In Deutschland wird kräftig aufgeräumt: Wir schreiben den 14. März 2003. Ein lange angekündigter Ruck geht durchs Land, der Bundeskanzler hält seine große Reformrede. Er kündigt grundlegende Veränderungen an, die endlich die Lohnnebenkosten senken und für mehr Beschäftigung sorgen sollen. Ganz unter dem Eindruck des drohenden Irak-Krieges herrscht damals erstaunliche Ruhe an der Reformerfront, doch mittlerweile erfasst der Ruck auch die eigenen Reihen: Linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter fühlen sich als Retter des Sozialstaates gefordert:
Durch Kürzen von Sozialleistungen sind noch nie Jobs geschaffen worden.
Ursula Engelen-Kefer, DGB-Vize und SPD-Vorstandsmitglied, sagt Schröders Agenda 2010 den Kampf an, und selbst in der eigenen Bundestagsfraktion ist dem Kanzler eine Mehrheit für sein Reformprojekt nicht sicher. Die Genossen wehren sich gegen ein vermeintliches sozialpolitisches Godesberg. Sonderparteitag und Mitgliederbegehren sollen den SPD-Vorsitzenden stoppen. Doch Gerhard Schröder bleibt hart – es gilt das gesprochene Wort aus dem Bundestag:
Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner.
Dieser Vorstoß des Bundeskanzlers soll in zwei zentrale Gesetzesvorhaben münden, die noch in diesem Jahr verabschiedet werden sollen. Das erste Paket, das bereits am 28. Mai im Bundeskabinett vorgelegt wird, umfasst die angestrebten Änderungen im Arbeitsrecht. Darunter die Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und die Änderungen im Handwerksrecht. Allein letztere sind im Bundesrat zustimmungspflichtig. Die Reformen im Arbeitsrecht und beim Arbeitslosengeld sind zustimmungsfrei.
Drei Punkte umfasst die Reform des Kündigungsschutzrechtes. Der Schwellenwert von fünf Mitarbeitern soll dadurch umgangen werden, dass befristet angestellte Mitarbeiter darauf nicht angerechnet werden. Allerdings verlangt die aktuelle Rechtsprechung, dass die Zahl der befristet Angestellten, die Kernbelegschaft nicht wesentlich übersteigen darf. Für Kleinbetriebe entstünde hier dennoch ein neuer Spielraum für Einstellungen. Ergänzt wird das Kündigungsschutzrecht um eine Abfindungsoption, die die Arbeitnehmer bei betriebsbedingter Kündigung alternativ zur Klage vor dem Arbeitsgericht wählen können. Die Höhe dieser Abfindung soll gesetzlich festgelegt werden.
So umstritten diese Änderungen sind: Ungleich mehr Sprengkraft birgt die vorgesehene Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Grundsätzlich soll das Arbeitslosengeld künftig nicht mehr länger als 12 Monate gezahlt werden. Nur Arbeitnehmer über 55 Jahren sollen für 18 Monate Unterstützung bekommen. Damit soll die heute übliche Frühverrentung – Arbeitnehmer über 57 Jahren können bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld beziehen - begrenzt und Spielraum für Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung geschaffen werden. Aus Gründen des Vertrauensschutzes kann diese Änderung jedoch erst ab dem Jahr 2006 in Kraft treten.
Doch der Sinn dieser Reform erschließt sich nur im Zusammenspiel mit dem zweiten Reformpaket, das Mitte August im Kabinett verabschiedet werden soll: Dem Umbau der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit und der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Da liegt der eigentliche Hebel zur Veränderung des Arbeitsmarktes in Deutschland. Da liegt der Hebel, um mit Fug und Recht sagen zu können, wir werden in Zukunft nicht mehr die Arbeitslosigkeit finanzieren - das ist nicht mehr das Leitmotiv der deutschen Arbeitsmarktpolitik -, sondern wir werden die Vermittlung in Arbeit fördern.
Sagt Arbeitsminister Wolfgang Clement. Dieses Paket kommt einer Herkulesaufgabe gleich, weil darüber grundsätzliche Strukturen geändert werden. Die schnellere Vermittlung in Arbeit durch die neuen Job Center soll Vorrang vor allen staatlichen Transferleistungen bekommen. Durch die Zusammenlegung der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe soll es zudem in den Arbeitsämtern künftig nur noch eine Anlaufstelle geben, bei der alle Fäden über Beschäftigungsmöglichkeiten, Förderwege und finanzielle Leistungen zusammenlaufen. Faktisch bedeutet das, dass die Sozialämter der Kommunen in die Arbeitsämter integriert werden. Damit würden die heute üblichen Verschiebebahnhöfe zwischen kommunaler Sozialhilfe und den aus Beiträgen finanzierten Leistungen der Arbeitsämter stillgelegt werden. Hinzukommen freie Träger als Agenten für den nach wie vor notwendigen 2. Arbeitsmarkt. Kann ein Arbeitsloser in den ersten 12 Monaten nicht vermittelt werden, greift das neue Arbeitslosengeld II, eine aus Steuermitteln finanzierte Leistung, die künftig dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen soll. In diese Leistung einbezogen werden aber auch die schätzungsweise 1 Mio. arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in Deutschland. Sie sollen künftig, sofern sie in der Lage sind, mindestens drei Stunden pro Tag zu arbeiten, den Job Centern zur Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sollen finanzielle Anreize als Brücke in die Erwerbstätigkeit wirken.
Die Zuverdienstmöglichkeiten werden höher liegen als bisher. Wir sind noch dabei zu definieren, wie hoch. Aber wir werden die Anrechnungsmöglichkeiten deutlich verbessern, weil wir Menschen ermutigen wollen, aus der Sozialhilfe und der Erwerbslosigkeit in eine Erwerbstätigkeit zu kommen.
