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Machtzirkel als System

Dem Begriff der "Macht" ist der Soziologe Niklas Luhmann schon in den 60er-Jahren nachgegangen. Damals entstand sein Werk "Macht im System". André Kieserling hat das Buch jetzt posthum herausgegeben.

Von Rainer Kühn | 23.04.2012
    Niklas Luhmann war zweifelsohne einer der größten Geistes- und Sozialwissenschaftler. Auch heute stoßen die aus Luhmanns theoretischem Nachlass publizierten Werke selbst bei Fachfremden noch auf großes Interesse. André Kieserling verwaltet souverän die geistige Hinterlassenschaft des 1998 verstorbenen Denkers und hat nun ein bislang unveröffentlichtes Manuskript zum Thema Macht herausgegeben, das vom Ende der 1960er-Jahre stammt. Die Schrift entstand also in einer Zeit, in der der Oerlinghausener Weltgeist auf der Suche war nach den Fundamenten für seine Beobachtung der modernen Gesellschaft.

    So steht er etwa in diesem Werk noch dem Machtbegriff seines systemtheoretischen Lehrers Talcott Parsons skeptisch gegenüber – während er seit 1975 dann aber an die Überlegungen des US-Amerikaners anschließt und ebenfalls von Macht als einem "symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium" spricht. Zweifelsohne ein Nachteil - oder man betrachtet es als Vorteil für all diejenigen, die sich nicht mit solch einem Begriffsungetüm herumschlagen wollen; diese können hier nämlich einen verständlicheren Einblick in die Gedankenwelt Luhmanns erlangen.

    Und zudem setzt sich der Sozialtheoretiker eingehend von der als "klassische Machttheorie" bezeichneten Tradition ab. Er greift also die vorliegenden "typischen Definitionen des Machtbegriffs" auf, spitzt sie zu und kritisiert sie:

    "Die klassische Machttheorie verdankt ihre Plausibilität und ihre Verbreitung vor allem dem Umstand, dass sie einem praktischen Bedürfnis nach Vereinfachung entgegenkommt und dass sie ihre Prämissen nicht hinreichend artikuliert. Ihr in einer Gesamtdarstellung gerecht zu werden, ist daher schwierig. Die Darstellung nimmt die Form eines Nachrufes an."

    Der Leser lernt also viel über den Fundus der Machttheorie. Vor allem arbeitet Luhmann deren zumeist unausgesprochene Hintergrundannahmen heraus. Etwa, dass Macht von den überkommenen Vorstellungen als eine sogenannte "Kausalbeziehung" angesehen wird; dass also der Machthaber das Verhalten des Machtunterworfenen vollständig bewirkt. Oder dass Macht üblicherweise hierarchisch verortet, somit einer Spitze zugeschrieben wird; und diese Spitze der Macht von oben nach unten, sprich: "transitiv", ihre Potenz auf alle unter ihr liegenden Ebenen auszuüben vermag.

    Diese und weitere sogenannte "klassische Prämissen" seien zwar nicht gänzlich falsch, schreibt Luhmann. Aber sie bedeuteten absolute Grenzfälle im modernen gesellschaftlichen Miteinander und erfassten somit lediglich einen Bruchteil der heutigen sozialen Realität. Etwa gebe es "im wirklichen Leben" nicht nur Macht von oben-nach-unten, sondern auch sogenannte "Machtzirkel":

    "Der Chef zum Beispiel hat Macht über seinen Untergebenen, dieser über seine Frau, diese über ihre Freundin und diese wiederum über den Chef."

    Luhmanns insistieren auf diesem eigentlich banalen "Kreiseldenken" wird verständlich, wenn er auf die Beschreibung der politischen Realität umschaltet:

    "Demokratische politische Systeme suchen zum Beispiel dem Publikum Macht über die Politik, dieser Macht über die Verwaltung und dieser Macht über das Publikum zu verschaffen, also einen Kreislauf einflussreicher Kommunikation in einem funktional differenzierten System herzustellen, um eine Übermächtigung auch der höchsten Machthaber zu ermöglichen."

