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Madeleine Delbrêl
Das Leben wie einen Tanz leben

Mystikerin, Poetin, Sozialarbeiterin und Kommunisten-Freundin: Madeleine Delbrêl vereint vieles in sich. Sie prägte im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts viele Menschen und handelte sich Ärger mit der katholischen Kirche ein. Seit einigen Jahren wächst das Interesse an Madeleine Delbrêl.

Von Burkhard Reinartz | 03.08.2016
    Straßenszene in Duisburg-Marxloh
    Sie gilt als die "Mystikerin der Straße" - die Poetin Madeleine Delbrêl wandte sich den einfachen Leuten zu. Und zwar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier eine Straßenszene in Duisburg-Marxloh (picture alliance / dpa)
    Das Gedicht "Liturgie der Außenseiter":
    Du hast uns heute Nacht
    in dieses Café "Le Clair de Lune" geführt.
    Du wolltest dort du selbst sein,
    für ein paar Stunden der Nacht.
    Durch unsere armselige Erscheinung,
    durch unsere kurzsichtigen Augen,
    durch unsere liebeleeren Herzen
    wolltest du all diesen Leuten begegnen,
    die gekommen sind, die Zeit totzuschlagen.
    Und weil deine Augen in den unsren erwachen,
    weil dein Herz sich öffnet in unserm Herzen,
    fühlen wir,
    wie unsere schwächliche Liebe aufblüht,
    sich weitet wie eine Rose,
    zärtlich und ohne Grenzen
    für all diese Menschen, die hier um uns sind.
    Das Café ist nun kein profaner Ort mehr,
    dieses Stückchen Erde,
    das dir den Rücken zu kehren schien.
    Wir wissen, dass wir durch dich
    ein Scharnier aus Fleisch geworden sind,
    ein Scharnier der Gnade,
    In uns vollzieht sich das Sakrament deiner Liebe.
    Wir binden uns an dich,
    wir binden uns an sie
    mit der Kraft eines Herzens,
    das für dich schlägt.
    Schon der Titel dieses Textes "Liturgie der Außenseiter" deutet die ungewöhnliche Persönlichkeit Madeleine Delbrêls an: "Mystikerin der Straße", "Pionierin des Glaubens" in einer säkularen Welt, "christliche Sozialrevolutionärin", "Dichterin Gottes", um nur einige ihrer Etikettierungen zu nennen. Lange Zeit waren ihr Wirken und die umfangreichen Schriften nur wenigen Menschen bekannt. Seit einigen Jahren wächst das Interesse an Madeleine Delbrêl, was auch zur Veröffentlichung ihrer gesammelten Werke führte. Ihr Lebensweg schien in den Anfängen gar nicht darauf angelegt, die Botschaft christlicher Nächstenliebe im Alltag umzusetzen. Bevor Madeleine Delbrêl zur Quintessenz ihre Berufung fand, war Religion für sie kein Thema:
    "Mit fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder."
    Und als Siebzehnjährige schreibt sie:
    "Gott ist tot – es lebe der Tod. Gott war von Dauer. Jetzt ist der Tod der Einzige, der dauert. Gott war allmächtig. Jetzt wird der Tod mit allem und allen fertig."
    Madeleine Delbrêl wird am 24. Oktober 1904 in der südfranzösischen Kleinstadt Mussidan im Département Dordogne geboren. Sie wächst ohne jeden Bezug zur Religion auf und entwickelt schon als Jugendliche künstlerische und intellektuelle Begabungen. Als sie sechzehn Jahre alt ist, zieht die Familie nach Paris, wo sie an der Sorbonne Kunst und Philosophie studiert. Sie schreibt Gedichte und erhält einen bedeutenden französischen Literaturpreis. Die junge Frau stürzt sich in Paris in den Taumel der "Goldenen 20er Jahre":
    "Man verachtet die, die sich amüsieren. Ich - amüsiere mich. Ich liebe es, zu tanzen, bis ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Ich liebe schnelle Autos. Ich liebe schnelle Autos und Schmuck und ich liebe Musik, die so laut ist, dass man kein Wort mehr versteht. Alles Dinge, die ich auch wieder lassen könnte, ohne dass das ein Drama wäre."