In diesem Zusammenspiel von Kürzungen und Strukturveränderungen auf der einen und neuen Anreizen zur Arbeitsaufnahme durch höhere Hinzuverdienstgrenzen auf der anderen Seite liegt für Wirtschaftsminister Wolfgang Clement der Kern- und Knackpunkt der ganzen Reformagenda:
Ich rede hier über einen Sachverhalt, in dem es darum geht, soziale Gerechtigkeit und soziale Freiheit herzustellen, nicht zu beschneiden, sondern dem Faktor Arbeit wieder einen Inhalt zu geben. Und der Inhalt ist, dass man aus dem, was man tut, sein selbstbestimmtes Leben weitestgehend führen kann.
Möglich werden sollen diese ergänzenden Beschäftigungsverhältnisse auch durch die neuen Minijobs, die seit Anfang dieses Monats in Kraft sind, oder aber die ICH AG’s für geringverdienende Selbständige. Zugleich soll die Durchlässigkeit auf dem Arbeitsmarkt durch die Reform des Handwerksrechts erhöht werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass kleine und mittlere Unternehmen als das Rückgrat der Beschäftigung in Deutschland gelten, wirkt das aktuelle Handwerksrecht beschäftigungsfeindlich. So soll es künftig die Kategorie einfache Tätigkeiten im Handwerksrecht geben, die besonders den ICH AG’s Chancen auf dem Markt einräumen soll. Außerdem soll der Meistervorbehalt nur noch auf Berufszweige mit klarem Gefährdungspotential wie etwa Heizungsinstallateure beschränkt bleiben. In anderen Berufsfeldern sollen Gesellen künftig nach 10 Jahren selbstständig ein Handwerk ausüben können. Das soll die Existenzgründung erleichtern und dem Handwerk wieder goldenen Boden unter die Füße bescheren. Im Blick auf dieses Gesamtpaket zeigt sich der Wirtschaftsminister zuversichtlich:
Sozial ist, Menschen in Arbeit zu bringen, das habe ich oft genug gesagt, und das ist übrigens auch sozialdemokratisch vom Scheitel bis zur Sohle.
Darüber können manche Genossen nur müde lächeln. Für sie hat Schröders Reformliste nur wenig mit echter Sozialdemokratie zu tun: Über 20 Jahre schon sitzt Sigrid Skarpelis-Sperck im Bundestag. Jetzt ist die Volkswirtin aus Bayern zur Wortführerin der Reformskeptiker in der SPD geworden:
Dass wir diese Funktion der Schutzmacht des kleinen Mannes aufgeben, das darf nicht sein. Dafür kämpfen wir auch.
Dass plötzlich weitaus mehr auf den Barrikaden sind als von der Parteispitze erwartet, liegt nicht zuletzt daran, dass nun etwas anderes beschlossen werden soll als im Wahlkampf angekündigt. Weniger Geld für Langzeitarbeitslose – das ist noch kein Thema, als Gerhard Schröder im April 2002 das Wahlprogramm der SPD vorstellt: "Mit uns nicht zu machen!" so der Parteichef kurz und knapp, wohlwissend, dass so etwas in der SPD – zumindest vor einer Wahl – nicht durchsetzbar wäre. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kündigt er an, damit es für die linken Genossen weniger dramatisch klingt, spricht er von "Verzahnung":
Aus der Tatsache, dass dieser Begriff immerhin die Zustimmung derer gefunden hat, die sich im Parteivorstand aus beruflichen Gründen den Gewerkschaften - ich drücke mich jetzt sehr diplomatisch aus - besonders verpflichtet fühlen, mögen sie ersehen, dass uns das wichtig war, dass wir die Menschen, die die Beitragszahler vertreten, mitnehmen auf die Reise in die notwendige Veränderung.
Diejenigen in der SPD, die sich damals noch von Schröder mitnehmen ließen, sie steigen jetzt aus. Verkürztes Arbeitslosengeld, weniger Arbeitslosenhilfe, privat finanziertes Krankengeld – die zahlreichen Gewerkschafter unter den Genossen wollen da nicht folgen. Doch Änderungen schließt Schröder von Anfang an aus:
Die Agenda 2010 wird Punkt für Punkt umgesetzt. Über Details wird man reden. Über die Linie nicht.
An die Linie knüpft Schröder sein politisches Schicksal. Der Kanzler stellt der Partei die Vertrauensfrage. Einem Sonderparteitag stimmt er zwar auf Drängen mehrerer Landesverbände zähneknirschend zu – doch es gilt die Devise "Diskutieren ja – verändern nein!" Generalsekretär Olaf Scholz:
Es geht um das Gesamtkonzept der Reform-Agenda 2010 und nicht um Teppichhandel.
Ein Satz, der den Unmut noch fördert – der Parteiführung wird Arroganz vorgeworfen.
Skarpelis-Sperck: Ich halte es für abgeschmackt, Diskussionen in der SPD mit einem Teppichhandel zu vergleichen. So sieht das auch Fraktionskollege Fritz Schösser. Schösser ist DGB-Chef in Bayern – und er gehört zu den Drahtziehern des ersten Mitgliederbegehrens in der 140-jährigen SPD-Geschichte. Für ihn steht eines fest:
Wenn es zu Paradigmenwechseln in der Sozialpolitik kommen soll, und wenn im Grunde abgewichen werden soll von unserem Wahlprogramm und auch vom Grundsatzprogramm der SPD, dass dazu eine Mitgliederdebatte stattfindet,...
