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Machfus neu entdecken

Richtig tief ins literarische Bewusstsein des Westens ist der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus nicht gedrungen. Was Machfus für die arabische Literatur leistete, die Verschmelzung der klassischen arabischen Hochsprache mit dem natürlichen Fluss der ägyptischen Alltagssprache, ging in den Übersetzungen verloren.

Von Stefan Weidner | 30.08.2006
    Halten wir zunächst fest, dass mit Nagib Machfus ein Autor von Weltrang gestorben ist. Das bedeutet mehr, als bloß ein Literaturnobelpreisträger zu sein, hat doch kaum einer Gekürten der letzten Jahre ein vergleichbar großes, weit ausstrahlendes Werk aufzuweisen.

    Dennoch: Richtig tief ins literarische Bewusstsein des Westens ist Machfus nicht gedrungen. Zu keinem Zeitpunkt wurde ihm eine Hochachtung entgegenbracht wie den Autoren aus Entwicklungsländern, die in europäischen Sprachen schreiben, etwa Salman Rushdie, Gabriel Garcia Marquez oder Tahar Ben Jelloun. Das liegt zum einen an der Sprache. Was Machfus für die arabische Literatur leistete, nämlich die Verschmelzung der klassischen arabischen Hochsprache mit dem natürlichen Fluss der ägyptischen Alltagssprache, das musste in den Übersetzungen zwangsläufig verloren gehen - selbst in den souveränen deutschen Fassungen von Doris Kilias, seiner treuen Übersetzerin.

    Zum anderen liegt die Zurückhaltung, mit der Machfus aufgenommen wurde, auch daran, dass man ihn im Westen viel zu spät rezipiert hat, nämlich erst mit dem Nobelpreis im Jahr 1988. Zu diesem Zeitpunkt war die Ära Machfus auch in der arabischen Welt schon ans Ende gelangt. Die Zeit seines künstlerischen Zeniths fiel in die 50er und 60er Jahre, und hätte man ihn in jenen Jahren auf Deutsch lesen können, er wäre auch für uns nicht weniger auf der Höhe der Zeit gewesen als etwa ein Heinrich Böll.

    Mit Böll teilte Machfus übrigens nicht nur den leicht zugänglichen, vordergründig unprätentiösen Stil, sondern auch die Vorliebe für Helden aus dem Kleinbürgertum und die moralistische Grundhaltung. Und auf ähnlich unorthodoxe Weise, wie Böll ein gläubiger Christ war, fühlte sich Machfus einem um innere Wahrhaftigkeit ringenden Islam verpflichtet. Das fromme Getue der Strenggläubigen und die Rhetorik des politischen Islam sind ihm dagegen bis zuletzt fremd geblieben. Den Muslimfundamentalisten war die berühmte Persönlichkeit daher ein Dorn im Auge, und nur knapp überlebte er 1994 das Attentat eines Fanatikers. War er bis dahin jeden Tag in seinem Kairoer Stammcafe anzutreffen, zog er sich seither von der Öffentlichkeit zurück.

    Nagib Machfus wurde 1911 in der Kairoer Altstadt geboren, wo zahlreiche seiner Romane spielen. Er profitierte vom neuen Bildungssystem in Ägypten, konnte die Oberschule besuchen und studierte Philosophie. Dann schlug er die Beamtenlaufbahn ein, was dem angehenden Autor viel Zeit zum Schreiben ließ. Seine ersten Romane waren im antiken Ägypten angesiedelt. Sein jüngst auf deutsch erschienener Roman "Radubis", der im Original bereits 1943 publiziert wurde, ist ein farbenfroh sinnliches Beispiel dafür.

    Zu den einschneidenden frühen Erlebnissen von Machfus zählen die großen Demonstrationszüge, die 1919 die britische Vorherrschaft über Ägypten ins Wanken brachten. Diese Ereignisse bilden den Ausgangspunkt von seinem wohl berühmtestem Romanzyklus, der so genannten "Trilogie", einer gerne mit den "Buddenbrooks" verglichenen Familiensaga. Viel Aufsehen erregte Machfus auch mit dem 1959 publizierten allegorischen Roman "Die Kinder unseres Viertels", der aufgrund seiner Kritik an den monotheistischen Religionen und damit auch am Islam in Ägypten lange Zeit verboten war. Selbst gegenwärtig liegt er dort nur in einer zensierten Fassung vor.

    Nachdem 1952 der Sozialist Nasser an die Macht gekommen war und es zu einer fieberhaften Modernisierung kam, befand sich die kleinbürgerliche Welt, die Machfus in seinen realistischen Romanen geschildert hatte, in der Auflösung. Und während er dank der Verfilmung seiner Romane immer berühmter wurde, konnte er sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in seiner Heimat immer weniger identifizieren.

    In der Folge wurden die Gesellschaftsromane, die sein Werk bis dahin geprägt hatten, durch parabolische, märchenhafte Erzählungen abgelöst. Es sind solche Werke aus den 80er Jahren, die heutigen Lesern am eindringlichsten empfohlen seien; namentlich "Die Reise des Ibn Fattuma", die allegorische Wanderung eines überzeugten Muslims durch die verschiedenen politischen Systeme. Da Ibn Fattuma in keinem System glücklich wird, auch dem islamischen nicht, entscheidet er sich wie die islamischen Sufis zur mystischen Reise ins eigene Innere.

    Seine letzten Lebensjahre hat Machfus im Kreis weniger Vertrauter verbracht. Über 20 Titel von ihm sind mittlerweile auf Deutsch lieferbar, im Züricher Unionsverlag erscheint Jahr für Jahr ein weiteres. Und nachdem wir Machfus während seines langen Lebens als großen Zeitgemäßen nicht so recht annehmen wollten und konnten, haben wir nun die Gelegenheit, ihn als großen Unzeitgemäßen neu zu entdecken.