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Machtkampf zwischen Fundamentalisten und Generälen

32 Sahara-Reisende wurden in den vergangenen Monaten in Algerien verschleppt, darunter Deutsche, Österreicher, Schweizer und Holländer. 17 von ihnen konnte die algerische Armee letzte Woche befreien. Doch noch immer befinden sich 15 Touristen in der Gewalt ihrer Entführer. Als Täter vermutet man die GSPC, die Groupe salafiste pour la prédication et le combat, übersetzt: die salafistische Gruppe für Predigt und Kampf. Eine fundamentalistische Organisation, die Ende der 90er Jahre gegründet wurde und Verbindung zum Terror-Netzwerk Al Qaida haben soll. Verbirgt sich hinter der Entführung ein innenpolitischer Machtkampf? Einige algerische Journalisten und Offiziere behaupten das jedenfalls:

Martina Zimmermann | 20.05.2003
    Die Generäle Mohamed Mediene und Smain Lamari haben die Entführung in Auftrag gegeben, um Druck auf Präsident Bouteflika auszuüben, ihn zu schwächen und ihn im In- und Ausland in Verlegenheit zu bringen. Das direkte Motiv für diese Kraftprobe ist sein Dekret, die beiden Generäle in Ruhestand zu schicken. Die jüngsten Entscheidungen Bouteflikas, Veränderungen in der Militärspitze vorzunehmen, haben die Machthaber erschüttert. Die Generäle weigern sich kategorisch, ihre Funktion zu verlassen.

    So steht es im Kommuniqué der "algerischen Bewegung freier Offiziere", einer Untergrundbewegung innerhalb der Armee, die für ihre Enthüllungen im Internet bekannt ist. Sicher ist: Die Macht in Algerien liegt immer noch in den Händen einer kleinen Anzahl von Generälen, denen islamischer Extremismus, Terrorismus und Gewalt im Land stets als Rechtfertigung für ihre Machtausübung dienten. Hichem Aboud, ehemaliger Armeeangehöriger, ehemaliger Geheimdienstler und Journalist, klagt in seinem Buch "Die Mafia der Generäle" an.

    Sie haben diese Terroristen immer benutzt, die Fundamentalisten. Einer der Gründer der islamischen Heilsfront Fis war der Chef des algerischen Nachrichtendienstes, er war sogar Minister und Berater des Regierungschefs. Ich erkläre in meinem Buch, wie sie die islamischen bewaffneten Gruppen GIA gegründet haben. Was den Mord an Präsident Boudiaf angeht, habe ich alle Beweise erbracht.

    Erst jetzt, da europäische Touristen betroffen sind, interessiert sich die internationale Öffentlichkeit wieder einmal für das Land. Dabei herrschen in Algerien seit dem 11. Januar 1992 Krieg und Chaos. An diesem Tag beendete ein Militärputsch abrupt die ersten freien Parlamentswahlen – die die Fundamentalisten gewonnen hätten. Die Menschenrechtsorganisation Algeria-Watch zählt seither mehr als 200 000 Tote, Zehntausende, die gefoltert wurden, rund 10 000 Menschen, die "verschwanden". Auch im vergangenen Jahr gab es, nach Zählung der algerischen Presse, etwa 1500 Tote.

    Von offizieller Seite wird seit Ende der 90er Jahre von der "letzten Viertelstunde" des Kriegs gesprochen. Denn in den Städten hat sich die Lage beträchtlich verbessert. Doch auf dem Land kommt es nach wie vor zu Massakern, und erst letzte Woche hat die Armee 300 Kilometer südwestlich von Algier 20 Fundamentalisten getötet, die zur GSPC, den mutmaßlichen Touristenentführern.

    Die Nationalhymne singend, rast Hodscha durch Algier, schlängelt sich zentimeterknapp durch die Staus. Er ist der Chauffeur der Union nationale de la jeunesse algérienne, der algerischen Jugendorganisation, und führt oft ausländische Gäste durch die Stadt.

    In diesem kleinen Restaurant ging 1996 eine selbst gebastelte Bombe hoch. Ich war damals hier an dieser Stelle. Ich wurde vier Meter durch die Luft geschleudert. Hier in diesem Restaurant war das. Und da ist das Lokal von Air France, es wurde nach der Entführung des Air-France Airbus 1994 geschlossen.

    Das Lokal dürfte bald wieder öffnen: Letzte Woche hat Air France beschlossen, den Flugverkehr nach Algier wieder aufzunehmen. In der algerischen Hauptstadt steht an jedem Kreisverkehr, an jeder Kreuzung Polizei, um den Verkehr zu sichern, aber auch um mögliche Attentäter abzuschrecken. Der seit 1992 verstärkte Polizei- und Militärapparat wird auch bei Aufständen eingesetzt, wie im April 2001 in den Bergen der Kabylei.