Zwölf sozialdemokratische Abgeordnete wagen den Aufstand gegen Gerhard Schröder. Ottmar Schreiner, Chef des Arbeitnehmerflügels hält es für sozial ungerecht, ausgerechnet den Älteren das Arbeitslosengeld zu kürzen:
Ein 55jähriger, der arbeitslos wird, hat auf dem deutschen Arbeitsmarkt unter dem Vorzeichen von 4,7 Millionen Arbeitslosen überhaupt keine einzige Chance, jemals wieder einen Arbeitsplatz zu finden. In der Kombination, Rückführung der Bezugsdauer Arbeitslosengeld und Herabsetzung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, würde der in Rede stehende 55jährige dann innerhalb kürzester Zeit in der Sozialhilfe landen, und das trotz jahrzehntelanger Beitragsleistung. Das halte ich unter keinen Umständen für vertretbar.
Hinzu kommt, dass das Krankengeld ganz von den Arbeitnehmern gezahlt werden soll. "Alles zusammen schwächt die Binnennachfrage," klagt der Saarländer ganz im Sinne seines Weggefährten Oskar Lafontaine, "die Leute haben immer weniger Geld in der Tasche". Zu kurz gedacht, hält ihm Arbeitsminister Clement entgegen:
Das Ergebnis ist genau entgegengesetzt. Es ist mehr Kaufkraft anschließend da. Wir reden nicht mehr darüber, dass man verharrt in Arbeitslosigkeit, sondern dass man hinzuverdienen kann.
Doch die Nachfragepolitiker in der Fraktion lassen sich auch davon nicht überzeugen. Sie wollen staatliche Konjunkturprogramme, ein Ende des strikten Sparkurses, unter Inkaufnahme einer höheren Neuverschuldung. "Wir dürfen uns nicht kaputt sparen", fordert Sigrid Skarpelis-Sperck. Die Volkswirtin aus Pfronten will einen radikalen Kurswechsel bei Steuern und Finanzen – und vor allem eine stärkere Belastung der Wohlhabenden:
Ich sehe zum Beispiel keine Notwendigkeit, eine Zinsabgeltungssteuer einzuführen, d. h. Einkommen aus großen Vermögen nur mit 25 Prozent zu besteuern, während der normale Einkommensbezieher glücklich wäre, der normale Steuerzahler, 25 Prozent Steuern nur bezahlen zu müssen. Ich verstehe solche Steuergeschenke an die großen Vermögen überhaupt nicht.
Ein SPD-Dauerbrenner: Schon 1999 mussten Schröder und Eichel die Genossen beruhigen: Höhere Steuern auf vererbte Immobilien wurden damals angekündigt, eine lückenlose Zinsbesteuerung, ein verstärkter Kampf gegen Steuerhinterziehung – umsetzen ließ sich nur wenig, und so wird der Ruf nach der Vermögensteuer jetzt wieder laut, gerade dann, wenn bei den Arbeitslosen gespart werden soll:
Wir halten es auch schon für sinnvoll, wenn man zu einer Vermögensteuer kommen könnte.
Meint auch Michael Müller, Sprecher der gemäßigten Linken in der Fraktion:
Ich sehe im Augenblick nicht die Mehrheitsverhältnisse dafür im Bundesrat. Und insofern sollte man es zwar fordern, auch dafür sich einsetzen, aber sollte realistisch sein, das ist im Augenblick nicht durchsetzbar.
Müller gilt als Vermittler im Streit zwischen Partei- und Fraktionsspitze und den Unzufriedenen, die dem Schröder-Kurs nicht folgen wollen. Korrekturen bei der Zinsbesteuerung sieht er als mögliche Brücke. Steuern auf den Verkauf von Aktiengewinnen sind wieder im Gespräch. Schröder aber warnt: Es ist falsch, das Sozialsystem nur dann zu reformieren, wenn in der Steuerpolitik anderen Gruppen etwas weggenommen wird. Sigmar Gabriel, Schröders einstiger Zögling aus Niedersachsen, warnt bereits: Da rasen zwei Züge aufeinander zu und keiner stoppt sie. Die rot-grüne Mehrheit für die Reformagenda jedenfalls wackelt. Vier Neinsager könnte der Kanzler verkraften – Ottmar Schreiner hat sich als erster festgelegt: Kommt es nicht zu deutlichen Änderungen am Reformpaket, dann stimme ich nicht zu:
Die Unruhe in der Partei ist sehr groß. Bei mir stapeln sich hier die Protestbriefe, und der Tenor ist häufig: Wo unterscheidet sich die SPD in den zentralen wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Fragen noch von den konservativ-liberalen Parteien.
Auch die Basis der Bündnisgrünen verlangt nach Antworten auf solche Fragen. Und ganz ähnlich wie die SPD-Führung wollte auch die Spitze des Koalitionspartners lange Zeit nicht wahrhaben, wie groß der Unmut über die angekündigten sozialen Einschnitte wirklich ist:
Umfrage Ich halte z.B. nichts von einer Absenkung des Arbeitslosengeldes, denn die Leute, die Arbeitslosengeld oder gar -hilfe bekommen, die sind so schon am unteren Rand, wo man noch leben kann damit. Ich glaube, dass die sozialen Einschnitte die Probleme eher verstärken, als dass es wirklich eine Lösung der Probleme ist.
Es ist natürlich so: Mittelstand muss gefördert werden. Aber dann deswegen, weil man kein Geld mehr für Mittelstandsförderung mehr hat, auf die Idee zu kommen, deswegen den Kündigungsschutz zu lockern. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen und nicht dann auch noch die Kündigung von Arbeitsplätzen erleichtern.
