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Mächen und Alltag

Vor kurzem sind Ersteinspielungen aus zwei Opern mit zeitgenössischer Handschrift erschienen. Ihre Urheber haben unterschiedliche und ungewöhnliche Sujets gewählt, Hans Werner Henze widmet sich der Märchenwelt und Elliott Carter der Alltagsrealität unserer Tage. In beiden Fällen handelt es sich komplexe Bühnenwerke, die durch die konzertant dargebotenen Versionen nichts an musikalischer Eigensprachlichkeit verloren haben.

Von Yvonne Drynda |
    In seiner Wahlheimat Italien lebt Hans Werner Henze seit 1953 und im toskanischen Montepulciano gründete er seinerzeit ein Musikfestival, für die dort lebenden Kinder und Jugendlichen schreibt er 1979 die Oper "Pollicino", übersetzt der kleine Daumen oder Däumling. Entstanden ist eine Kinderoper nach dem gleichnamigen Märchen von Carlo Lorenzini, bekannt als Collodi. Konzipiert hat Henze ein Abend füllendes 12-szeniges Märchen für Musik nach verschiedenen Textvorlagen neben Collodi, auch nach Überlieferungen von Wilhelm Grimm und Charles Perrault, uraufgeführt zur Eröffnung der Schwetzinger Festspiele 1980. Henzes eigenen Aussagen zufolge wollte er mit diesem Bühnenwerk den Beweis antreten, "dass Musik nicht abstrakt und nutzlos sein müsse, kein Zeitvertreib sei und mehr erreichen könnte, als nur die Moral zu heben. Dazu sollte die Musik mitten unter die Menschen gehen auch wenn es um ihre Realisierung gehe." Für die Besetzung forderte Henze "Alles in Schülerhand". Diesem Credo ganz entsprechend hat Jobst Liebknecht, Schüler von Peter Eötvös und musikalischer Leiter in der vorliegenden Einspielung neben professionellen Berliner Theaterschauspielern, Sängern und Musikern Chor und Orchester aus verschiedenen Berliner Musikschulen zusammengestellt.

    Das Label Wergo hat sich auf dieses ungewöhnliche und mutige Projekt eingelassen, das Ergebnis präsentiert eine klanglich und interpretatorisch ambitionierte Doppel-CD, die von einem exzellenten Booklet begleitet wird. Hören sie zu Beginn Phillip Holstein als Pollicino, Therese Affolter als Pollicinos Mutter und Thomas Schendel als Pollicinos Vater mit der vierten Szene "Oh weh oh weh!".

  • Musikbeispiel: Hans Werner Henze: ‚Oh weh, oh weh!’ aus: "Pollicino"

    Pollicino ist nur ein kleiner, aber kein dummer Junge. Gemeinsam mit seinen Brüdern muss er bei den Menschenfressern und deren Töchtern Unterschlupf finden, weil sie die Armut von zuhause fortgetrieben hat, sie durchleben diverse Abenteuer, bevor das Schicksal eine Wendung nimmt. Henze ergänzt die gemeinhin bekannte Version, indem sich die Töchter des Menschenfressers Orco mit Pollicino verbünden.

    Zur Musik schreibt Henze, dass sich die Organisation der Tonartenverhältnisse wie von selbst zu ergeben scheint und wie im traditionellen Musiktheater, unter dramaturgischen Gesichtspunkten zustande komme. Vielfältig präsentieren sich die musikalischen Formen mit Arien, Rezitativen, Tanzsätzen, Canzonen, Märschen und Volkslied. Die Intensität der Musik lebt aus abwechslungsreichen Rhythmen und melodischen mitunter vertraut klingenden Phrasen.

