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Männlich, weiblich, anders

Lange wurden sie totgeschwiegen: intersexuelle Menschen, früher Zwitter oder Hermaphrodit genannt. Die Medizin versuchte, das Geschlecht von Menschen, die weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen, möglichst früh eindeutig festzulegen, indem sie sie "umoperierte". Doch seit geraumer Zeit kritisieren Selbsthilfeorganisationen solche genitalchirurgischen Eingriffe als "Menschenrechtsverletzung".

Von Ingeborg Breuer | 05.07.2012
    Mutter:

    "Ich bin 44 Jahre alt, verheiratet mit dem Vater meiner beiden Kinder. Unser jüngeres Kind kam vor gut fünf Jahren mit uneindeutigem Geschlecht zur Welt. Diagnose chromosomales Mosaik, 45x0, 46xy."

    Auf der Anhörung des deutschen Ethikrates im Juni 2011 schilderte Julia Marie K. ihr Leben mit ihrem jüngsten Kind. Es wurde mit einem uneindeutigen Geschlecht geboren. Das Kind ist "intersexuell".
    "Die Geburt meines Kindes hat alles infrage gestellt, was ich bis dahin über Geschlechtsidentität wusste. Heute weiß ich, dass ich kein Denkschema für Intersexualität hatte und habe. ... Ich konnte und kann ein Sein in dieser Welt ohne die Kategorie männlich-weiblich überhaupt nicht fassen. Jetzt, wo ich es kenne, schaue ich mein Kind an und kann zur gleichen Zeit einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen sehen."

    Intersexuelle Menschen sind genetisch, anatomisch oder hormonell nicht klar dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen. Sie haben vielmehr weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale. Die Ursachen dafür sind vielfältig, ebenso die Erscheinungsformen, in denen sich Intersexualität zeigt. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, dass die Zahl der intersexuellen Menschen in Deutschland schwer zu schätzen ist. Dr. Michael Wunder, Psychologe und Mitglied des Deutschen Ethikrates:

    "Es gibt Gruppen, die dazu zählen, sich aber dagegen verwahren, darunter gezählt zu werden. Und dann kann man sagen, ist diese Gruppe relativ groß, etwa bei 100.000 in der Bundesrepublik. Wenn man sagt, Intersexuelle sind nur die, bei denen das Geschlecht uneindeutig ist und die auch uneindeutig bleiben, wenn sie nicht korrigierend operiert werden, ist die Zahl etwas geringer. Auch da gingen Fachleute von bisher 8.000 - 10.000 aus ... und es gibt auch Schätzungen, die in die 80.000 gehen."
    Zwitter, Hermaphroditen - in der antiken Mythologie ranken sich um solche Figuren tiefsinnige Geschichten. Doch in unserer Gesellschaft wurde über intersexuelle Menschen, die weder Mann noch Frau oder vielleicht auch beides sind, bis vor Kurzem nicht gesprochen. Ihr Anderssein wurde tabuisiert, weiß auch Lucie Veith, Sprecherin des Vereins Intersexueller Menschen zu berichten.

    "Fast alle intersexuellen Menschen haben einmal einen Satz gehört: Rede nicht drüber, das werden die anderen nicht verstehen. Das wird dich ins soziale Aus bringen, wenn du darüber redest und das führt natürlich dann auch zu einer inneren Vereinsamung. Es gibt dann auch so etwas wie eine Selbsttabuisierung, ... und wenn jemand das von außen entdeckt, fühlt man sich ertappt. Es ist ein unglücklicher Zustand, der dort produziert wird, weil das sind sehr persönliche Verletzungen, die da sichtbar werden und ich glaube, dieser Respekt und diese Würdelosigkeit des Umgangs mit Intersexuellen in der Vergangenheit, dass das sehr wohltuend ist, wenn man dann auf jemanden trifft, der total anders reagiert und der genau Bescheid weiß."

    Die Medizin versuchte, das Uneindeutige wegzuoperieren. Meist war es einfacher, ein Mädchen zu "modellieren", indem man alles, was einem Mädchenkörper nicht entsprach, entfernte. Oder auch hinzufügte, zum Beispiel eine künstliche Vagina, wenn diese dem Kind fehlte. Denn, so dachte man, die geschlechtliche Identität sei wesentlich durch Umwelt und Erziehung bestimmt. Würde man ein zum Mädchen 'designetes‘ intersexuelles Kind dann wie ein Mädchen erziehen, würde es schon zum Mädchen werden. Dr. Katinka Schweizer, Psychologin, ist Mitherausgeberin des im Frühjahr erschienenen Buchs "Intersexualität kontrovers".