Hinter vorgehaltener Hand ist die Rede von unausgewogenen Plänen oder sozialem Kahlschlag. Auf Initiative des Kreisverbandes Münster musste sich der Bundesvorstand der Forderung nach einem Sonderparteitag beugen. Erstmals streiten sich die Grünen jetzt also um Sozialreformen. Informationsdefizit, Misstrauen oder basisdemokratischer Debatteneffekt – für den Abgeordneten Winfried Nachtweih aus Münster kein Problem:
Wenn es also eben dieses starke Misstrauen gibt, dann soll es sich artikulieren. Das ist das Beste für rot-grüne Politik.
Der grüne Reformmotor stockt. Den Rückwärtsgang könnten die Delegierten auf dem Sonderparteitag im Juni einlegen, so wie sie es schon zweimal im letzten Jahr taten, als es nur um die eigenen Strukturen ging. Deshalb warnt auch die Linke, bindende Beschlüsse in der Koalition einzugehen, die nicht von der Basis abgesegnet sind.
Wichtig ist, dass wir darauf achten, dass der Parteitag keinen Alibi-Charakter bekommt, nach dem Motto: Wir können mal darüber reden, aber das ist leider zu spät. Das darf nicht passieren.
Der Bundestagsabgeordnete Winfried Herrmann gibt die Richtung vor:
Es wird das wesentliche Ziel des Parteitages sein, dass wir im Detail diese Reformen so korrigieren, dass man sagen kann: Das ist sozial zumutbar; es trifft nicht die Schwächsten.
Doch davon wollen die Strategen in der Bundesgeschäftsstelle erst einmal nichts wissen. Die Basis soll zwar vor den Bundestagsbeschlüssen beteiligt werden, sagt Parteichef Reinhard Bütikofer, am Ziel der Reformagenda 2010 wird aber festgehalten. Deutlicher wird der bayerische Abgeordnete Jerzey Montag:
Natürlich muss man die Spannung aushalten, dass wir, egal was die Partei beschließt, in der Fraktion hier und in der Koalition mit der SPD, in der realen Situation, in der wir uns in der Bundesrepublik Deutschland befinden, nur einen Teil werden umsetzen können.
Zentraler Punkt der Kritiker: die Grünen geben ihren Anspruch auf, die Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein, Stichwort: soziale Balance. Trotzdem glaubt der parlamentarische Geschäftsführer nicht mehr an einen grundsätzlichen Kurswechsel. Volker Beck droht unverhohlen der innerparteilichen Opposition, wenn er eindringlich davor warnt,...
...dass wenn Rot-Grün diese Fragen jetzt nicht klärt, dass die Koalition diese Reform nicht schafft, und es nicht schafft, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, dass dann die andere Seite des Hauses nach vier Jahren das Ruder in die Hand bekommt, und dann sind Leute dran, die mit einer Lust am Einschnitt, mit einer Lust an der sozialen Demontage Politik machen.
Bis zum Juni wollen die Parteistrategen jetzt ordentlich die Werbetrommel für das rot-grüne Konzept rühren. Reformen kann man nicht oktroyieren, sagt Reinhard Bütikofer. So sieht er durchaus noch Änderungsbedarf im Detail: Wie viel kann in Zukunft ein Bezieher von Arbeitslosengeld 2 hinzuverdienen oder, wie viel seines privaten Vermögens wird ihm auf die Höhe der staatlichen Unterstützung angerechnet. Allerdings, stellt der Vorsitzende fest - so hat es der Parteirat längst beschlossen - es geht nicht darum, den Sozialstaat einzureißen, sondern ihn umzubauen. Kern ist,...
...dass die entscheidende Gerechtigkeitsfrage in unserem Land, die wir zu lösen haben, die Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt ist. Wenn es nicht gelingt, für mehr Menschen Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen, dann bleiben Diskussionen über soziale Gerechtigkeit in unserem Land abstrakt.
Doch vom Tisch sind diese Diskussionen nicht: Montag wird die Linie im Parteivorstand besprochen – erst dann wird sich andeuten, inwieweit der Kanzler zu leichten Korrekturen bereit ist und worüber auf dem Sonderparteitag am 1. Juni überhaupt gesprochen werden kann. Ausnahmen beim verkürzten Arbeitslosengeld für Ältere, keine weitreichende Anrechnung von Privatvermögen, Sonderregelungen für den strukturschwachen Osten. Darauf könnte sich Schröder einlassen, ohne das Gesicht zu verlieren. Bei der Lockerung des Kündigungsschutzes wird er bleiben – doch da werben ja selbst Leute wie Klaus Brandner, ehemals IG Metall- Funktionär und heute Arbeitsmarktexperte der Fraktion, für Zustimmung:
Das, was jetzt an kündigungsschutzrechtlichen Veränderungen angedacht ist, ändert an der Substanz des Kündigungsschutzes so gut wie nichts.
Der designierte IG-Metall-Chef Jürgen Peters ist da ganz anderer Ansicht. Er unterstützt das Mitgliederbegehren der sozialdemokratischen Reformkritiker:
Im Zweifel werden wir uns auf den Marktplätzen treffen, um lautstark zu sagen, was wir nicht wollen und was wir bereit sind mitzumachen. Wir werden einen heißen Mai organisieren müssen.
Besonders groß ist der Widerstand beim Krankengeld. Die Aufgabe der paritätischen Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wäre ein Systemwechsel, allen Beschwichtigungen von Fraktionschef Franz Müntefering zum Trotz:
Da wird unterstellt, da muss nun der Kranke sich selbst versichern, wenn es um Krankengeld geht. Das ist nicht so. Wir werden dieses Krankengeld im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung organisieren. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlen den Beitrag alleine. Das ist aber auch die einzige Veränderung. Das andere bleibt. Es bleibt solidarisch finanziert.
