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Machtzuwachs und Demokratiedefizit

Die Europaparlamentarier führen eine Art Doppelleben. Sind sie in Straßburg oder Brüssel, dann werden sie von den Lobbyisten hofiert. Sie verhandeln mit EU-Kommissaren und Regierungsvertretern. Doch wenn Sie nach Hause kommen, etwa in ihre deutschen Wahlkreise, dann kennt sie oft niemand. Das Interesse der Bürger an ihrer Arbeit ist gering und die Wahlbeteiligung entsprechend schwach. Klaus Hänsch, früher Präsident des Europäischen Parlaments und in Straßburg und Brüssel ein angesehener Aktivposten, reagiert da manchmal schon fast etwas gereizt:

Von Cai Rienäcker |
    Ich hab’ den Eindruck, viele Menschen glauben immer noch, das Europäische Parlament sei ein Beratungsorgan, das mal Resolutionen fasst, aber sonst nichts zu sagen hat. Das war am Anfang mal richtig. Aber heute ist das schlichtweg falsch.

    Der nordrhein-westfälische SPD-Europaabgeordnete Klaus Hänsch war schon dabei, als das Europäische Parlament vor 25 Jahren zum ersten Mal direkt gewählt wurde. Damals war es tatsächlich vor allem ein Debattierclub. Es wurde über viel diskutiert, es wurden Resolutionen verabschiedet, aber die Europaparlamentarier hatten ansonsten nicht viel in Europa zu melden. Das hat sich geändert. Klaus Hänsch:

    Wenn ich sehe, welche Aufmerksamkeit Interessengruppen aller Art der Arbeit des Europäischen Parlaments inzwischen zuwenden, nicht weil sie uns schön finden, sondern weil sie wissen hier, nicht nur, aber auch hier fallen Entscheidungen, dann sind das alles Unterschiede wie Tag und Nacht zwischen 1979 und heute.

    Vor allem EU-Verträge von Maastricht und Amsterdam werteten das Europäische Parlament in den letzten zehn Jahren deutlich auf. Die europäische Volksvertretung mit Sitz in Straßburg ist zum mitentscheidenden Gesetzgeber der Europäischen Union aufgestiegen. Inzwischen spricht man von einem Macht-Dreieck zwischen der EU-Kommission, dem Ministerrat der nationalen Regierungen und eben dem Europäischen Parlament. Der Vize-Präsident des EU-Parlaments, der CSU-Politiker Ingo Friedrich, mit seiner aktuellen Machtverteilungsanalyse:

    In diesem Dreier-Spiel würde ich inzwischen sagen: Ein Fünftel Einfluss der Kommmission und fünfzig Prozent Ministerrat mit abnehmender Tendenz. Und heute dreißig Prozent Europäisches Parlament.

    Im Gesetzgebungsverfahren kann die EU-Kommission nur Vorschläge machen. Das Europäische Parlament entscheidet dagegen über diese Entwürfe gleichberechtigt mit dem Ministerrat, in dem die nationalen Regierungsvertreter organisiert sind. Wenn es um den Haushalt der Europäischen Union geht, um die Bewegungsfreiheit von Arbeitnehmern, den Binnenmarkt, Umwelt- und Verbraucherschutz oder die Forschung – ohne eine Mehrheit der Europaparlamentarier läuft in diesen Bereichen nichts mehr. Aber das Europäische Parlament macht nicht nur Gesetze, es kontrolliert inzwischen auch die EU-Kommission. 1999 führte der Druck der Europaparlamentarier dazu, dass die Kommission Santer ihren Hut nehmen musste. Nicht nur für den Luxemburger Jacques Santer war das ein Schlüsselerlebnis:

    Auf der einen Seite hat das Parlament in verschiedenen Bereichen ein Mitentscheidungsrecht, darüber hinaus hat es auch eine Kontrollfunktion. Und zum ersten Mal hat es diese Kontrollfunktion gegenüber der Kommission ausgeübt auch gegenüber der Wahl des Präsidenten der Kommission, zum ersten Mal.

    Inzwischen benötigt der Präsident der Brüsseler EU-Kommission zu Beginn seiner Amtszeit die Zustimmung der Europaabgeordneten, die später jederzeit ein Misstrauensvotum gegen die Kommission einleiten können. Und die geplante EU-Verfassung würde das Parlament in diesem und anderen Bereichen weiter aufwerten. Das Europäische Parlament rückt langsam, aber stetig ins Machtzentrum der EU vor, doch bei den Bürgern scheint diese Botschaft noch nicht angekommen zu sein. Besonders in der deutschen Boulevardpresse kommen die EU-Abgeordneten nur dann auf die Titelseiten, wenn irgendjemand ihnen erneut Spesenbetrug vorwirft. Der österreichische Grüne Johannes Voggenhuber glaubt, dass es durchaus Kreise gibt, die ein Interesse daran haben, das Europäische Parlament klein zu halten:

    Da reiben sich einige in Europa, Kapitalinteressen, Wirtschaftsinteressen, Lobbys, aber auch nationale Regierungen und Bürokratien die Hände, wenn dieses einzige Instrument der Mitentscheidung und Mitbestimmung der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, schwach bleibt, kurz gehalten werden kann.

    Wenn das immer wieder kritisierte Demokratiedefizit der Europäischen Union aufgehoben werden kann, dann wohl nicht von der zentralistischen Brüsseler EU-Kommission und nicht von den verständlicherweise egoistischen nationalen Regierungen im Ministerrat. Das Europäische Parlament ist die bürgernahste EU-Institution und jede abgegebene Stimme bei der Europawahl macht die EU ein Stück demokratischer.