    In der Redaktion der Tageszeitung "Liberté" wird die Verabschiedung eines Redakteurs gefeiert. Die Zeitung wurde gegründet, als nach den Unruhen 1988 ein Demokratisierungsprozess in Algerien einsetzte. Endlich kam es zu mehr Meinungsfreiheit und freien Wahlen. Damals entstand eine unabhängige Presse. Doch der Demokratisierungsprozeß endete schlagartig, als die Parlamentswahlen 1992 wegen des großen Erfolges der Islamisten abgebrochen wurden. Heute hängen in den Redaktionsräumen der "Liberté" Porträts von vier Journalisten, die seitdem ermordet wurden. Redakteurin Samiá Lockmán:

    Klar, Algier ist heute nicht mehr die Hauptstadt des Terrors wie in den Jahren 1995, 1996, 1997, als es Autobomben gab, Anschläge und Attentate. Heute können sich die Leute freier bewegen. Es gibt keine Ausgangssperre mehr am Abend. Aber man muss trotzdem vorsichtig sein: Noch im letzten Sommer gab es Bombenanschläge in der Hauptstadt. Für Sicherheit gibt es bei uns keine Garantie, nicht mal hier in Algier. Wenn ich auf einen Markt gehe, wo viele Leute sind, sage ich mir manchmal, mein Gott, wenn hier jemand eine Bombe hochgehen lässt. Allerdings schlagen die fundamentalistischen Gruppen inzwischen eher auf dem Land zu, in isolierten Dörfern, kleinen Weilern. Die großen Städte sind dank des permanenten Polizeiaufgebots ein bisschen sicherer geworden, aber ein Risiko bleibt.

    1999 hatte Abdelaziz Bouteflika nach seiner Wahl zum Präsidenten die Politik der "zivilen Eintracht" eingeführt: Fundamentalisten, die keine Blutverbrechen begangen hatten, wurden amnestiert. Zunächst waren die Algerier mit Bouteflika zufrieden. Samia Lockman erinnert sich:

    Am Anfang waren die Algerier begeistert von einem Präsidenten, der redet. Bis dahin hatten wir eher schweigende Staatschefs, die nicht viel sagten, die nichts versprachen. Er hat wirklich vieles in glänzenden Farben geschildert, sprach von Reformen und machte uns Hoffnung. Was die Wiederherstellung des Friedens angeht - da sind die Algerier massiv zur Wahl gegangen und haben für das Gesetz zur "zivilen Eintracht" gestimmt.

    Doch inzwischen ist Präsident Bouteflika einsamer denn je. Hassan Moalí, Journalist der Tageszeitung "Liberté":

    Alles ist unklar in Algerien. Nehmen Sie die Außenpolitik von Präsident Bouteflika: Intern gibt es die zivile Eintracht, eine Art Pardon für die Terroristen. Selbst wenn die Leute dafür gestimmt haben, empfinden es die meisten inzwischen irgendwo als ungerecht. Es ist auch ungerecht, weil man Kriminelle amnestiert hat. Im Innern war der Präsident gegenüber den Terroristen und Fundamentalisten nachgiebig. Und international schließt er sich der Koalition gegen den Terrorismus an. Das ist ein Widerspruch.

    Mit Bouteflika und der zivilen Eintracht wollten die Generäle, als Drahtzieher von Attentaten und Massakern beschuldigt, zeigen, dass sie keine blutrünstigen Diktatoren seien, sondern für den Frieden. Doch Bouteflikas Zeit scheint abzulaufen: Anfang Mai feuerte er seinen Regierungschef Ali Benflís, der fünfte Wechsel eines Ministerpräsidenten in Bouteflikas vierjähriger Amtszeit. Der einstige Weggefährte war zum Rivalen geworden. Kaum zu glauben, dass die heimlich regierenden Generäle Bouteflika eine zweite Amtszeit zugestehen: Zum einen wird er der Krisen im Lande einfach nicht Herr; zum zweiten ist er den Generälen nicht hörig genug. Die Ernennung des neuen Premierministers Ahmed Ouyahiá, laut algerischer Presse "eine Marionette des Staatssicherheitsdienstes", gilt als Signal, dass er, Ouyahiá, im nächsten Jahr Bouteflika an der Staatsspitze ablösen könnte.

    Der bekannteste Markt von Algier befindet sich in Bab el Ouéd, dem Stadtteil im Zentrum Algiers, in dem der ärmere Teil der Bevölkerung lebt.