    Henze betont, dass es sich bei "Pollicino" um eine durchkomponierte Arbeit mit vielen Lyrismen handle, vor allem den dramaturgischen Höhepunkt des Geschehens betreffend.
    Gehalten ist hier alles in ruhigem Tempo, "es ist die einzige Szene, die diese Stille und Abgeschiedenheit habe, die Protagonisten haben sich in die Welt des Nachtgetiers begeben, die Zeit bleibt stehen, man kann atmen und diese Form der Stille beschreibt Henze auch als Stetigkeit, Stilisierung und Feierlichkeit, vergleicht sie mit dem Charakter einer Zeremonie. In dieser Waldszene, der Welt der Tiere greift reine Tonalität, um die Musik von den Menschen abzuheben.

  • Musikbeispiel: Hans Werner Henze: ‚ So lebet wohl denn, ihr Kinder!’ aus: "Pollicino"

    Besungen wird hier Optimismus, der Sieg über das Schicksal mit doppelbödigem Charakter. Ein Märchen, das im Wald spielt, Bezüge zur deutschen Romantik klingen an, nicht zuletzt durch das von Henze hinzugefügte doppelbödiges Finale. Er lässt die Mädchen und Jungen fliehen, Vertrauen gegenüber den Eltern macht keinen Sinn.

    Die Kinder müssen ohne Hilfe von Zauberei einen reißenden Fluss überqueren, um in ein freies Land ohne Erwachsene zugelangen. Wie sie dort leben, bleibt offen. Verfolgt sein, Weitermüssen, Sichverteidigen und Verstecken, Erfahrungen aus Henzes eigener Kindheit, die die musikalische Umsetzung des Märchenstoffes mit geprägt haben.

    Die musikalische Gesamtgestaltung lässt immer wieder Henzes Klangwelten durchschimmern. Die Instrumentation ist mit Blockflöten, Orffschem Schulwerk, Gitarren, Schlagzeug und Streichensembles auf Kinder abgestimmt. Daneben musizieren konzertant auftretende Musiker u.a. Moritz Eggert, Klavier und Maria Pflüger, Violine.

    Ein gelungenes Experiment, eine Kinderoper, die auch erwachsene Ohren für sich gewinnen kann.
    Hören Sie daraus noch die Abschlussszenze mit der "Canzone toscana".

  • Musikbeispiel: Hans Werner Henze: 12. Szene aus: "Pollicino"


    In ganz unmittelbare, lebensnahe Welten entführt dagegen der amerikanische Komponist Elliott Carter. Anlässlich seines 95. Geburtstages erschien zuletzt beim Münchener Label ECM Records die konzertante Version seiner Kurzoper "What next?", die im Jahr 2000 in Berlin uraufgeführt wurde. Das Libretto für den gut 40 Minuten dauernden Einakter stammt von dem Musikkritiker Paul Griffiths. Inspiriert zu diesem Opernprojekt fühlte sich Elliott Carter von dem Jacques Tati-Film "Traffic", ein dramaturgischer Ausgangspunkt sollte ein Unfall sein, ein Stoff, dem Carter aus ironischer und menschlicher Perspektive begegnen wollte".

    So eröffnet ein Autounfall das Operntreiben, die beteiligten Personen bleiben zwar weitgehend unverletzt, können sich an den eigentlichen Unfallhergang nicht erinnern, wollen die Realität des Unfalls verdrängen und holen keinerlei Hilfe. What next? Als naheliegende Frage liegt also auf der Hand. Aber dieses Ereignis entlarvt facettenreich Einschnitte im jeweiligen privaten wie beruflichen Leben der Figuren. Die Handlung gewinnt keine dramatische Entwicklung, in den Vordergrund rückt stattdessen die Kommunikation als Problemfeld. Die sechs Protagonisten verstricken sich in Gespräche ohne sich wirklich miteinander zu verständigen.

  • Musikbeispiel: Elliott Carter - aus: "What next?”

    Innovativer Eigensinn, Carters Vorliebe für die Simultanität disparater Abläufe, die Kombination unterschiedlicher Tempi, instrumentaler Kontrast als Gestaltungsmittel prägt auch das musikalische Geschehen seiner jüngsten Oper, die ihren Anfang in der Suche nach Normalität nimmt.

