, der des Untergrunds und der des Exils "in einem gewaltigen Strudel", wie Urs Heftrich im Nachwort schreibt. Alle Möglichkeiten sind wieder offen, und sie werden genutzt. Ein Dichter wie Pavel Srut mixt in seiner "Familie Novák" munter Metaphysik mit Alltagsbanalität und findet launige Perspektiven für ewig-alte Konstellationen:

    "Als völliger glatzkopf
    schaut aus unendlicher höhe
    Gott in das meer
    wie in einen teller mit suppe

    Und unten
    unten
    am tisch
    unser papa

    Er schaut in die suppe
    wie in ein Meer

    Als völliger glatzkopf
    reißt in unendlicher höhe
    den winden zum spiel
    Gott sich ein haar aus

    Und unten
    unten
    unten
    über dem teller
    unser papa

    Fällt das haar in die suppe
    ist der Messias da"

    "Was man sicher sagen kann – und das ist nicht nur für die tschechische Literatur typisch – dass slawische Lyriker insgesamt weniger ein Problem damit haben in Reimen und strenger Form zu dichten, auch mitten im 20. Jahrhundert, und sich deswegen nicht in irgendeiner Form als konservativ zu empfinden oder als altmodisch. Wir haben bei der Auswahl berücksichtigt, dass Metrum, Rhythmus und Reim möglichst genau abgebildet werden in der Übersetzung, das heißt, der Versuch, tatsächlich auch die formale Seite eines lyrischen Gedichts zugänglich zu machen. Sonst läuft es sehr leicht auf eine Art lyrischer Inhaltsangabe hinaus, wo, wie Mandelstam sagt, die Poesie nicht genächtigt hat und die Bettlaken nicht zerknittert sind. Das finde ich ein schönes Bild."

    In den "Höhlen tief im Wörterbuch" hat sie auf jeden Fall ihre nächtlichen Spuren hinterlassen. Die hohe Qualität der Übersetzungen macht aus dieser Anthologie tschechischer Lyrik einen veritablen Gedichtband.