Dienstag, 21. Mai 2024

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Lyrische Visite oder Das nächste Gedicht, bitte!

Jakob Stephan schrieb ein Buch "Vom Zustand unserer Dichtkunst". Das klingt nach einem Befund, und so ist das auch gemeint. Stephan wird uns vom Verlag als ein Literaturwissenschaftler und Mediziner im Ruhestand vorgestellt. So hieß auch seine Kolumne in der "Neuen Rundschau" ganz passend "Lyrische Visiten". Diese Beiträge hat Stephan jetzt in Buchform herausgegeben. Sein Bild im Verlagsprospekt kommt einem bekannt vor: Ist man dem nicht schon mal begegnet? Ja: er ist's: Gottfried Benn, mit Bart verfremdet. Und Jakob Stephan, das ist auch nur leicht verfremdet und deutet - bald ganz unmißverständlich auf Steffen Jacobs, den munteren Lyrikdebütanten von 1996. Was sagt Jakob Stephan, der alte Fuchs, zu Steffen Jacobs, dem jungen Spunt, mit nicht eben astreinem Superlativ? "Man wird" sein Buch "als das vielversprechendste Lyrik-Debüt der vergangenen literarischen Saison bezeichnen dürfen - vielleicht, weil es das einzige war." Und er setzt ahnungsvoll hinzu: "Ein Verblassen dieses Dichters ist einstweilen nicht zu befürchten." Wie recht der Lyrikdoktor hatte. Ein Jahr später erschien schon Jacobs' zweiter Band "Geschulte Monade" Darin werden dieses Buch und die Benn-Camouflage schon angekündigt: "Doppelleben", heißt es mit einem Zwinkern hin zu Benns autobiographischem Essay dieses Titels, "Doppelleben: heißt das nicht auch doppelt leben?" Jedenfalls hat sich Steffen Jacobs dieser Lust für eine gute Weile überlassen und kann sich die Beteuerung gern leisten: "will ich nicht Jakob Stephan heissen.

Alexander von Bormann | 25.04.2000
    Gemäß der Rolle des "Lyrikdoktors", des Facharztes für Prosodie und Tropik, sind prinzipiell alle Patienten gleich, was auch heißt, daß er jeden Respekt vor etablierter Größe vermissen läßt und munter auf den Putz haut. Der bröckelt denn auch ganz schön, war eben meist viel bröseliger, als man es gemeinhin annahm. Diese "Lyrischen Visiten" sind äußerst erfrischend, auch für das eigene Urteil. Die Maske des alten Arztes ist gut gewählt. Ironisch abgeklärt, kann der sich auch mal moderate Töne leisten, die genauer treffen als jede Frontalkritik. Sarah Kirsch z.B. wird dafür gelobt, daß sie sich an die alte Bauernregel halte: "Niemals mehr als ein Tier pro Zeile. Die geachtete Kreatur weiß es zu danken. Katzen, Hasen, Algen, Schwämme: Schöner Gruß nach Tielenhemme." - So wird auch die neuere Sonettproduktion nicht mit ideologiekritischem Geschütz bedacht, sondern vorgemacht, wiels geht: in weniger als zwei Stunden, mit einem FAZ-Artikel als Vorlage. Ludwig Harig, dessen Sonettfabrikation da angesprochen wird, muß sich den Zuruf gefallen lassen: "Bitte, Herr Harig, nur keine falsche Bescheidenheit. Bedenken Sie: Eine einzige Ausgabe der F.A.Z. bietet Stoff für ein ganzes Lebenswerk."

    Der Lyrikdoktor wird später, am Beispiel von Nicolas Born, kenntlich machen, was er von einem guten Gedicht verlangt: die Auswahl des geeigneten Realmaterials und zweitens die sprachliche Form. Wenn das Material mitzählt, was eine nicht eben modische Haltung ist, sind nicht nur Harigs Sonette kritikwürdig. "Die Lyrik", befindet Stephan, "will sie nicht weiterhin als graue Maus durch die Literaturlandschaft huschen, wird eines nahen Tages nicht umhin kommen, sich den Fragen zu stellen, die ihre Leser an sie richten." Man merkt, daß Jacobs englische/amerikanische Literatur studiert hat. Sein Hauptzeuge für gelingende Lyrik ist Philip Larkin; ihm ist eine längere Studie gewidmet. Daneben figurieren Benn, Rühmkorf, Enzensberger und andere nicht von aller Kritik verschonte Poeten. Larkin wird ein "Positivismus der Gefühle" bescheinigt, eine "unverstellte, genaue Wahrnehmung des Empfindens". Das ist weniger genau geredet, als es klingt: eine Wahrnehmung des Empfindens ist nie ohne Interpretation zu haben, ist aus vielfältig komponierten Kontexten nicht auszuklinken - "unverstellt genau" ist dann nicht viel mehr als eine Sprechblase.

