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Macht der Muslimbrüder

Nach neuen Gewaltausbrüchen hat Ägyptens Präsident Mohammed Mursi den Ausnahmezustand verhängt. Kritiker werfen den Muslimbrüdern und dem Staatsoberhaupt vor, sie islamisieren das Land. Trotzdem empfiehlt die Wissenschaftlerin Gudrun Krämer, nicht auf Distanz zu ihm zu gehen.

Gudrun Krämer im Gespräch mit Jan Kuhlmann | 29.01.2013
    Jan Kuhlmann: Neue Gewaltausbrüche erschüttern Ägypten. Präsident Mohammed Mursi erfährt heftige Kritik. In dieser aufgeheizten Situation besucht er am Mittwoch Berlin. Wäre es nicht besser, auf Distanz zu ihm zu gehen?

    Gudrun Krämer: Mohammed Mursi ist der gewählte Präsident Ägyptens, der in vielleicht nicht vollkommen fairen, aber doch in freien Wahlen in sein Amt kam und den wir daher als Präsident Ägyptens auch behandeln müssen. Wenn wir hier ganz kritisch und zurückhaltend wären, dann würden sehr, sehr viele Staatsoberhäupter ausscheiden. Nicht nur außerhalb Europas. Also, ich bin unbedingt dafür, Mohammed Mursi als Präsident Ägyptens in dieser ganz schwierigen, in sich zwiespältigen, problematischen Lage zu treffen und den Kontakt mit ihm und damit auch der neuen Regierung in Ägypten zu halten.

    Kuhlmann: Die Sicherheit Israels, das Existenzrecht Israels gehört zur Staatsräson Deutschlands. Nun hat Mursi vor drei Jahren, also zu einer Zeit, als er noch nicht Präsident war, die Juden als Blutsauger bezeichnet – in einem Interview. Er hat sie Kriegshetzer genannt, Söhne von Affen und Schweinen. Das sind ganz klare antisemitische Äußerungen. Kann so jemand Partner von Deutschland sein?

    Krämer: Ja, denn wir haben auch Partner Deutschlands, die in der Vergangenheit, als sie an der Macht waren oder noch nicht an der Macht waren, gleichfalls furchtbare Sachen gesagt haben. Und ich würde jetzt nicht Äußerungen Mursis aus der Vergangenheit hervorziehen. Ich würde ihn gegebenenfalls durchaus darauf hinweisen, dass von deutscher Seite so etwas inakzeptabel ist. Aber gemessen wird Mursi, gemessen wird jedes andere Staatsoberhaupt an seinen Taten und im konkreten Falle daran, ob die Verträge mit Israel eingehalten werden – das ist der Fall – und ob nicht nur die Verträge ganz allgemein eingehalten werden oder ob eine Politik verfolgt wird gegenüber Israel und den anderen regionalen Nachbarn, die deutschen Vorstellungen einer korrekten, legitimen Politik entsprechen.

    Kuhlmann: Wenn man sich die Entwicklung in den vergangenen Monaten anguckt – der Prozess hin zur neuen Verfassung – dann werfen die Kritiker aus dem nicht-religiösen Lager in Ägypten den Muslimbrüdern vor, sie würden den Staat islamisieren. Inwieweit ist mit Mursi, inwieweit ist mit den Muslimbrüdern ein demokratischer Staat zu machen?

    Krämer: Ich würde wiederum empirisch vorgehen und mir diese Verfassung mal sehr genau anschauen – das kann man auch – und dann sehen, was die Regierungspraxis darstellt, die von den Muslimbrüdern maßgeblich mit gestaltet wird. In der Verfassung würde ich zwei Schwerpunkte unterscheiden. Der eine betrifft die politische Ordnung des Landes. Und hier hält die Verfassung grundlegende Elemente eines modernen demokratischen Verfassungsstaates aufrecht: die Gewaltenteilung; die Annahme, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, das Wahlprinzip, die Gleichheit aller vor dem Gesetz usw. Da sehe ich persönlich im Wesentlichen keine Probleme. Da stellt diese Verfassung auch eine Verbesserung gegenüber früheren Verfassungen dar.

    Kuhlmann: Wo sehen sie dann die Probleme?

