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Macht und Freiheit

Das schwierige Verhältnis zwischen Geist und Macht betrifft auch die Pressezensur im Deutschland des 20. Jahrhunderts. In welchem Umfang und mit welchen Mitteln das Kaiserreich, der NS-Staat und schließlich die DDR Journalisten kontrollierten und dirigierten, ist Gegenstand einer vergleichenden Analyse aus der Feder des Publizistik-Professors Jürgen Wilke. Günter Müchler rezensiert.

19.11.2007
    Macht und Freiheit - ein Konkubinat auf der Rasierklinge. Nichts illustriert diesen Sachverhalt besser als die Geschichte der Presse. Im Vormärz lieferten sich die Zeitungsschreiber Dauerringkämpfe mit ihren Quälgeistern, den Zensoren. Schubart wanderte auf den Hohenasperg, Palm wurde erschossen, Texte wurden massakriert. Doch waren im Vormärz die Verhältnisse leidlich. Der Zensor war nicht selten nach einem Wort Heines einfach ein Esel, die Zensur eine Biedermeierei; jedenfalls verglichen mit dem, was das 20. Jahrhundert bescheren sollte.

    Erst im totalitären Staat wird aus der Kujonierung der Zeitungen Medienlenkung. Erst im totalitären Staat wird offenbar, dass es noch Schlimmeres gibt als Willkür, nämlich die bürokratische Maßnahme. Diese Erkenntnis unterstreicht das Buch des Mainzer Publizistik-Professors Jürgen Wilke. Es nimmt die Presseanweisungen unter die Lupe, ein ganz spezielles Handwerkszeug der Medienlenkung. Mit diesem Instrument operierten die Propagandaapparate im NS-Staat und in der deutschen Arbeiter- und Bauernrepublik gleichermaßen.

    Ihr Vorspiel erlebten die Presseanweisungen im ersten Weltkrieg. Lanciert wurden sie durch die gleich zu Kriegsbeginn eingerichteten zentralen Pressekonferenzen, zu denen die Berliner Journalisten geladen wurden. Bei diesen Konferenzen erhielten die Zeitungsleute Informationen, es wurden Sprachregelungen ausgegeben, besondere Themen wurden mit Tabu belegt, Rügen und Warnungen ausgesprochen. Wilke weist nach, dass es bei der Kriegszensur keineswegs nur um die Wahrung militärischer Geheimnisse ging. Die Palette der ungefähr 3000 nachgewiesenen Presseanweisungen umfasst allgemein-politische Themen, Wirtschaftsthemen, und selbst die Kultur wurde nicht ausgespart. Das Bemühen, den Siegeswillen zu schüren, mündete in einen relativ umfassenden Versuch der Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Besonders erfolgreich war dieser Versuch nicht. Weit davon entfernt, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam zu funktionieren, ging von den Presseanweisungen ein nur unvollkommener Konformitätsdruck aus. Zuwiderhandlungen waren möglich und wurden praktiziert. Im "Berliner Tageblatt" spottete Theodor Wolff am 3. Januar 1916:

    "Man überlasse sich doch nicht dem Wahn, dass mit dilettantischen Propagandamittelchen, mit Aufklärungsschriften, Preßbeziehungen und ähnlichem Krimskrams etwas Nennenswertes auszurichten sei."

    Georg Bernhardt, Chefredakteur der "Vossischen Zeitung", ließ sich in den Pressekonferenzen nichts gefallen, wie folgende Äußerung aus dem letzten Kriegsjahr dokumentiert:

    "Es ist ganz ausgeschlossen, dass junge Herren des Auswärtigen Amts sich über das, was deutsche Journalisten schreiben, ein Urteil erlauben, das können wir uns nicht gefallen lassen."