    Ein Perspektivwechsel in Zeiten der Lebenskrise
    Madeleine lernt Jean Maydieu kennen und lieben, den Patensohn eines Freundes ihres Vaters. An ihrem 19. Geburtstag findet die Verlobung statt. Kurz darauf bricht Jean Maydieu die Verbindung für lange Jahre ab und wird Dominikaner-Mönch. Madeleine gerät in eine tiefe Lebenskrise.
    "Geholfen hat ihr dann entscheidend der Dialog, die Auseinandersetzung mit jungen Leuten, die überzeugte Christen waren und die ihr Weltbild in Frage stellten. Davor hatte sie eine innere Gewissheit gefunden. Diese Gewissheit bestand in dem Satz: Ich bin ganz sicher, es gibt keinen Gott."
    Sagt Annette Schleinzer. Sie arbeitet als Theologin im Bistum Magdeburg und beschäftigt sich seit über dreißig Jahren mit Madeleine Delbrêl. Schleinzer fährt fort:
    "Eines Tages hat sie, angeregt durch Teresa von Avila, sich entschlossen, zu beten, das heißt, sich diesem unbekannten Gott zuzuwenden, fast sozusagen auf Verdacht. Und als Folge dieser Entscheidung hat sie erfahren: Da ist Jemand. Dieser Jemand kommt auf mich zu, dieser Jemand liebt mich. Das ist ein überwältigendes Glück, das für sie dann nicht mehr zur Debatte stand."
    Die Entdeckung des anderen Betens
    "Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte ich Gott nicht so behandeln, als ob er ganz gewiss nicht existierte. Ich wählte deshalb, was mir am besten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten. Es ist wahr: Man kann heute nicht mehr beten wie 'früher', es sei denn, man wäre in einem Kloster oder einer außergewöhnlichen Lebenslage. Doch folgt daraus keinesfalls, dass man nicht mehr beten soll, man wird nur anders beten müssen und dieses 'anders' gilt es zu entdecken."
    Das Experiment einer neuen Erfahrung des Betens mündet bei Madeleine Delbrêl ganz unerwartet in die Gewissheit, dass Gott existiert - eine Erfahrung, die sie zeitlebens als überwältigende Umkehr zum Leben empfand. Nach ihrem Tod fand man einen Zettel in ihrem Gebetbuch – darauf exakt als Datum der Bekehrung notiert: der 29. März 1924. Wie eine Richtschnur für ihr weiteres Leben stehen auf diesem Merkzettel die Sätze:
    "Ich will das, was du willst, ohne mich zu fragen, ob ich es kann. Ohne mich zu fragen, ob ich Lust darauf habe. Ohne mich zu fragen, ob ich es will."
    Annette Schleinzer: "Die Bekehrungserfahrung von Madeleine Delbrêl kann man durchaus als eine mystische Erfahrung bezeichnen. Die Erfahrung, mit dem Geheimnis Gottes in Berührung gekommen zu sein. Das war eine umwälzende Erfahrung. Sie nennt das sogar eine ‚gewaltsame Bekehrung‘, vom Dunkel ins Licht gerissen worden zu sein."
    Aufgrund dieses Erlebnisses überlegt Madeleine sich von der Welt zurück zu ziehen, ins Kloster zu gehen und ihren heiligen Vorbildern wie Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz nachzufolgen.
    Annette Schleinzer: "Was sie in eine andere Richtung bewegte, war die Begegnung mit Jesus Christus in den Evangelien. Dort hat sie entdeckt, dass Jesus mitten in der Welt geblieben ist, mitten unter den Menschen, dass er das Leben der Menschen geteilt hat, die beiden Pole von Gottesliebe und Nächstenliebe zusammen halten konnte und auch seine Jünger auf diesen Weg geschickt hat. Das hat sie sehr bewegt und beeindruckt; und sie hat für sich erkannt, dass ihr Weg in diese Richtung zu gehen hatte, dass sie noch mal an den Ursprung vom Christentum zurückgehen wollte und in der heutigen Zeit Jesus Christus nachzufolgen, mitten in der Welt, unter den Menschen und zugleich ganz bei Gott."
    "Die Nächstenliebe ist wie eine Brücke, die Gott und Mensch in einem einzigen Bogen verbindet. Dieser Bogen kann nicht aufgeteilt werden. Er ist eine Einheit, wie eine Hin- und Rückfahrkarte."