    Ganz Algerien kommt nach Bab el Oued, weil es hier billiger ist. Du findest hier alles, was du willst. Frag aber nicht, wo das herkommt. Die Ware stammt aus Frankreich. Hier gibt es alles zu kaufen, sogar Handys.

    Die französischen Kolonialherren, die 1830 von Algier Besitz ergriffen, waren von der Schönheit der Stadt, ihren Minaretten, Palmen und Gärten entzückt. Damals hatte Algier 30 000 Einwohner, heute drängen sich drei Millionen auf den Straßen.

    Mokhtár Bouroumiá ist der Bürgermeister von Sidi M´Hámid, einem der größten Stadtteile von Algier, mit fast 100 000 Einwohnern auf 22 Hektar. Der ehemalige Journalist wurde am 10. Oktober 2002 zum Bürgermeister gewählt. Bei den Parlaments- und Gemeindewahlen im vergangenen Jahr rutschte die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent. Denn die neue politische Karte, die die Machthaber aus der Tasche zogen, zielte auf eine Rückkehr der FLN, der Front de la Liberation Nationale, und das war nichts anderes als die frühere Einheitspartei. Und tatsächlich gewann die FLN die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen und die Mehrheit der Rathäuser. Mokthar Bouroumia ist 38 Jahre alt und Mitglied der FLN.

    Die größte Aufgabe ist für mich, das Wohnungsproblem zu lösen. Manche Einwohner wohnen in kaputten Häusern oder in Slums, es gibt inzwischen fast 8000 Anfragen nach Wohnungen allein in meiner Gemeinde. Glücklicherweise habe ich ein beträchtliches Budget im Vergleich zu den anderen Gemeinden, damit können wir 400 Drei-Zimmer-Wohnungen kaufen und so einigen Leuten aus Sidi M´hamed Hoffnung auf eine eigene Wohnung machen.

    Ganz Algerien zählt 614 000 Studenten, ein Viertel davon ist an den zwei Universitäten oder den Instituten in Algier eingeschrieben, aber studieren wollen dort eigentlich alle. Präsident Bouteflika versprach vor seiner Wahl 1999 eine umfassende Reform des Erziehungswesens. Die soll demnächst angegangen werden - ein Jahr vor der nächsten Wahl 2004. Geplant ist auch eine Justizreform. In den Gefängnissen sorgen die schlechten Haftbedingungen immer wieder für Aufstände, der Justizminister hat Abhilfe versprochen. Doch erst letzte Woche wurde ein Aufstand im größten Gefängnis bei Batna niedergeschlagen. Ein weiteres Wahlversprechen war die Reform des Familiengesetzes, das den Männern bisher alle Macht über Töchter, Schwestern und Ehefrauen gibt. Das soll sich ändern – wie, wird seit Jahren heftig diskutiert. Kritiker beanstanden schon heute, dass bei den Planungen zur Reform nicht nur Juristen, sondern auch religiöse Führer mitreden.

    Auch in der Redaktion der unabhängigen Zeitung Liberté wird mit Skepsis über die verschiedenen Reformen diskutiert. Das Familiengesetz, der code de la famille, stammt von 1984, aus einer Zeit also, in der die islamischen Fundamentalisten noch gar nicht von sich reden machten. Dennoch ist schon das alte Gesetz stark von der Scharia beeinflußt. Die Journalistin Samia Lockman:

    Wie alt eine Frau auch immer sein mag, um zu heiraten, braucht sie immer einen Vormund, den Vater oder den großen Bruder. Der Ehemann kann eine andere Frau nehmen, das Gesetz erlaubt ihm das. Im Falle einer Scheidung behält der Mann die Wohnung, die Frau steht dann mit einem Haufen Kinder auf der Straße.

    Deshalb sind in den Straßen von Algier häufig Bettlerinnen zu sehen, manchmal mit Kleinkindern. Aus Scham verhüllen sie sich, tragen Schleier oder den Haik, das traditionelle helle Tuch, das die Frauen über Kopf und Schultern schlagen. Die Mehrheit der Frauen in Algier ist westlich gekleidet, aber ältere Frauen sieht man ab und zu mit dem Haik.

    Früher haben die Frauen nicht gearbeitet, sie sind nicht auf den Markt gegangen und nicht zur Schule. Sie blieben zu Hause. Die Reichen hatten ihre Dienerinnen, sie gingen nur nach draußen, um ins Dampfbad, ins Hamam, zu gehen, oder zu einer Hochzeitsfeier, und dann wurden sie von ihrem Mann oder ihrem Vater begleitet. Der Haik ist ein Stofftuch, man stülpt es über den Kopf und muss es mit den Händen halten. Das ist sehr unpraktisch....

    ...sagt Wahibá Smail, Führerin im "Musée du Moujáhid".