    Krämer: Problematisch sind die Punkte, an denen in dieser Verfassung die Religion gewissermaßen als Grundfeste der ägyptischen Gemeinschaft und Gesellschaft und der kulturellen Identität benannt wird – der Islam und das Christentum – und damit bestimmte Kräfte, die sich nicht primär über die Religion definieren, an den Rand gedrängt werden. Von solchen Bürgerinnen und Bürgern ganz abgesehen, die weder Muslim noch koptischer Christ sind.

    Kuhlmann: Die Kritiker weisen ja nicht zuletzt auch auf den Artikel 4 der ägyptischen Verfassung. Da heißt es, dass die Rechtsgelehrten der Kairoer al-Azhar-Universität ein Mitspracherecht haben, wenn es um die Scharia geht, also wenn es um das göttliche Recht geht. Theologen sollen also einen Einfluss auf die Gesetzgebung bekommen. Wie lässt sich das mit der Demokratie nach unserem Verständnis vereinbaren?

    Krämer: Nun lautet der entscheidende Artikel der ägyptischen Verfassung, dass der Islam Staatsreligion ist und die Grundsätze der Scharia die Hauptprinzipien der Gesetzgebung und Rechtsprechung abgeben. Dann muss es eine Instanz geben, die kompetent darüber urteilen kann, was die Grundsätze der Scharia sind – das ist nämlich keineswegs klar – und was es heißt, dass diese Grundsätze dann wiederum die Hauptquelle der Gesetzgebung werden. Von daher ist es nicht abwegig, diejenigen Männer, die hier fachkompetent sind, heranzuziehen. Und die Formulierung ist auch so gewählt, dass denkbar ist, dass die Gelehrten der al-Azhar ihre Meinung darlegen dazu, was in einem konkreten Fall die Scharia zu sagen hat, dass sie aber nicht die allein Entscheidenden sind, so dass die Entscheidung noch immer beim Parlament bleibt. Das ist dann aber eine Frage der Auslegung und der Praxis. Aber ich warne auch davor, von vornherein nur auf diese Paragraphen zu schauen. Ich würde mir auch mal die anderen anschauen, in denen die Islamisten eindeutig sich zu einer demokratischen pluralistischen Verfassungsordnung bekannt haben, denn für sie ist das eine ganz bemerkenswerte Bewegung, die sie in relativ kurzer Zeit vollzogen haben.

    Kuhlmann: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass die Muslimbrüder sich weiter in Richtung Demokratie entwickeln?

    Krämer: Also erstens muss man sehen, dass die Ägypter zwar mehrheitlich fromm sind, sei es muslimisch oder christlich, aber doch durch die Religion nicht vollkommen bestimmt werden. Und dass neben den Muslimbrüdern und neben anderen Islamisten andere politische Kräfte auch bestehen, die in den Präsidentschaftswahlen des vergangenen Jahres auch sehr deutlich geworden sind. Das heißt, die Muslimbrüder stehen nicht allein, sie müssen sich mit anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften auseinandersetzen und arrangieren. Und das gibt einem durchaus Hoffnung, denn diese anderen Kräfte sind kritisch, sind artikuliert, sie lassen von sich hören und sie sind mobilisiert und mobilisieren auch andere. Muslimbrüder und andere Islamisten können also nicht einfach durchsetzen, was sie sich unter einer gerechten und richtigen Umwandlung der Gesellschaft vorstellen. Sie brauchen dazu andere politische Kräfte. Dadurch muss es gewisse Ausgleichsmechanismen, Verhandlungen und auch Kompromisse geben. Das ist zunächst einmal positiv. Dieses Grundbekenntnis zur Demokratie, das müssen sie den Muslimbrüdern nicht mehr abringen, das haben sie geleistet, das steht in der Verfassung und diese Verfassung tragen sie. Das einzige, was jetzt interessiert, ist doch, wie wird Macht tatsächlich ausgeübt. Und da sie nicht die allein bestimmende Kraft sind, sondern es Gegengewichte gibt, besteht auch eine gewisse Hoffnung darauf, dass hier nicht eine politische Kraft, sprich die Muslimbrüder, sich insgesamt der Macht bemächtigen.