    "Die Ehelosigkeit ist eine echte Amputation"
    Im Herbst 1933 beginnt Madeleine Delbrêl gemeinsam mit zwei Gefährtinnen ihr unorthodoxes Projekt: Sie verlassen Paris und gründen mitten in der kommunistisch regierten Arbeitervorstadt Ivry im Geiste des Evangeliums eine kleine christliche Gemeinschaft. Ohne Gelübde, ohne Klausur, aber ehelos und bereit, Gott den ersten Platz in ihrem Leben einzuräumen:
    "Es gibt Leute, die Gott nimmt und in eine besondere Lebensform beruft. Andere gibt es, die lässt er in der Masse, die zieht er nicht ‚aus der Welt zurück‘. Wir anderen, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, diese Welt, auf die Gott uns gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist. Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt, denn wenn das Nötige fehlte, hätte Gott es uns schon gegeben."
    Madeleine Delbrêl hat sich für den Weg ihrer sozialen Gemeinschaft entschieden - und gegen die personale Liebe zu einem Mann. Kaum jemand hat sich über diese Entscheidung so offen geäußert wie Madeleine Delbrêl:
    "Die Ehelosigkeit ist nicht nur ein Verzicht wie Gehorsam und Armut. Sie ist eine echte Amputation. Dieser Einsamkeit muss man sich bewusst sein: Sie ist gesund, wenn sie freiwillig angenommen wird, wenn man sich mit ihr identifiziert hat und sie in Freude trägt, weil man sich dafür entschieden hat, auch wenn es weh tut."
    Zwischen allen Stühlen
    Madeleine Delbrêl ließ sich zur Sozialarbeiterin ausbilden. Sie ist schockiert über die Arbeits- und Lebensbedingungen der 30er-Jahre in Ivry. Sie beginnt, sich leidenschaftlich zugunsten der sozial Benachteiligten zu engagieren.
    Annette Schleinzer: "Und sie entdeckte in den Kommunisten ganz natürliche Bündnispartner. Dieses Verhältnis blieb bis zu ihrem Tod sehr eng. Allerdings hat sie in ihrer inneren Einstellung auch eine Trennung vollzogen. Sie hat zum Beispiel niemals eingewilligt, in die Partei einzutreten zum großen Leidwesen der Kommunisten. Aber in der praktischen Arbeit hat sie sehr intensiv mit ihnen zusammengearbeitet, weil sie überzeugt davon war, dass das Evangelium auch politisch sein muss."
    "Ivry war meine Schule des angewandten Glaubens."
    In einem ihrer bekanntesten Texte bringt Madeleine Delbrêl die Maxime ihres Glaubens so auf den Punkt:
    "Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek - geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte - und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens. Im Glauben haben wir Gott gefunden; wir können ihn weitergeben, wenn wir uns selbst geben, und zwar hier in unserer Stadt. Es geht also nicht darum, dass wir uns irgendwohin davon machen, das Herz beschwert von der Not der anderen, wir müssen vielmehr bei ihnen bleiben, mit Gott zwischen ihnen und uns."
    Sie kümmert sich mit ihren Gefährtinnen, deren Zahl zunimmt, um die praktischen Nöte der Arbeiter Ivrys, zum Beispiel in der "Aktion der ausgestreckten Hände", einer lokalen Initiative zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Madeleine Delbrêl engagiert sich in zahlreichen Projekten zugunsten politisch Verfolgter oder ungerecht Verurteilter. Während der Kriegsjahre berät sie aufgrund ihrer Erfahrungen im atheistisch-kommunistischen Milieu die "Mission de France", eine Reformbewegung der katholischen Kirche, die unter anderem auf Arbeiterpriester setzt. Madeleine Delbrêl betont, die christliche Hoffnung auf Erlösung dürfe keine "Jenseitsvertröstung" sein. Zu Beginn ihres Engagements in Ivry war Madeleine Delbrêl geschockt über das Desinteresse der Arbeiter an Glaubensfragen:
    "Alles schweigt auf der ganzen Linie von Gott und so total, dass ich mich dabei ertappe, die Passanten anzublicken, ob nicht wenigstens eine Spur von Staunen bei ihnen zu entdecken sei. Doch die vorübergehenden Leute sind nicht erstaunt."
    Annette Schleinzer: "Sie war davon überzeugt, dass sie das Evangelium den Menschen nahe bringen möchte und war sehr enttäuscht, zu merken, da hat niemand Bedarf. Sie hat mal gesagt: 'Alles schweigt auf der ganzen Linie von Gott' oder: 'Die Leute tragen ein unsichtbares Schild auf der Brust, auf dem steht: kein Bedarf'.