Vom SPD-Parteitag am 1. Juni wird am Ende abhängen, ob Schröder mit Zugeständnissen seine Kritiker zum Einlenken bewegen kann, das langwierige Mitgliederbegehren zurückzuziehen und ihm im Bundestag zu folgen. Franz Müntefering appelliert weiter an die Verantwortung der zwölf Dissidenten. Die Alternative ist Opposition, warnt er: "Es geht um alles oder nichts":
Wir können auch gar nichts tun. Dafür haben wir uns aber nicht wählen lassen.
Durch Kürzen von Sozialleistungen sind noch nie Jobs geschaffen worden.
Ursula Engelen-Kefer, DGB-Vize und SPD-Vorstandsmitglied, sagt Schröders Agenda 2010 den Kampf an, und selbst in der eigenen Bundestagsfraktion ist dem Kanzler eine Mehrheit für sein Reformprojekt nicht sicher. Die Genossen wehren sich gegen ein vermeintliches sozialpolitisches Godesberg. Sonderparteitag und Mitgliederbegehren sollen den SPD-Vorsitzenden stoppen. Doch Gerhard Schröder bleibt hart – es gilt das gesprochene Wort aus dem Bundestag:
Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner.
Dieser Vorstoß des Bundeskanzlers soll in zwei zentrale Gesetzesvorhaben münden, die noch in diesem Jahr verabschiedet werden sollen. Das erste Paket, das bereits am 28. Mai im Bundeskabinett vorgelegt wird, umfasst die angestrebten Änderungen im Arbeitsrecht. Darunter die Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und die Änderungen im Handwerksrecht. Allein letztere sind im Bundesrat zustimmungspflichtig. Die Reformen im Arbeitsrecht und beim Arbeitslosengeld sind zustimmungsfrei.
Drei Punkte umfasst die Reform des Kündigungsschutzrechtes. Der Schwellenwert von fünf Mitarbeitern soll dadurch umgangen werden, dass befristet angestellte Mitarbeiter darauf nicht angerechnet werden. Allerdings verlangt die aktuelle Rechtsprechung, dass die Zahl der befristet Angestellten, die Kernbelegschaft nicht wesentlich übersteigen darf. Für Kleinbetriebe entstünde hier dennoch ein neuer Spielraum für Einstellungen. Ergänzt wird das Kündigungsschutzrecht um eine Abfindungsoption, die die Arbeitnehmer bei betriebsbedingter Kündigung alternativ zur Klage vor dem Arbeitsgericht wählen können. Die Höhe dieser Abfindung soll gesetzlich festgelegt werden.
So umstritten diese Änderungen sind: Ungleich mehr Sprengkraft birgt die vorgesehene Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Grundsätzlich soll das Arbeitslosengeld künftig nicht mehr länger als 12 Monate gezahlt werden. Nur Arbeitnehmer über 55 Jahren sollen für 18 Monate Unterstützung bekommen. Damit soll die heute übliche Frühverrentung – Arbeitnehmer über 57 Jahren können bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld beziehen - begrenzt und Spielraum für Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung geschaffen werden. Aus Gründen des Vertrauensschutzes kann diese Änderung jedoch erst ab dem Jahr 2006 in Kraft treten.
Doch der Sinn dieser Reform erschließt sich nur im Zusammenspiel mit dem zweiten Reformpaket, das Mitte August im Kabinett verabschiedet werden soll: Dem Umbau der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit und der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Da liegt der eigentliche Hebel zur Veränderung des Arbeitsmarktes in Deutschland. Da liegt der Hebel, um mit Fug und Recht sagen zu können, wir werden in Zukunft nicht mehr die Arbeitslosigkeit finanzieren - das ist nicht mehr das Leitmotiv der deutschen Arbeitsmarktpolitik -, sondern wir werden die Vermittlung in Arbeit fördern.
Sagt Arbeitsminister Wolfgang Clement. Dieses Paket kommt einer Herkulesaufgabe gleich, weil darüber grundsätzliche Strukturen geändert werden. Die schnellere Vermittlung in Arbeit durch die neuen Job Center soll Vorrang vor allen staatlichen Transferleistungen bekommen. Durch die Zusammenlegung der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe soll es zudem in den Arbeitsämtern künftig nur noch eine Anlaufstelle geben, bei der alle Fäden über Beschäftigungsmöglichkeiten, Förderwege und finanzielle Leistungen zusammenlaufen. Faktisch bedeutet das, dass die Sozialämter der Kommunen in die Arbeitsämter integriert werden. Damit würden die heute üblichen Verschiebebahnhöfe zwischen kommunaler Sozialhilfe und den aus Beiträgen finanzierten Leistungen der Arbeitsämter stillgelegt werden. Hinzukommen freie Träger als Agenten für den nach wie vor notwendigen 2. Arbeitsmarkt. Kann ein Arbeitsloser in den ersten 12 Monaten nicht vermittelt werden, greift das neue Arbeitslosengeld II, eine aus Steuermitteln finanzierte Leistung, die künftig dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen soll. In diese Leistung einbezogen werden aber auch die schätzungsweise 1 Mio. arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in Deutschland. Sie sollen künftig, sofern sie in der Lage sind, mindestens drei Stunden pro Tag zu arbeiten, den Job Centern zur Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sollen finanzielle Anreize als Brücke in die Erwerbstätigkeit wirken.
Die Zuverdienstmöglichkeiten werden höher liegen als bisher. Wir sind noch dabei zu definieren, wie hoch. Aber wir werden die Anrechnungsmöglichkeiten deutlich verbessern, weil wir Menschen ermutigen wollen, aus der Sozialhilfe und der Erwerbslosigkeit in eine Erwerbstätigkeit zu kommen.