    Die Kriegszensur war, wie der Name sagt, eine Freiheitseinschränkung auf Zeit, sie war löchrig und ließ Freiräume zu. Im Systemvergleich markiert sie die Differenz zwischen autoritär und totalitär. Bei den Nazis gab es kein Pardon, im Reich des Josef Goebbels keinen Widerspruch. Gleich nach der so genannten Machtergreifung wurden die sozialdemokratischen und kommunistischen Blätter verboten. Der vom Propagandaministerium etablierte Lenkungsapparat arbeitete engmaschig und ahndete brutal. Nicht wenige Mitglieder der Pressekonferenz wurden verfolgt, in Zuchthäuser und Konzentrationslager gesperrt. "Alles, was dem Volke nützt, ist recht, alles was dem Volke schadet, ist unrecht". Diesem Diktum des Justizministers Hans Frank folgend, mussten die Zeitungen lügen, skandalisieren oder verharmlosen. Nach der Niederschlagung des "Röhm-Putsches", das heißt der Ermordung des obersten Stabschefs der SA und anderer hochrangiger SA-Mitglieder am 30 Juni 1934, gab die entsprechende Presseanweisung folgende Sichtweise vor:

    "Dem ehemaligen Stabschef Ernst Röhm war Gelegenheit gegeben, die Konsequenzen aus seinem verräterischen Handeln zu ziehen. Er tat dies nicht und wurde daraufhin erschossen."

    Am 9. November 1938 wurden Synagogen abgefackelt und jüdische Geschäfte geplündert. Auf der Pressekonferenz wurde eine Sprachregelung ausgegeben, deren Zynismus beispiellos ist:

    "Hier und dort seien Fensterscheiben zertrümmert worden, Synagogen hätten sich selbst entzündet oder seien sonst wie in Flammen aufgegangen. Die Berichte sollen nicht allzu groß aufgemacht werden, keine Schlagzeilen auf der ersten Seite. Vorläufig keine Bilder bringen."

    Manchmal spießten die Presseanweisungen, die es übrigens auch auf Karteikarte gab, kleinste Kleinigkeiten auf. So durfte Albert Speer nicht als "Architekt des Führers", er musste viel mehr als "Inhaber des vom Führer geschaffenen Amts eines Generalbauinspektors" bezeichnet werden. Manche Anweisungen wirken heute rätselhaft, ja komisch:

    "Volkskühlschrank. Bis auf Weiteres sind Hinweise auf einen geplanten Volkskühlschrank nicht zu veröffentlichen."
    "Schminken. Auseinandersetzungen über das Für und Wider des Schminkens Deutscher Frauen sind unerwünscht."


    Über die Existenz der Pressekonferenz durfte nicht berichtet werden:

    "Pressekonferenz. Die Pressekonferenz der Reichsregierung ist in Meldungen und Berichten nicht zu erwähnen; bei der Behandlung freigegebener Themen kann man sagen: "Vor Vertretern der Presse wurde ... "

    Bei Kriegsbeginn ließ Pressechef Otto Dietrich die Teilnehmer der Pressekonferenz wissen, der Führer erwarte von ihnen, dass sie kämpften wie die Soldaten. Die Presse habe "den Westwall der Seelen zu bauen". Nicht alle beherzigten diese Losung. Die lange Jahre gradwandernde "Frankfurter Zeitung" wurde 1943 verboten.

    Die Presseanweisung vom 15. September 1942 schwor die Zeitungen auf den angeblich unmittelbar bevorstehenden Sieg bei Stalingrad ein.

    "Das Ringen um Stalingrad nähert sich seinem erfolgreichen Ende. Wichtige Meldungen des OKW über die bis jetzt erzielten Erfolge sind im Laufe des heutigen oder morgigen Tages zu erwähnen. Die deutsche Presse wird sich darauf vorzubereiten haben, die siegreiche Entscheidung dieses so großen Kampfes um die Stadt Stalins in wirkungsvollster Form - gegebenenfalls durch die Ausgabe von Extrablättern - zu würdigen."

    Als es mit dem Siegen vorbei war und die 6. Armee vor Stalingrad kapitulierte, musste die Presse das Kunststück vollbringen, die Katastrophe in einen Aufruf zum totalen Krieg umzulügen.

    "Der deutschen Presse fällt die besondere publizistische Aufgabe zu, durch ergreifende Schilderung der einzigartigen Opferbereitschaft der Helden von Stalingrad auch den letzten Volksgenossen aufzurütteln, damit er sich einreiht in die große Front des entschlossenen Widerstandes und Siegeswillens."