    Und da musste sie ihre Einstellung zu dem, was man in der Geschichte der Kirche bis heute 'Mission' nennt, verändern, auch an den Ursprung gehen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um die lebendige Liebe Gottes weiter zu geben: dass Christen sich erst einmal selber zu bekehren haben. Weg von den Vorstellungen, den Klischees, die mit Evangelisierung verbunden sind."
    Dass Madeleine Delbrêl als überzeugte Christin auch ein Freigeist gewesen ist, zeigt sich daran, dass sie sich selbst als "Landstreicherin" und "Partisanin" im Gefüge der Kirche bezeichnete.
    Annette Schleinzer: "Der Kern des Gedankens von Missionierung ist bei Madeleine Delbrêl, ich sag's mal in einem Bild, wie jemand, der im Garten das Wasser des Lebens gefunden hat und spürt, dieses Wasser des Lebens erfüllt meine tiefsten Sehnsüchte, macht mich heil an Leib und Seele. Und ich möchte, dass möglichst viele Menschen auch davon kosten - und ich möchte Mittel und Wege finden, ihnen das mitzuteilen. Sie sagte einmal: 'Nicht wir haben Menschen zu bekehren. Das ist Gottes Sache, aber wir können uns schenken mit Gott in uns'."
    Kirche und Kommunismus
    Aufgrund ihrer Erfahrungen im atheistisch-kommunistischen Milieu wurde Madeleine Delbrêl von Bischöfen gebeten, sie zu beraten. Gegen Ende ihres Lebens wurde sie sogar in die Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils einbezogen. Aber es gab auch Gegenwind. Weil ihre Gemeinschaft kirchenrechtlich nur schwer einzuordnen war, kam es Ende der vierziger Jahre zu heftigen Konflikten.
    Annette Schleinzer: "Es scheint so, dass ihr Weg relativ konfliktfrei mit der Kirche gelaufen sei. Dem ist nicht so. Einerseits war ihr die Kirche sehr wichtig. Sie war auch dankbar, weil sie durch die Kirche zu ihrem eigenen Glauben gekommen war. Auf der anderen Seite saß sie zeitlebens auch immer zwischen allen Stühlen. Ende der 40er Jahre wurde ihr sogar von ihrem Ortspfarrer die Kommunion verweigert, weil sie seiner Auffassung nach zu sehr mit den Kommunisten zusammen gearbeitet hat."
    Ein Jahrzehnt später entschied sich der Vatikan die Bewegung der Arbeiterpriester zu verbieten. Madeleine Delbrêl versuchte, das zu verhindern. Ohne Erfolg. Das Verbot, sagt sie, habe sie "schier zerrissen".
    Annette Schleinzer: "Sie hat zeitlebens an der Enge, an der Kleinkariertheit von Menschen aus der Kirche gelitten. Madeleine Delbrêl hat immer wieder davon gesprochen, dass die meisten Christen, die sie kennen lernte, den Glauben an den lebendigen Gott mit christlicher Mentalität verwechseln. Christliche Mentalität ist etwas, was sich im Laufe der Zeit an Traditionen, an Gebräuchen, Einstellungen um den Glauben herum gruppiert. Und oft neigt man dazu, das für das eigentliche zu halten. Der lebendige Gott ist in jeder Zeit neu zu übersetzen, wirft auch immer wieder neue Fragen über den Haufen, ist immer wieder überraschend."
    Intuition des Herzens
    Ihre letzten Lebensjahre waren davon geprägt, dass sie sich innerlich ihrem Umfeld entfremdete.
    Annette Schleinzer: "Sie hat gespürt, dass es in ihrem eigenen Inneren eine Begegnung mit Gott, eine Tiefe gab, die sie kaum noch mit anderen teilen konnte."
    Das macht Delbrêl einsam. In ihr wächst das schmerzvolle Gefühl, ausgesondert zu sein:
    "Wenn man sich in seinem eigenen Innern, zwischen der Masse der Menschen und Gott, zur Anerkennung Gottes bekennt, bringt man sich in Gegensatz zur einmütigen Überzeugung der Gemeinschaft, in der man lebt. Durch alle erlittene Einsamkeit hindurch eine Insel göttlicher Anwesenheit werden: um Gott einen Ort zu sichern. Das Mysterium des göttlichen Lebens auf uns lasten lassen, in den Finsternissen der allgemeinen Unwissenheit Punkte der Bewusstwerdung seines Daseins setzen. Erkennen, dass hier der eigentliche Akt der Erlösung geschieht."