In diesem Zusammenspiel von Kürzungen und Strukturveränderungen auf der einen und neuen Anreizen zur Arbeitsaufnahme durch höhere Hinzuverdienstgrenzen auf der anderen Seite liegt für Wirtschaftsminister Wolfgang Clement der Kern- und Knackpunkt der ganzen Reformagenda:
Ich rede hier über einen Sachverhalt, in dem es darum geht, soziale Gerechtigkeit und soziale Freiheit herzustellen, nicht zu beschneiden, sondern dem Faktor Arbeit wieder einen Inhalt zu geben. Und der Inhalt ist, dass man aus dem, was man tut, sein selbstbestimmtes Leben weitestgehend führen kann.
Möglich werden sollen diese ergänzenden Beschäftigungsverhältnisse auch durch die neuen Minijobs, die seit Anfang dieses Monats in Kraft sind, oder aber die ICH AG’s für geringverdienende Selbständige. Zugleich soll die Durchlässigkeit auf dem Arbeitsmarkt durch die Reform des Handwerksrechts erhöht werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass kleine und mittlere Unternehmen als das Rückgrat der Beschäftigung in Deutschland gelten, wirkt das aktuelle Handwerksrecht beschäftigungsfeindlich. So soll es künftig die Kategorie einfache Tätigkeiten im Handwerksrecht geben, die besonders den ICH AG’s Chancen auf dem Markt einräumen soll. Außerdem soll der Meistervorbehalt nur noch auf Berufszweige mit klarem Gefährdungspotential wie etwa Heizungsinstallateure beschränkt bleiben. In anderen Berufsfeldern sollen Gesellen künftig nach 10 Jahren selbstständig ein Handwerk ausüben können. Das soll die Existenzgründung erleichtern und dem Handwerk wieder goldenen Boden unter die Füße bescheren. Im Blick auf dieses Gesamtpaket zeigt sich der Wirtschaftsminister zuversichtlich:
Sozial ist, Menschen in Arbeit zu bringen, das habe ich oft genug gesagt, und das ist übrigens auch sozialdemokratisch vom Scheitel bis zur Sohle.
Darüber können manche Genossen nur müde lächeln. Für sie hat Schröders Reformliste nur wenig mit echter Sozialdemokratie zu tun: Über 20 Jahre schon sitzt Sigrid Skarpelis-Sperck im Bundestag. Jetzt ist die Volkswirtin aus Bayern zur Wortführerin der Reformskeptiker in der SPD geworden:
Dass wir diese Funktion der Schutzmacht des kleinen Mannes aufgeben, das darf nicht sein. Dafür kämpfen wir auch.
Dass plötzlich weitaus mehr auf den Barrikaden sind als von der Parteispitze erwartet, liegt nicht zuletzt daran, dass nun etwas anderes beschlossen werden soll als im Wahlkampf angekündigt. Weniger Geld für Langzeitarbeitslose – das ist noch kein Thema, als Gerhard Schröder im April 2002 das Wahlprogramm der SPD vorstellt: "Mit uns nicht zu machen!" so der Parteichef kurz und knapp, wohlwissend, dass so etwas in der SPD – zumindest vor einer Wahl – nicht durchsetzbar wäre. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kündigt er an, damit es für die linken Genossen weniger dramatisch klingt, spricht er von "Verzahnung":
Aus der Tatsache, dass dieser Begriff immerhin die Zustimmung derer gefunden hat, die sich im Parteivorstand aus beruflichen Gründen den Gewerkschaften - ich drücke mich jetzt sehr diplomatisch aus - besonders verpflichtet fühlen, mögen sie ersehen, dass uns das wichtig war, dass wir die Menschen, die die Beitragszahler vertreten, mitnehmen auf die Reise in die notwendige Veränderung.
Diejenigen in der SPD, die sich damals noch von Schröder mitnehmen ließen, sie steigen jetzt aus. Verkürztes Arbeitslosengeld, weniger Arbeitslosenhilfe, privat finanziertes Krankengeld – die zahlreichen Gewerkschafter unter den Genossen wollen da nicht folgen. Doch Änderungen schließt Schröder von Anfang an aus:
Die Agenda 2010 wird Punkt für Punkt umgesetzt. Über Details wird man reden. Über die Linie nicht.
An die Linie knüpft Schröder sein politisches Schicksal. Der Kanzler stellt der Partei die Vertrauensfrage. Einem Sonderparteitag stimmt er zwar auf Drängen mehrerer Landesverbände zähneknirschend zu – doch es gilt die Devise "Diskutieren ja – verändern nein!" Generalsekretär Olaf Scholz:
Es geht um das Gesamtkonzept der Reform-Agenda 2010 und nicht um Teppichhandel.
Ein Satz, der den Unmut noch fördert – der Parteiführung wird Arroganz vorgeworfen.
Skarpelis-Sperck: Ich halte es für abgeschmackt, Diskussionen in der SPD mit einem Teppichhandel zu vergleichen. So sieht das auch Fraktionskollege Fritz Schösser. Schösser ist DGB-Chef in Bayern – und er gehört zu den Drahtziehern des ersten Mitgliederbegehrens in der 140-jährigen SPD-Geschichte. Für ihn steht eines fest:
Wenn es zu Paradigmenwechseln in der Sozialpolitik kommen soll, und wenn im Grunde abgewichen werden soll von unserem Wahlprogramm und auch vom Grundsatzprogramm der SPD, dass dazu eine Mitgliederdebatte stattfindet,...
Zwölf sozialdemokratische Abgeordnete wagen den Aufstand gegen Gerhard Schröder. Ottmar Schreiner, Chef des Arbeitnehmerflügels hält es für sozial ungerecht, ausgerechnet den Älteren das Arbeitslosengeld zu kürzen:
Ein 55jähriger, der arbeitslos wird, hat auf dem deutschen Arbeitsmarkt unter dem Vorzeichen von 4,7 Millionen Arbeitslosen überhaupt keine einzige Chance, jemals wieder einen Arbeitsplatz zu finden. In der Kombination, Rückführung der Bezugsdauer Arbeitslosengeld und Herabsetzung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, würde der in Rede stehende 55jährige dann innerhalb kürzester Zeit in der Sozialhilfe landen, und das trotz jahrzehntelanger Beitragsleistung. Das halte ich unter keinen Umständen für vertretbar.