    Ebenso wie die Printmedien hielt Goebbels auch sein liebstes Propaganda-Medium, den Rundfunk, an der kurzen Leine. Dort erfuhren die Redakteure allmorgendlich durch Hans Fritzsche, den "Leiter der Rundfunkabteilung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda", die gültigen Sprachregelungen für die kommenden 24 Stunden. Hier die Anleitung für den 2. Januar 1943:

    "Nach dem Angriff auf Großparis, war im Wehrmachtsbericht von sehr hohen Verlusten der Zivilbevölkerung die Rede. Jetzt werden amtlich nur 245 Tote gemeldet. Eine Veröffentlichung muss aus verständlichen Gründen vermieden werden, auch in den Auslandsdiensten. Wenn wir da erst sagen: Hat ungeheure Verluste die Bevölkerung Paris und dann nachher mit 245 Toten kommen, wo es deutschen Großstädte gibt, die 30.000 und mehr Tote in einer Woche haben opfern müssen, dann ist das natürlich keine Unterlage."

    Mit dem nahenden Zusammenbruch fiel es den Goebbelsleuten immer schwerer, Siegesmeldungen zu fabrizieren. Die Presseanweisungen verlegten sich darauf, den im Umfang hauchdünn gewordenen Zeitungen Vermischtes vorzusetzen. Beispielsweise die Geschichte eines sechzehnjährigen Hitlerjungen, der angeblich mit der Panzerfaust nicht weniger als neun "bolschewistische" Panzer vernichtet hatte. Die in der Pressekonferenz versammelten Journalisten dachten sich ihren Teil. Fritz Sänger, ehemals Korrespondent der "Frankfurter Zeitung", notierte: "Die Zahl derer, die sich auf die Bank der Spötter setzen, wuchs ständig."

    Göbbels wusste, was das System der Presselenkung den Journalisten abverlangte. Er verachtete die Zeitungsschreiber:

    "Ein anständiger Journalist, der noch ein Ehrgefühl im Leibe hat, kann sich unmöglich mit den Praktiken der Presseabteilung der Reichsregierung einverstanden erklären. Der Journalismus wird hier geschuriegelt, als wenn er sich noch in der Volksschule befindet."

    Äußerste Willfährigkeit kennzeichnete auch das Verhalten der Journalisten in der DDR. Sie waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Überzeugungstäter, Hundertfünfzigprozentige oder Nischensucher und erwiesen sie sich als folgsam und linientreu. Kein Wunder, dass sich in den Reihen der Opposition, die 1989 das SED-Regime zu Fall brachte, so gut wie kein Journalist befand. In keinem anderen Beruf sei so viel "Selbstverleugnung" verlangt worden, urteilt Günter Holzweißig, Kenner des DDR-Pressewesens. Die Methoden der Presselenkung im SED-Staat unterschieden sich kaum nennenswert von denen, die im "Tausendjährigen Reich" angewandt worden waren. Die Nazis hatten es sogar objektiv noch schwerer gehabt, die erwünschte Uniformität zu erreichen. Mussten sie zu Anfang mit einem Übergewicht der bürgerlichen Presse zurecht kommen, die erst gefügig gemacht werden musste, konnte der DDR Propagandaapparat auf eine weitgehend gleichgeschaltete Presselandschaft bauen, die durch die Lizenzierungspraxis in der sowjetisch besetzten Zone entstanden war. Wie perfekt das System war, beschrieb Robert Havemann:

    "Obwohl es keine Zensurbehörden gibt, können in der DDR weder in Zeitungen und Zeitschriften noch im Radio oder Fernsehen, nicht im Theater und Kino, auf keiner Kulturveranstaltung, nicht einmal beim Kleingärtnerverein Immergrün auch nur ein Wort und eine Zeile gesagt oder gesungen werden, die nicht direkt oder indirekt den Filter der Staats- und Parteikontrolle durchlaufen haben."