    Der Verkehrsunfall, eine beklemmende und doch vertraute Situation als Sujet, das Elliott Carter musikalisch sehr differenziert gestaltet. Am Beginn das eben gehörte Orchestersolo als klanglich farbige Inszenierung des Horrorszenarios.

    38 Kurzabschnitte folgen, in denen sich die einzelnen Figuren musikalisch vielgestaltig herausschälen. Jede Figur stellt sich durch eine kurze Arie vor, die unterschiedlichen Charaktere zeichnet Carter musikalisch mit entsprechenden Rhythmen, vokalen Effekten und instrumentalen Bezügen. So ist der besorgten Mama die Harfe zugedacht, Vibraphon und Marimbaphon der Astronomin Stella, das Klavier der exzentrischen Sängerin Rose.

  • Musikbeispiel: Elliott Carter - aus: "What next?”

    Eine Einspielung die klanglich in den Bann zieht, nicht nur wegen der exzellenten Gesangssolisten. Brilliant, Valdine Anderson als um Anerkennung kämpfende Gesangsdiva Rose, Sarah Leonard als besorgte Mutter oder Dean Elzinga als melancholischer Clown.
    Dirigent Peter Eötvös und dem Niederländischen Radio-Kammerorchester ist eine unmittelbar packende, klanglich transparente Interpretation gelungen, zuweilen mit musikantischem Schwung.

    Ergänzt wird die Aufnahme mit dem "Asko Concerto", eine Ensemblekomposition für 16 Instrumentalisten, von Carter komponiert im Jahr 2000 und dem Amsterdamer Ensemble Asko gewidmet. Formal orientiert sich das Werk am barocken "Concerto grosso", den einzelnen Instrumenten sind verschiedenen Formen von Expressivität und Virtuosität zugedacht.

    Hören sie abschließend einen Ausschnitt aus diesem einsätzigen klangintensiven Concerto, Peter Eötvös dirigiert das Niederländische Radio-Kammerorchester.

  • Musikbeispiel: Elliott Carter - aus: "Asko Concerto”

    Vorgestellt wurden Ihnen heute Ausschnitte aus zwei aktuellen Opernersteinspielungen. Hans Werner Henzes Kinderoper "Pollicino", aufgenommen in der Jesus Christus-Kirche Berlin Dahlem. Zu den Solisten gehören u.a. Philipp Holstein, Therese Affolter und Lore Brunner, Chor und Orchester setzten sich zusammen aus Schülerinnen und Schülern verschiedener Berliner Musikschulen, die musikalische Leitung hat Jobst Liebrecht. Erschienen ist diese Produktion vor kurzem beim Label Wergo. Weitere Informationen können sie auch im Internet unter www.wergo.de abfragen.

    "What Next?" , die Kurzoper von Elliott Carter erschien soeben beim Label ECM Records. Peter Eötvös leitet in dieser Aufnahme das Niederländischen Radio-Kammerorchester, als Solisten sind zu hören Valdine Anderson, Sarah Leonard, William Joyner, Dean Elzinga sowie Emmanuel Hoogveen. Eine Aufnahme aus dem Amsterdamer Concertgebouw. Auch zu dieser CD können Informationen unter www.ecmrecords.com im Internet abgefragt werden.

    Discografische Angaben

    Titel: Hans Werner Henze: "Pollicino”
    Chor und Orchester aus Schülern Berliner Musikschulen
    Leitung: Jobst Liebrecht
    Label: Wergo
    Labelcode: LC 00846
    Bestellnr.: 2CD 6664-2

    Titel: Elliott Carter: "What Next?"
    Orchester: Netherlands Radio Chamber Orchestra
    Leitung: Peter Eötvös
    Label: ECM Records
    Labelcode: 1817
    Bestellnr.: CD 472188-2