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Männer- oder Frauenvernichtung?

Falls es beim Deutschen Bühnenverein Statistiken über die am häufigsten gespielten Stücke in deutschen Theatern gibt, dann ist Frank Wedekinds "Lulu" sicher ziemlich weit oben zu finden - zumal es ja auch noch eine Oper von Alban Berg nach Wedekinds Motiven gibt. Wenn allerdings ein Haus wie das Münchener Volkstheater sich des Mythos von der ewigen Kindfrau annimmt, die die Männer gleich reihenweise ins Verderben stürzt - ein Haus, das in den vergangenen Monaten immer wieder durch neue Sichtweisen auf bekannte Stücke aufgefallen ist -, dann ist das für uns durchaus ein Grund trotzdem nochmal hinzuschauen.

Von Christian Gampert |
    Auf dem Plakat zur Aufführung sind die Beine einer Schaufensterpuppe zu se-hen, die hochkant aus einer Mülltonne ragen. Lulu, entsorgt von der bösen Männerwelt. Derart einfältig beginnt dann auch die Inszenierung von Christian Stückl: ein Püppchen steht da dem Maler Schwarz Modell, von Männern in ver-renkte Ballett-Posen gebracht, eine Marceausche Träne auf die Wange gemalt. Die Frau als Opfer, die sich wie die Figur einer Spieluhr dreht. Kleine Frage: ist sie nicht doch auch ein amoralisches Biest?

    Ja, schon. Lulu, die Kindfrau, hat deshalb einen weißen und einen schwarzen Seidenstrumpf an: Vorsicht, so wedelt uns die Regie gleich beflissen entgegen, die reine Unschuld ist hier anzutreffen, aber auch die Teufelin. Die Schauspie-lerin Brigitte Hobmeier steckt anfangs in einem Kokon aus Plüsch; und daraus schlüpft dann eine Art Schmetterling, ein sexuell flatterhaftes Wesen, das mas-senhaft Männer verbrennt und gar nicht anders kann.

    Ob es solche Frauen heute noch gibt? Wahrscheinlich eher als Raritäten. Die emanzipierte Frau geht doch etwas strategischer und nicht bloß naiv-triebgesteuert mit Liebesdingen um. Ob es solche Männer noch gibt, kopflos, dauererigiert und im permanenten Liebeswahn? Auch das dürften mittlerweile Mängelexemplare sein: man muß nicht mehr wie ein testosteron-gedopter Stier gegen die moralische Heuchelei der Wedekind-Zeit anrennen, man darf doch manches ausprobieren.

    Das ist auch das Problem jeder Lulu-Aufführung heute: die historische Kluft, die zwischen den Jahren 1900 und 2000 sich auftut, ist kaum produktiv nutzbar zu machen. Der Text wirkt heute brav und altbacken, und wenn der Dichter Al-wa der Geliebten ein furchtbar ernstes "Ich lechze" entgegenhaucht, dann lacht der ganze Saal. Wir lechzen nicht mehr heute, oder jedenfalls nicht mehr ganz so lautstark.

    Christian Stückl befördert diese Komik, indem er auf die Tube drückt – aber bisweilen sind die Herren eben ganz unfreiwillig komisch. Selten hat man in den letzten Jahren ein so altmodisches, forciertes, auch peinliches Over-Acting gese-hen: Goll, der angejahrte Ehemann, ist in München eine überkandidelte Schwuchtel. Schöning, der abhängige Geliebte, ein pathetischer Impresario und Morphinist. Schwarz, der Kunstmaler, ist ein eifriger Handwerker; Alwa, Schö-nings Sohn, ein braver Nietzsche-Epigone. Die Dialoge werden bedeutungs-schwer aufgeblasen wie im ganz schlechten Kindertheater; dann wieder spricht man mit artifizieller Teilnahmslosigkeit aneinander vorbei, mal so, mal so. Auf diese Weise frisst man sich fleißig durch den Text, nur die tändelnde Lulu hält die Sache am Laufen.

    Sprich: der erste Teil ist eine Katastrophe, und dies, obwohl der Regisseur die Urfassung von 1894 spielt, also die noch nicht entschärfte "Monstretragödie", die von Wedekind später auf zwei Stücke verteilt wurde. Kein Dompteur warnt uns hier im Prolog vor dem "wilden schönen Tier", der Frau, der Schlange. Es gibt in München zunächst auch kein Tier, sondern nur ein spielgeiles Luxus-weibchen, das auf einer bühnenfüllenden Großraum-Bettstatt sich langweilt und räkelt, Spargel verfüttert, madonnenhaft guckt und wie ein kleines, berechnendes Viva-Mädchen vor sich hinplappert. Da surrt nur eine Stückmechanik herunter.

    Dann aber, als der Abstieg, die Höllenfahrt, der Jahrmarkt der Lüste, die Leiden und die Prostitution beginnen, rückt die Figur uns auf einmal nahe: als diese Lulu anfängt, sich selbst aufzugeben und andere zu quälen, bekommt sie etwas Heuti-ges. Auf einmal haben auch die Nebenrollen mehr Kontur: die an ihrer Liebe krepierende Gräfin Geschwitz, eine Leder-Lesbe, von Ursula Burkhart anrührend vorsichtig gespielt, oder der alte Schigolch, Lulus angeblicher Vater, von Rudolf Brem als schmuddeliger Obdachloser hingeschnoddert. Im Elend der Absteige wird die Aufführung wundersam gerettet von Jack the Ripper, dem Lustmörder, in dem Lulu den einzigen Geistesverwandten erkennt. Und es begibt sich, dass in einem deutschen Drama eine ganze Szene lang Englisch geredet werden muß, damit das Stück zum Punkt kommt.

    Brigitte Hobmeier, die Lulu, spielt manches etwas turnerisch aus dem Becken heraus – ihr Sex besteht oft mehr aus Show und Gymnastik. Aber sie hat eine große Präsenz und psychische Beweglichkeit, sie trägt diese Aufführung fast ganz allein. Keine Nutte, keine Nymphomanin; sondern die Unschuld, die sich danach sehnt, begehrt zu werden. Das ist gut gemacht, auch von Christian Stückl – und doch: ist das nicht auch nur eine Männerphantasie?