    Für Luhmann ist die traditionelle Sichtweise auf die moderne Gesellschaft und deren Macht völlig ungeeignet. Und zur Beschreibung solcher Phänomene völlig unterkomplex; wie das Beispiel verdeutlicht. Leider ist es eine der wenigen Illustrationen in diesem sehr theoretisch gehaltenen Werk. Gerade wenn der Systemtheoretiker beginnt, die eigene Sicht auf das Phänomen Macht zu erläutern, wären derlei Veranschaulichungen hilfreich. So etwa, wenn er auf das "Wesen der Macht" zu sprechen kommt. Es ließe sich, beispielsweise, von der bundesrepublikanischen Machtspitze ausgehen, die – vorgeblich - gemeinhin der Bundeskanzlerin zugeschrieben wird. Diese verfügt über die in Artikel 65 grundgesetzlich verankerte "Richtlinienkompetenz": Sie hat also die "Macht", ihren Kabinettsmitgliedern den Kurs vorzugeben – grob zumindest; das genaue Verhalten ihrer Minister kann sie allerdings nicht vollständig bewirken. Das wäre etwa eine bildhafte Erklärung für den bei Luhmann kryptisch bleibenden Vermerk, dass nämlich:

    "das Wesen der Macht nicht in ihrer (unbestreitbaren) Kausalität zu suchen ist, sondern in den Prozessen der Reduktion von Komplexität."

    Es geht also, laut Luhmann, in der modernen Gesellschaft nicht darum, ein Verhalten exakt festzulegen, sondern vielmehr darum, aus den unendlichen Möglichkeiten einiges auszuwählen, was gemacht werden könnte, aber vor allem auszusondern, was nicht gemacht werden soll. Es geht also darum, ein Möglichkeitsspektrum zu bestimmen!

    "In einer Systemtheorie muss der Machtbegriff unter dem Gesichtspunkt der Erfassung und Reduktion von Komplexität definiert werden. Macht ist selektionsbedingte Selektion, verstärkt also die Selektionskraft und steigert so die mögliche Komplexität eines Systems."

    Luhmann präsentierte also schon in diesem Werk einen hoch abstrakten Begriff von Macht. Viele seiner späteren zentralen Aspekte zur Beschreibung der modernen Gesellschaft tauchen auf, wie: soziale Differenzierung, Generalisierung oder Reflexivität – die alle in Bezug auf Macht durchbuchstabiert werden. Das Ergebnis wird zwar nicht jeden Leser restlos befriedigen, etwa wenn der Autor schreibt:

    "Macht ist nach all dem keineswegs ein nur sporadisch auftretender Wille, der sich im Befehl und im Brechen von Widerstand äußert. Was so erscheint, ist nur eine von vielen Möglichkeiten, von latenter Systemmacht Gebrauch zu machen, und gewiss nicht immer die effektivste. Stärker und unwiderruflicher wird die Komplexität oft durch ein frühzeitiges Definieren von Alternativen oder Operationalisieren von Zwecken reduziert."

    Wer sich allerdings auf Derartiges einzulassen vermag, wird bestens bedient - und erhält einen hochkomplexen Ansatz zur Macht in der modernen Gesellschaft.

    Es bleibt zwar völlig unverständlich, warum Luhmann gewohnt ausführlich zitiert – angefangen bei Thomas Hobbes, über Max Weber bis hin zu vielen der einschlägigen amerikanischen Konzepte zum Machtbegriff. Hannah Arendt, die seinen eigenen Vorstellungen sehr nahe kommt, taucht allerdings nicht auf. Trotzdem: Das Werk ist - nicht nur für Luhmann-Exegeten - ein Gewinn!

    Buchinfos:
    Niklas Luhmann: "Macht im System". Verlag Suhrkamp, Preis: 24,95 Euro, ISBN: 978-3-518-58573-3