    Regelmäßig streut Jacobs-Jakob gute Ratschläge in seine Analysen ein, das stärkt die Attitüde des Lyrikdoktors: Es empfiehlt sich, ihm zufolge, "das nationale Kolorit nicht zu dünn aufzutragen. Was dem Les Murray sein Eukalyptus ist, das könnten unseren deutschen Dichtern die harzreichen Kiefern der Heide werden." Eine Besprechung von Gedichten der Friederike Mayröcker, die gern Widmungen unter die Titel setzt, endet mit einer "Ansprache an die Gemeinde der Lyrikgläubigen": "Dichter! Laßt euch nicht verlocken! Widmet nicht eure Gedichte, sondern widmet euch den Gedichten!" Joachim Sartorius wird sein "allseits kompromißfähiges Vorgehen" vorgehalten: In der Lyrik zähle "ein Mangel an Risikobereitschaft zu den größeren denkbaren Risiken: Wer nicht zu zaubern versucht, wird schwerlich Magie erzeugen." So wirft Jacobs auch dem berühmten John Ashbery vor: "Kaum einer seiner Zeitgenossen verfügt über ein so reichhaltiges Instrumentarium der Peinlichkeitsvermeidung wie dieser amerikanische Lyriker. Höchst ironisch wird Raoul Schrott, der "juvenile Dichterfürst", dafür gelobt, daß er der abgehalfterten zeitgenössischen Lyrik "auf dem Schleichweg journalistischer Personalisierungl zur Medienpräsenz verhilft". Kling, Grünbein, Beyer, Gräf - alle werden sie schonungslos kritisiert. "Angeberei, Bildungsdünkel und Selbstüberschätzung statt Beobachtungsfrische und Lebensfrechheit", konstatiert der Lyrikdoktor im Hinblick auf Grünbein: Nun ergieße sich der Irregeleitete haltlos ins allzeit bereitstehende Metrum.

    Man sieht: ab und zu macht es sich Jacobs reichlich einfach, indem er kalauert und groteske Szenen ersinnt: Pennälerulk. Subtiler ist die Haltung der Verwunderung, die sich auch leichter übertragen läßt. Wir staunen mit dem alten Doktor, daß sich Hilde Domin für eine Werbekampagne des Timotei-Shampoo-Konzerns hergibt, daß die Stadt Schwerte ein Stipendium aussetzt und dafür 150 Din-A-4 Normseiten vom preisgekrönten Dichter verlangt: die sollen "auf hohem Niveau ein literarisches 'Bild' der Stadt Schwerte" spiegeln. Zehn Lesungen muß der Dichter außerdem halten und "in möglichst vielen verschiedenen Schwerter Hotels logieren, um die von der Stadtsparkasse gewährte Aufwandspauschale möglichst flächendeckend auf die lokale Gastronomie zu verteilen".

    Mit Recht kritisiert Jacobs das als anmaßende Frechheit. Nicht viel besser ergeht es dem Modell Wiepersdorf. Es geht in diesen Visiten also nicht nur um die Besprechung von Neuerscheinungen, sondern ganz wesentlich auch um die Bedingungen von Lyrik heute, um das oft besungene Elend der Autoren, die Besserwisserei und Ohnmacht der Kritik, den Markt und das Einschwenken vielversprechender junger Autoren auf einen kunstgewerblichen Modernismus oder Postmodernismus. Das alles wird ohne Scheu und ohne Rücksichtzthematisiert und in gekonnten Übertreibungen ausgestellt. Dichterisch sind die Besprechungen von Jacobs in dessen eigenstem Sinne, lautet doch sein Schlußsatz: "Der Dichter verfügt neben der stets aufs neue zu gewinnenden Sprache über nichts als seine Reizbarkeit." Beide Begabungen sind Steffen Jacobs reichlich zuteil geworden, und es ist eine Freude, wenn auch nicht immer eine ungemischte, zu verfolgen, wie er sie mithilfe seines Rollenspiels sowohl kultiviert wie ausspielt. Am Schluß wird dem Neffen Deco der Stab der Kritik übergeben, vor allem wohl im Hinblick auf Prosa, und auch von ihm werden wir geübt-sensible Reizbarkeit erwarten dürfen.