    Annette Schleinzer hat in ihrer langjährigen Beschäftigung mit Madeleine Delbrêl festgestellt, dass es eine große Verwandtschaft zwischen der Französin und Papst Franziskus gibt:
    "Ich halte sie beide für Genies der Begegnung, für Menschen, die eine Intuition des Herzens haben. Vor allem auch von ihren Inhalten her sind sie sehr verwandt. An die Ränder gehen, sein Verständnis für die Armen. Das ist alles, was sie auch gelebt und geschrieben hat."
    Auch wenn Madeleine Delbrêl heute noch immer so etwas wie ein Geheim-Tipp ist: Kaum jemand hat es wie sie verstanden, mit ihrer großen schriftstellerischen Begabung das auszudrücken, was Spiritualität im Alltag konkret bedeutet:
    "Warum sollte der Lerchengesang im Kornfeld, das nächtliche Knistern der Insekten, das Summen der Bienen im Thymian unser Schweigen nähren können – und nicht auch die Schritte der Menschenmenge auf den Straßen, die Stimmen der Marktfrauen, die Rufe der Männer bei der Arbeit, das Lachen der Kinder im Park, die Lieder, die aus der Bar dröhnen. Begegnung mit Gottes lebendiger Kausalität im Lärm der Straßenkreuzungen. Begegnung mit Jesus Christus in all denen, die physisch leiden, die sich langweilen, die sich ängstigen, denen etwas fehlt."
    In ihren letzten Lebensjahren reist Madeleine Delbrêl nach Polen und Afrika. Und ist bewegt vom Elend der Menschen in Madeira, Dakar und Conakry. Sie verfasst letzte Schriften und arbeitet unermüdlich in der Rue Raspail in Ivry. Am Spätnachmittag des 13. Oktobers 1964 finden ihre Gefährtinnen sie leblos in ihrem Arbeitszimmer.
    Annette Schleinzer: "Das Besondere an Madeleine Delbrêl ist, dass sie mit ihrer frischen, südfranzösischen Art versucht hat, Gott in der heutigen Zeit ein Gesicht zu geben. Und ein Marxist, den ich 1981 in Ivry getroffen habe und der sehr skeptisch war, ob es Gott gibt oder nicht, sagte zu mir: 'Wenn man Madeleine Delbrêl kennen lernte, lernte man etwas von Gott kennen'."
    "Jedem Menschen, dem man begegnet, die ganze Fülle der Liebe schenken; das ist das Tor zur Weite Gottes, das Tor, das sich geradewegs auf die universale Liebe hin öffnet."
    Einer ihrer schönsten Texte, der "Ball des Gehorsams", zeigt auf poetische Weise, wie absurd es ist, die Freuden des weltlichen Lebens gegen die geistige Dimension des Lebens auszuspielen:
    Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, O, Herr,
    könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen nicht widerstehen
    Um gut tanzen zu können
    braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt.
    Man muss ihm nur folgen,
    darauf gestimmt sein, schwerelos sein.
    Und vor allem: man darf sich nicht versteifen,
    sondern ganz mit dir eins sein – und lebendig pulsierend
    einschwingen in den Takt des Orchesters,
    den du auf uns überträgst.
    Wir haben so oft die Musik deines Geistes vergessen,
    wir vergessen, dass es monoton und langweilig
    nur für grämliche Seelen zugeht,
    die als Mauerblümchen sitzen am Rand
    des fröhlichen Balls deiner Liebe.
    Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres
    Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid.
    Gib, dass wir unser Dasein leben
    nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist,
    nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen,
    sondern wie ein Fest ohne Ende,
    bei dem man dir immer wieder begegnet,
    wie einen Ball, wie einen Tanz,
    in den Armen deiner Gnade,
    zu der Musik allumfassender Liebe.
    Literatur:
    Madeleine Delbrêl: "Deine Augen in unseren Augen – Die Mystik der Leute von der Straße"
    Herausgegeben von Annette Schleinzer,
    Verlag Neue Stadt, München/Zürich/Wien, 2015.
    Annette Schleinzer: "Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern. Texte - Gedichte - Gebete"
    Topos plus Verlagsgemeinschaft, Kevelaer 2015.