    Dieses "Museum der Märtyrer" liegt auf einem der Hügel Algiers, sein Denkmal der für die Unabhängigkeit Gefallenen ist weithin sichtbar. Hier wird die Geschichte der algerischen Revolution dargestellt, der Widerstand gegen die Kolonialherren ab 1830 bis hin zum Befreiungskrieg ab 1954. Am 5. Juli 1962 feierte das Volk in den Straßen von Algier nach einem blutigen Krieg die Unabhängigkeit. Die algerischen Frauen hatten einen bedeutenden Anteil am Kampf. Unter ihren Schleiern schmuggelten sie Waffen und Bomben. Im Museum ist das Foto einer Algerierin im Haik zu sehen, den Führerin Wahiba Smail so unpraktisch findet. Sie selbst trägt ein islamisches Kopftuch, mit Stecknadeln festgesteckt, so dass es den ganzen Tag hält. Viele Frauen in Algerien wenden sich gegen jede Form der Verschleierung. Wahiba meint dazu:

    Wer 130 Jahre kolonisiert wurde, wird von dieser Zivilisation geprägt. Viele Algerier sprechen bis heute französisch, selbst zu Hause. Auch bei uns zu Hause wurde oft französisch gesprochen, die Kleidung war westlich. Aber heute gibt es eine Bewegung, der ich mich zugehörig fühle; ich lese den Koran, ich weiß, dass muslimische Frauen sich bedecken müssen. Ich bin davon überzeugt, keiner hat mich dazu gezwungen. Ich habe das Kopftuch getragen, bevor es meine Mutter es tat. Früher trug sie nie Kopftuch, heute schon: seit sie ihre Pilgerfahrt nach Mekka gemacht hat. Meine Mutter ist eine gebildete Frau, die gearbeitet hat und Auto fuhr. Sie fährt bis heute Auto. Das Kopftuch entspricht meiner persönlichen Überzeugung, niemand hat mich dazu gezwungen, es zu tragen.

    Ob mit Kopftuch oder im Minirock: In Algerien kümmern sich die Frauen um Haus und Kinder, kochen für Mann und Gäste und haben dabei noch ein Lächeln auf den Lippen. Sie demonstrieren gegen Fundamentalisten oder Generäle, und selbst während der schlimmsten Jahre des Terrors übten sie trotz aller Einschüchterungen weiter ihren Beruf aus.

    In der Kásbah, der Altstadt von Algier wurde noch vor kurzer Zeit immer wieder geschossen. Viele Einwohner der Stadt trauten sich nicht mehr in die verwinkelten Gassen des historischen Zentrums. Die Polizei suchte Terroristen und verängstigte mit ihren Razzien die Bevölkerung. Die Terroristen rächten sich, wenn einer von ihnen denunziert worden war. Heute ist die Angst vor Dieben in Algier größer als die vor Attentaten. Doch die soziale und wirtschaftliche Lage hat sich in den vergangenen Jahren extrem verschlechtert. Nahezu die Hälfte der algerischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Krankheiten treten wieder auf, die als längst überwunden galten: Typhus, Cholera, Tuberkulose. Ganz zu schweigen von den sozialen Problemen: Prostitution, Drogenkonsum und Kinderarbeit. Eine ökologische Katastrophe bahnt sich an als Folge der Entwaldung, des Einsatzes von Napalm, der gewaltsamen Vertreibungen, die die Menschenmengen in den Städten noch weiter wachsen lassen. -

    Und auch die Fundamentalisten sind nicht verschwunden. Im nächsten Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Der junge Unternehmer Djamél Ait Ganá sieht ihnen mit Sorge entgegen:

    Wir sind wieder am Ausgangspunkt. Bis 1999 hat der Terrorismus einen fatalen Schlag erhalten. Heute taucht er wieder auf, wegen der Politik Daran sind sie schuld. Wir sind in derselben Phase wie 1991.

    "Sie", das sind die Generäle und ihre Allmacht. Sie stehen hinter Präsidentschaftskandidaten und lassen neue Parteien zu. Djamel Ait Gana zieht daraus die Konsequenz:

    So wie es aussieht, werde ich nicht wählen. – Man sagt uns, wählt entweder uns oder die Fundamentalisten. Ich will weder die einen noch die anderen. Sich enthalten, die Wahl zu boykottieren, ist eine Art, sie allein zu lassen, verstehen Sie. Sie können regieren, sie können eine begrenzte Zeit lang regieren, aber ohne das Volk können sie nicht viel erreichen. Da können sie sich nicht lange halten. Deshalb weisen wir alles zurück, was von den Machthabern kommt, ihre Wahlen inbegriffen.