Hinzu kommt, dass das Krankengeld ganz von den Arbeitnehmern gezahlt werden soll. "Alles zusammen schwächt die Binnennachfrage," klagt der Saarländer ganz im Sinne seines Weggefährten Oskar Lafontaine, "die Leute haben immer weniger Geld in der Tasche". Zu kurz gedacht, hält ihm Arbeitsminister Clement entgegen:
Das Ergebnis ist genau entgegengesetzt. Es ist mehr Kaufkraft anschließend da. Wir reden nicht mehr darüber, dass man verharrt in Arbeitslosigkeit, sondern dass man hinzuverdienen kann.
Doch die Nachfragepolitiker in der Fraktion lassen sich auch davon nicht überzeugen. Sie wollen staatliche Konjunkturprogramme, ein Ende des strikten Sparkurses, unter Inkaufnahme einer höheren Neuverschuldung. "Wir dürfen uns nicht kaputt sparen", fordert Sigrid Skarpelis-Sperck. Die Volkswirtin aus Pfronten will einen radikalen Kurswechsel bei Steuern und Finanzen – und vor allem eine stärkere Belastung der Wohlhabenden:
Ich sehe zum Beispiel keine Notwendigkeit, eine Zinsabgeltungssteuer einzuführen, d. h. Einkommen aus großen Vermögen nur mit 25 Prozent zu besteuern, während der normale Einkommensbezieher glücklich wäre, der normale Steuerzahler, 25 Prozent Steuern nur bezahlen zu müssen. Ich verstehe solche Steuergeschenke an die großen Vermögen überhaupt nicht.
Ein SPD-Dauerbrenner: Schon 1999 mussten Schröder und Eichel die Genossen beruhigen: Höhere Steuern auf vererbte Immobilien wurden damals angekündigt, eine lückenlose Zinsbesteuerung, ein verstärkter Kampf gegen Steuerhinterziehung – umsetzen ließ sich nur wenig, und so wird der Ruf nach der Vermögensteuer jetzt wieder laut, gerade dann, wenn bei den Arbeitslosen gespart werden soll:
Wir halten es auch schon für sinnvoll, wenn man zu einer Vermögensteuer kommen könnte.
Meint auch Michael Müller, Sprecher der gemäßigten Linken in der Fraktion:
Ich sehe im Augenblick nicht die Mehrheitsverhältnisse dafür im Bundesrat. Und insofern sollte man es zwar fordern, auch dafür sich einsetzen, aber sollte realistisch sein, das ist im Augenblick nicht durchsetzbar.
Müller gilt als Vermittler im Streit zwischen Partei- und Fraktionsspitze und den Unzufriedenen, die dem Schröder-Kurs nicht folgen wollen. Korrekturen bei der Zinsbesteuerung sieht er als mögliche Brücke. Steuern auf den Verkauf von Aktiengewinnen sind wieder im Gespräch. Schröder aber warnt: Es ist falsch, das Sozialsystem nur dann zu reformieren, wenn in der Steuerpolitik anderen Gruppen etwas weggenommen wird. Sigmar Gabriel, Schröders einstiger Zögling aus Niedersachsen, warnt bereits: Da rasen zwei Züge aufeinander zu und keiner stoppt sie. Die rot-grüne Mehrheit für die Reformagenda jedenfalls wackelt. Vier Neinsager könnte der Kanzler verkraften – Ottmar Schreiner hat sich als erster festgelegt: Kommt es nicht zu deutlichen Änderungen am Reformpaket, dann stimme ich nicht zu:
Die Unruhe in der Partei ist sehr groß. Bei mir stapeln sich hier die Protestbriefe, und der Tenor ist häufig: Wo unterscheidet sich die SPD in den zentralen wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Fragen noch von den konservativ-liberalen Parteien.
Auch die Basis der Bündnisgrünen verlangt nach Antworten auf solche Fragen. Und ganz ähnlich wie die SPD-Führung wollte auch die Spitze des Koalitionspartners lange Zeit nicht wahrhaben, wie groß der Unmut über die angekündigten sozialen Einschnitte wirklich ist:
Umfrage Ich halte z.B. nichts von einer Absenkung des Arbeitslosengeldes, denn die Leute, die Arbeitslosengeld oder gar -hilfe bekommen, die sind so schon am unteren Rand, wo man noch leben kann damit. Ich glaube, dass die sozialen Einschnitte die Probleme eher verstärken, als dass es wirklich eine Lösung der Probleme ist.
Es ist natürlich so: Mittelstand muss gefördert werden. Aber dann deswegen, weil man kein Geld mehr für Mittelstandsförderung mehr hat, auf die Idee zu kommen, deswegen den Kündigungsschutz zu lockern. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen und nicht dann auch noch die Kündigung von Arbeitsplätzen erleichtern.
Hinter vorgehaltener Hand ist die Rede von unausgewogenen Plänen oder sozialem Kahlschlag. Auf Initiative des Kreisverbandes Münster musste sich der Bundesvorstand der Forderung nach einem Sonderparteitag beugen. Erstmals streiten sich die Grünen jetzt also um Sozialreformen. Informationsdefizit, Misstrauen oder basisdemokratischer Debatteneffekt – für den Abgeordneten Winfried Nachtweih aus Münster kein Problem:
Wenn es also eben dieses starke Misstrauen gibt, dann soll es sich artikulieren. Das ist das Beste für rot-grüne Politik.