    Nach sowjetischem Vorbild personifizierte die Spitze des Lenkungssystems der ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda. Auf Linie gebracht wurden die Zeitungen inklusive des Rundfunks unter anderem durch "Redaktionsbriefe" oder andere schriftliche Darlegungen. In hölzernem Ton wurde beispielsweise erklärt, warum Erhard keinen Deut besser sei als Adenauer oder warum das Westfernsehen in der Lage sei, die Menschen irrezuführen:

    Als Pressekonferenz und zentrale Verteilstelle für Parolen und Sprachregelungen fungierten die so genannten "Donnerstag-Argus". Sie standen von 1973 bis zum Ende unter der Leitung von Heinz Geggel, der als Abteilungsleiter Agitation des Zentralkomitees Hans Modrow nachgefolgt war. Jeden Donnerstagmorgen, pünktlich um zehn, versammelten sich die Chefredakteure im Raum 3119 des ZK-Gebäudes am Werderschen Markt, ausgenommen die Chefredakteure des "Neuen Deutschland" und der Zeitungen der Blockparteien. Diese setzte ZK-Sekretär Joachim Hermann persönlich ins Bild. Franz Loeser, lange führender SED-Funktionär, 1983 nach einer Auslandsreise nicht zurück gekehrt, beschrieb die "Donnertag-Argus" so:

    "Wie Schuljungen in einer Klippschule, so sitzen sie demütig vor dem Genossen Geggel. Seine Anweisungen sind knapp und präzise. Sie legen die politische Linie der Massenmedien für die kommende Woche fest, über welche Fragen mit was für einer Priorität und wie zu berichten ist. Nicht selten werden sogar detaillierte Formulierungen vorgegeben. Widerspruch oder Protest ist undenkbar. Schon selbst eine Frage an den Genossen Geggel wird als suspekt angesehen."

    Die letzte "Donnerstags-Argu" fand am 19. Oktober 1989 statt, zwei Tage nach der Absetzung Honeckers. Heinz Geggel fand plötzlich, die von ihm 26 Jahre lang am Zügel geführten Medien hätten alles falsch gemacht:

    "Wir werden den einzelnen Medien nicht mehr dreinreden. Darunter hat besonders das ND (das Neue Deutschland) gelitten. Ich bin aber nicht bereit, eine große Vergangenheitsbewältigung zu machen. Die Chefredakteure sind verantwortlich."

    Mit seiner Arbeit über die Presseanweisungen gelingt es Jürgen Wilke, Einblicke in die Funktionsweise staatlicher Medienlenkung zu eröffnen. Es ist eine verdienstvolle Arbeit. Leider geht die Liebe zum Detail, die sich vor allem in statistischen Messungen austobt, zu Lasten der Lesbarkeit. Was lernt man aus Balkendiagrammen, die nachweisen, dass es in der DDR 17 Arten von Presseanweisungen gab, die wiederum zu 54,8 Prozent direktiven, zu 41,2 Prozent assertiven, zu 3,6 Prozent expressiven und zu 0,3 Prozent kommissiven Charakter hatten? Auf ein besonderes Manko der Untersuchung weist der Autor selbst hin: Über die Wirkung, die die Anweisungen hatten, über ihren Niederschlag, den sie in den Zeitungen fanden, gibt das Buch keinen Aufschluss. Dazu wären Inhaltsanalysen von Zeitungen nötig. Sie gibt es weder für die beiden totalitären Staaten, noch für die Zeit des ersten Weltkrieges. Das Buch endet mit einem tröstlichen Fazit. Wie viel Energie, wie viel perfides Tun auch in die Maschine der gezielte Irreführung gesteckt wurden: Das Scheitern konnte die geballte Propaganda nicht verhindern. Im Gegenteil: Die Presseanweisungen, so fasst Wilke zusammen, hatten eine paradoxe Wirkung:

    "Dass sie nämlich, wenn man sie streng befolgte, ein Ergebnis zeitigten, das politisch eigentlich unerwünscht sein musste und eher kontraproduktiv war: Nämlich eine Homogenität, ja Einförmigkeit der Berichterstattung. Dies war der Glaubwürdigkeit der Berichterstattung abträglich, minderte und untergrub das Vertrauen der Leser und provozierte den Verdacht einer absichtlichen Irreführung und Lenkung."

    Günter Müchler über Jürgen Wilke: Presseanweisungen im 20. Jahrhundert. Erster Weltkrieg - Drittes Reich - DDR. Der 348 Seiten starke Band kommt aus dem Kölner Böhlau-Verlag und kostet 42 Euro und 90 Cent.