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Männergespräche und Erinnerungsreisen

Nach seinem Buch "Das Geschäftsjahr 1968/69" hat Bernd Cailloux erneut ein Erinnerungsbuch geschrieben. In "Gutgeschriebene Verluste" geht es vor allem um die Liebe. Aber auch die unheimliche Begegnung mit einem RAF-Terroristen wird beschrieben.

Von Ina Hartwig | 02.03.2012
    Als vor genau sieben Jahren ein schon etwas verwittert aussehender Mann namens Bernd Cailloux über "Das Geschäftsjahr 1968/69" berichtete – nein, nicht berichtete, sondern erzählte, und zwar in einem bis dahin unbekannten selbstironisch-schnodderigen, abgeklärt-lustigen und lüsternen Ton –, da rieben sich die Kritiker die Augen. Die jüngeren unter ihnen hatten den Namen des Autors noch nie gehört.

    Bernd Cailloux, ehemaliger Discokugelhändler und Drogenzauberlehrling, lebte lange zurückgezogen. Er hatte sich im Sommer 1968 mit Hepatitis C infiziert und damit seine Gesundheit chronisch ruiniert. Die Liebe zu einer gewissen Régine, die ihn so wunderbar "zum Mann hochgeschlafen hatte" in der Hamburger Isestraßen-WG, war ebenfalls zerbrochen durch "den Gilb". Einen hohen Preis hat Bernd Cailloux bezahlt für die "künstlichen Paradiese", für die "nonverbale Revolution" der Trips aus der Gifteküche, die er in vollen Zügen genossen hatte.

    Jetzt ist ein neuer Roman von Bernd Cailloux erschienen. Er heißt "Gutgeschriebene Verluste", im Untertitel "Roman mémoire". Einiges in diesem Erinnerungsbuch ruft die heroische, die wüste Zeit noch einmal auf, die wir aus dem Überraschungserfolg "Das Geschäftsjahr 1968/69" bereits kennen. Darüber hinaus handelt es sich bei den "Gutgeschriebenen Verlusten" um eine Fortsetzung, die Zeitgeschichte, Zeitgeist und persönliche Biographie wieder aufs Feinste verbindet.

    Noch in den Siebzigern verabschiedet sich Bernd Cailloux von seiner "Lieblingsstadt" Hamburg, wo er gründlich gescheitert ist, und geht nach Westberlin. Dort führt er alsbald das typische Insulanerleben, das heißt vor allem ein reges Nachtleben im überschaubaren Radius des Schöneberger Kneipenkiezes. Man wohnt billig und nimmt sich viel Zeit für sich selbst. Café Mitropa, Café Goltz, der legendäre Dschungel sind die Bühnen für "lokale Zelebritäten", die sich aufführen wie internationale Kinostars, wenn sie nur ein Etablissement betreten. Und Cailloux mittendrin: "Wunschpartnerausgucken... das Gucken überhaupt" war eine Hauptbeschäftigung damals. Selten ist die Westberliner Selbstzufriedenheit der hedonistischen frühen achtziger Jahre, diese "Gier nach Interessantheit", so pointiert, so ätzend und ironisch geschildert worden.

    Aus dieser Zeit datiert die Freundschaft zu dem erfolgsverwöhnten Schriftsteller Thomas Leiser, der mittlerweile am Ostrand der Stadt wohnt, mit Ex-Stasi-Kadern in unmittelbarer Nachbarschaft. Wir befinden uns in den Jahren 2005 folgende, in der Romangegenwart: Von hier aus wirft Cailloux die Erinnerungslassos aus. Seinen Freund Leiser trifft er gelegentlich im Schöneberger Café Fler, einem Schuppen der "Übriggebliebenen". Die Männergespräche entbehren nicht des Therapeutischen; Leiser nimmt den Erzähler hart ran.

    Das aktuelle Problem, dem die beiden sich widmen, heißt Ella. Das ist eine attraktive Lady Mitte vierzig, mit der der sechzigjährige Erzähler, nach einer erfolgreich abgeschlossenen Virus-Therapie, so etwas wie einen erotischen Frühling erlebt. Im Bett, erfahren wir, verfüge Ella über eine "traumwandlerische Sicherheit". Leider aber nur dort: Im Alltag nämlich stresst sie den Erzähler mit, wie er meint, typisch weiblichen Wünschen nach "totalem Zusammensein". Ständig wolle sie reden oder etwas essen und am liebsten gleich zusammenwohnen. Außerdem sei sie krankhaft eifersüchtig und suche ständig Streit. Leiser widerspricht, er habe doch Glück, in seinem Alter:

    "Du nimmst nach wie vor nichts wirklich ernst, du kannst offensichtlich so einer Frau nicht beistehen – dir fehlt etwas ganz Entscheidendes.
    Empathie?
    Nenn es wie du willst...
    Ich bin ein Elefant, Madame... einer, der die Einsamkeit genauso fürchtet wie die Nähe...
    Wenn du so weitermachst, sagte Leiser, dann bleibt dir demnächst nur noch das Trash-Programm der alten Männer..."