Der grüne Reformmotor stockt. Den Rückwärtsgang könnten die Delegierten auf dem Sonderparteitag im Juni einlegen, so wie sie es schon zweimal im letzten Jahr taten, als es nur um die eigenen Strukturen ging. Deshalb warnt auch die Linke, bindende Beschlüsse in der Koalition einzugehen, die nicht von der Basis abgesegnet sind.
Wichtig ist, dass wir darauf achten, dass der Parteitag keinen Alibi-Charakter bekommt, nach dem Motto: Wir können mal darüber reden, aber das ist leider zu spät. Das darf nicht passieren.
Der Bundestagsabgeordnete Winfried Herrmann gibt die Richtung vor:
Es wird das wesentliche Ziel des Parteitages sein, dass wir im Detail diese Reformen so korrigieren, dass man sagen kann: Das ist sozial zumutbar; es trifft nicht die Schwächsten.
Doch davon wollen die Strategen in der Bundesgeschäftsstelle erst einmal nichts wissen. Die Basis soll zwar vor den Bundestagsbeschlüssen beteiligt werden, sagt Parteichef Reinhard Bütikofer, am Ziel der Reformagenda 2010 wird aber festgehalten. Deutlicher wird der bayerische Abgeordnete Jerzey Montag:
Natürlich muss man die Spannung aushalten, dass wir, egal was die Partei beschließt, in der Fraktion hier und in der Koalition mit der SPD, in der realen Situation, in der wir uns in der Bundesrepublik Deutschland befinden, nur einen Teil werden umsetzen können.
Zentraler Punkt der Kritiker: die Grünen geben ihren Anspruch auf, die Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein, Stichwort: soziale Balance. Trotzdem glaubt der parlamentarische Geschäftsführer nicht mehr an einen grundsätzlichen Kurswechsel. Volker Beck droht unverhohlen der innerparteilichen Opposition, wenn er eindringlich davor warnt,...
...dass wenn Rot-Grün diese Fragen jetzt nicht klärt, dass die Koalition diese Reform nicht schafft, und es nicht schafft, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, dass dann die andere Seite des Hauses nach vier Jahren das Ruder in die Hand bekommt, und dann sind Leute dran, die mit einer Lust am Einschnitt, mit einer Lust an der sozialen Demontage Politik machen.
Bis zum Juni wollen die Parteistrategen jetzt ordentlich die Werbetrommel für das rot-grüne Konzept rühren. Reformen kann man nicht oktroyieren, sagt Reinhard Bütikofer. So sieht er durchaus noch Änderungsbedarf im Detail: Wie viel kann in Zukunft ein Bezieher von Arbeitslosengeld 2 hinzuverdienen oder, wie viel seines privaten Vermögens wird ihm auf die Höhe der staatlichen Unterstützung angerechnet. Allerdings, stellt der Vorsitzende fest - so hat es der Parteirat längst beschlossen - es geht nicht darum, den Sozialstaat einzureißen, sondern ihn umzubauen. Kern ist,...
...dass die entscheidende Gerechtigkeitsfrage in unserem Land, die wir zu lösen haben, die Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt ist. Wenn es nicht gelingt, für mehr Menschen Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen, dann bleiben Diskussionen über soziale Gerechtigkeit in unserem Land abstrakt.
Doch vom Tisch sind diese Diskussionen nicht: Montag wird die Linie im Parteivorstand besprochen – erst dann wird sich andeuten, inwieweit der Kanzler zu leichten Korrekturen bereit ist und worüber auf dem Sonderparteitag am 1. Juni überhaupt gesprochen werden kann. Ausnahmen beim verkürzten Arbeitslosengeld für Ältere, keine weitreichende Anrechnung von Privatvermögen, Sonderregelungen für den strukturschwachen Osten. Darauf könnte sich Schröder einlassen, ohne das Gesicht zu verlieren. Bei der Lockerung des Kündigungsschutzes wird er bleiben – doch da werben ja selbst Leute wie Klaus Brandner, ehemals IG Metall- Funktionär und heute Arbeitsmarktexperte der Fraktion, für Zustimmung:
Das, was jetzt an kündigungsschutzrechtlichen Veränderungen angedacht ist, ändert an der Substanz des Kündigungsschutzes so gut wie nichts.
Der designierte IG-Metall-Chef Jürgen Peters ist da ganz anderer Ansicht. Er unterstützt das Mitgliederbegehren der sozialdemokratischen Reformkritiker:
Im Zweifel werden wir uns auf den Marktplätzen treffen, um lautstark zu sagen, was wir nicht wollen und was wir bereit sind mitzumachen. Wir werden einen heißen Mai organisieren müssen.
Besonders groß ist der Widerstand beim Krankengeld. Die Aufgabe der paritätischen Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wäre ein Systemwechsel, allen Beschwichtigungen von Fraktionschef Franz Müntefering zum Trotz:
Da wird unterstellt, da muss nun der Kranke sich selbst versichern, wenn es um Krankengeld geht. Das ist nicht so. Wir werden dieses Krankengeld im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung organisieren. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlen den Beitrag alleine. Das ist aber auch die einzige Veränderung. Das andere bleibt. Es bleibt solidarisch finanziert.
Vom SPD-Parteitag am 1. Juni wird am Ende abhängen, ob Schröder mit Zugeständnissen seine Kritiker zum Einlenken bewegen kann, das langwierige Mitgliederbegehren zurückzuziehen und ihm im Bundestag zu folgen. Franz Müntefering appelliert weiter an die Verantwortung der zwölf Dissidenten. Die Alternative ist Opposition, warnt er: "Es geht um alles oder nichts":
Wir können auch gar nichts tun. Dafür haben wir uns aber nicht wählen lassen.