    Die Liebesgeschichte zu Ella, angenehm unaufdringlich erzählt, gehört nicht zu den ganz großen Stärken des Romans, ist aber notwendig, a) um den Erzähler an seine eigene emotionale Grenze zu führen – wir haben es mit einem durchaus kritischen Selbstporträt zu tun – und b) um als roter Faden durch seine diversen Zeitreisen in die Vergangenheit zu dienen. Definitiv liegen die Stärke und der verführerische Charme des Buchs dort, wo sein glühender Kern zu vermuten ist; in der amüsanten, traurigen, ergreifenden Suche nach gültigen Worten für das, was als magische Zahl "68" die Zeitgeschichte und das Leben des Erzählers ganz entscheidend geprägt und verändert hat.

    Gut dreißig Jahre nach seiner Infektion durch eine verschmutzte Heroinspritze hatte ihn die Vergangenheit mit voller Wucht wieder eingeholt. Der Körper vergisst nichts, weiß die Drogenwissenschaft. Die "hepatologische Schwerpunktpraxis", in der sich der Erzähler einer neuartigen Therapie unterzieht, denn sein Virus ist explosionsartig ausgebrochen, muss man einen markanten Schauplatz nennen. Im Wartezimmer sitzen die Elendsgestalten als "Verzweiflungsgemeinschaft" herum und schweigen, obwohl sie einander doch so vieles zu sagen hätten. Die Scham ist hier größer als in den Chatrooms des Internet, merkt Patient Cailloux lakonisch an. Es bleibt unserem todkranken Erzähler nichts anderes übrig, als den delikaten Wechsel von der illegalen Drogenmafia zur legalen Drogenmafia, der Pharmaindustrie, zu akzeptieren. Die behandelnde Ärztin, jünger als er und zudem aus dem Osten, macht ihm klar, wenn er die Therapie ablehne, hätte er nicht länger als zwei Jahre zu leben. Doch selbst in dieser dramatischen Szene spart Cailloux nicht mit Humor. Wohin die Reise denn damals habe gehen sollen, will die Ärztin von ihm wissen:

    "Gar nicht so einfach, einer Frau aus der ehemaligen DDR den komplizierten 68er-Kram zu erklären, diese unendlich ergiebige Kurzgeschichte, deren historische Pointen die Ossis am wenigsten verstehen könnten – schließlich wollten sie drüben den erzwungenen Sozialismus schon wieder loswerden, als im Westen noch für eine quasi-sozialistische Revolution gekämpft wurde. Schwer, so jemandem diese experimentelle Zeit zu verklickern, den Aufbruch zu allen möglichen neuen Ufern, den unbedingten Ungehorsam einer ganzen Generation, die auf der Schaumkrone einer Welle ritt..."

    Die Erklärungsnot wiederholt sich keineswegs nur mit Damen, die jünger sind und daher den ganzen "Erlösungs-Zirkus Achtundsechzig" nicht persönlich durchlebt haben. Die Erklärungsnot wiederholt sich, auf extreme Weise, gerade in der Begegnung mit einem männlichen Generationsgenossen. "Was wären wir heute, wenn es 1968 nicht gegeben hätte?", so lautet das Thema einer Podiumsdiskussion, zu der unser Erinnerungsheld von einer Schweizer Bodensee-Uni mit Schwerpunkt Wirtschaft eingeladen wird zu einer Talkrunde. Erwartet wird, neben einem Historiker der Bewegung und einem TV-Philosophen und Ex-SDSler, ein früheres Mitglied der Rote Armee Fraktion, ein Mann, der über zwanzig Jahre im Knast saß und dem der Spitzname "Karl May der RAF" anhängt. Auch wenn der vollständige Name nicht fällt, ist klar, um wen es sich handelt: Peter-Jürgen Book. Ella, die in Berlin bleibt, gibt ihrem Freund und Liebhaber den Rat mit auf den Weg, dem Ex-Terroristen zur Begrüßung ruhig die Hand zu schütteln. Das geschieht dann auch, und unser Erzähler staunt über "so ein Patschhändchen bei einem ehemaligen RAF-Schrauber".

    Die Rolle des Erzählers bei diesem Podiumszirkus: Sein altes Business-Ding, die flächendeckende Versorgung der deutschen Tanzflächen mit Stroboskopen, noch einmal als Hippie-Märchen zum Besten zu geben, ohne die von der politischen Szene hart kritisierte Verzahnung von Subkultur und ihrer anschließenden Kommerzialisierung auszuklammern. Doch gegen die Räuberpistolen von "Peter von der RAF" kommt er nicht an. An Peters Lippen hängt das Publikum; begeisterten Studenten erzählt dieser Schleyer-Mitentführer eine süffige Anekdote über Andreas Baader; zwei silberhaarige Professorinnen heften ihre schmelzweichen Blicke auf den gewesenen Gewalttäter und wünschen ihm zum Abschied "alles erdenklich Gute".

    Was Cailloux über diese unheimliche Begegnung mit Book berichtet, der ebenfalls schwer drogenabhängig war und mittlerweile ein Häuschen in Italien sein eigen nennt, zählt zu den Höhepunkten des Romans. An keiner Stelle entblößt Bernd Cailloux sich so sehr wie hier, und zwar ganz bewusst. Das ist echter Mut: Zuzugeben, wie er vor Publikum geschrumpft ist neben dem RAF-Star, an dem sich das gediegene Bürgertum sein restanarchisches Mütchen kühlt; zuzugeben, dass ihm ein Witzversuch neben diesem gerissenen alten Bombenbauer– "peinlich, peinlich" – "im offenen Mund verfaulte", Hofmannsthal lässt grüßen. In der Wertehierarchie der Nachwelt, so muss der Erzähler bitter feststellen, stehen die Hippies ganz unten auf der Leiter. Dabei ist er von deren gesellschaftlicher Langzeitwirkung persönlich absolut überzeugt: Ohne Hippies, so eines seiner vielen Bonmots, kein Öko und kein sanfter Tourismus.

    Apropos Tourismus. Auch Ella und der Erzähler unternehmen eine kleine Reise, als Erinnerungstouristen sozusagen. Sie besuchen jene Stadt, in der der autobiographische Erzähler zwar geboren wurde, 1945, einige Monate nach Kriegsende, wo er aber nicht aufgewachsen ist. Und so kommt es, dass er über sechzig Jahre später das thüringische Erfurt das erste Mal seit seiner Geburt wieder betritt. Mit dem Ergebnis eines kräftigen Aufpralls seines langerprobten Lebensgefühls als dauer-egoistischer Hauptstadt-Bohemien auf die Fakten seiner unbekannten Vorgeschichte. Man könnte auch sagen: Ein unerhörtes Ereignis will endlich ans Tageslicht. Von wem die Initiative zu diesem Trip in die Vergangenheit ausgeht, daran wird kein Zweifel gelassen:

    "Ella gehörte zu jenen Frauen, die familiengeschichtlich, insbesondere familienfrühgeschichtlich problematische Ereignisse ihrer Liebespartner seelenkundlich aufarbeiten wollen – selbst wenn Klärungen oder gar Aufarbeitungen bei diesen Männern weder dringend erwünscht noch wegen der bereits weit vorangeschrittenen Biographie überhaupt sinnvoll scheinen, wie in meinem Fall."

    Warum sein Vater immer wieder Hassausbrüche bekam gegen seine leibliche Mutter, das versteht er erst jetzt, auf der Reise mit Ella nach Thüringen. Dort treffen sie Frau Richter, deren Eltern seinen Vater und seine Mutter in den Nachkriegswirren als Flüchtlinge aufgenommen hatten. Nach allem, was die sympathische alte Dame erzählt, muss man wohl davon ausgehen, dass seine Mutter kurz nach seiner Geburt den Verstand verloren habe. Von einer Wahrsagerin habe sie sich die Untreue ihres Manns einreden lassen, ihn daraufhin denunziert und dann das Baby zu ihm abgeschoben.

    "Hatte mich das Schicksal in Person des eventuell leichtfertigen Vaters, der postnatal depressiven Mutter vom Start weg mit einem üblen Handicap auf die Bahn geschickt?", fragt der Erzähler sich unter dem Eindruck der schockierenden Auskunft. Dem Anflug von Selbstmitleid und Trauer über den Totalausfall mütterlichen Instinkts folgt jedoch bald schon die beruhigende Selbsterklärung, dass nun ja klar wäre, warum es bei ihm mit der Empathie hapere. Auch diesen Verlust schreibt er sich gut. Und tatsächlich, die Sache mit Ella kommt nach dem Psychotrip in seine Vergangenheit nicht mehr ins Lot. Woraus wir ernüchtert schließen: Ein Happy End ist für altgewordene, dauerironische, bindungsneurotische Egozentriker nicht vorgesehen.

    Bernd Cailloux: "Gutgeschriebene Verluste."
    Roman mémoire. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 273 Seiten, 21,95 Euro.