    "Das ist das Vorgehen gewesen in der Medizin der letzten 50 Jahre, bekannt geworden unter dem Namen optimal gender, die wirklich davon ausging, dass die Erziehung die prägende soziale Umwelt die entscheidende Einflussgröße ist. Und das ist eine Annahme, die nicht haltbar ist, es gibt auch die biologischen Kräfte, die nicht zu vernachlässigen sind."

    Seit den 80er-Jahren formte sich eine Selbsthilfebewegung intersexueller Menschen. Viele von ihnen waren geschlechtszuordnenden Operationen unterzogen worden, meist schon in ihrer frühen Kindheit. Sie kritisierten die irreversiblen Eingriffe, klagten darüber, dass sie einem falsch empfundenen Geschlecht zugewiesen worden waren, über Einbußen der sexuellen Empfindungsfähigkeit. Eine Forschergruppe zur Intersexualität am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf führte eine umfangreiche Studie zur Intersexualität durch. Dr. Katinka Schweizer, die zu dieser Forschergruppe gehört, über die Erfahrungen dieser Menschen:

    "Die Hälfte ist zufrieden, die Hälfte unzufrieden. Klagt über traumatische Erfahrung, klagt über Narbenbildung, über Schmerzen, auch vielfach über die fehlende psychologische Begleitung, unvollständige Aufklärung. Und dann auch die Begleitbehandlung, nämlich, dass aufgrund der Außergewöhnlichkeit viele berichtet haben, wie plötzlich Scharen von Studenten hereinkamen und das besondere Genitale sich betrachteten. Ich hab Gespräche geführt mit Menschen, die erst über unsere Studie ein vollständigeres Bild über ihre Diagnose und ihre Besonderheit bekommen haben. ... Aber viele sagen auch, wie gut, dass ich nichts wusste, aber gut war auch, dass die anderen auch nichts wussten. Wenn aber die Eltern das jahrelang als Familiengeheimnis getragen haben und auf einmal die Offenbarung kommt, ist es schwierig."

    2008 kritisierte der Verein Intersexueller Menschen e.V. gegenüber der UNO die genitalchirurgischen Eingriffe bei Unmündigen als "Menschenrechtsverletzung" und verurteile solche "medizinischen Versuche am Menschen". Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins:

    "Diese Operationen, die so harmlos sich anhören, das sind Eingriffe in das äußere und innere Geschlecht, das sind kosmetische Operationen an Kleinkindern, die nicht eingewilligt sind von den Personen selbst. Man weiß nicht, welche Entwicklungen diese Kinder nehmen werden. Das ist unglaublich, man entfernt gesunde Organe von Kindern, hormonproduzierende Organe von Kindern und weiß nicht, wie man die Kinder anschließend substituieren kann, mit welchen Hormonen und den Eltern werden die Informationen vorenthalten. Und ich denke, es ist ein Skandal, dass wir Kinder kastrieren in Deutschland, dass wir Kinder genital verstümmeln, denn nichts anderes ist es. Wenn jemand ein Genital hat, dass hinreichend nicht als ausreichend gilt, um zu penetrieren oder penetriert zu werden, woher wissen wir, dass dieser Mensch es möchte. Und wenn er es möchte, kann er das später doch noch wunderbar machen. Es gibt kein Argument in meinen Augen, dass ausreichen würde, diese genitalverändernden Operationen zu rechtfertigen."

    Bei einer kleinen Zahl intersexueller Menschen sind frühe operative Eingriffe notwendig, weil akut Lebensgefahr besteht. Bei einer größeren Zahl aber waren die geschlechtszuweisenden Eingriffe vor allem 'kosmetischer‘ Natur. Die Medizin machte da lange keinen Unterschied. Denn das Faktum der Intersexualität selbst wurde als der medizinische Notfall beschrieben, wie Katinka Schweizer erläutert:

    "Lange Zeit ist Intersexualität als medizinisches Problem gesehen und definiert worden. Ich sage, dass Intersexualität eher eine gesellschaftliche Herausforderung darstellt. Ein Problem stellt es für viele Ärzte dar, wenn Sie Lehrbücher lesen, wird Intersexualität oft als psychosozialer Notfall dargestellt und ich denke, dass eine große Angst da ist und Verunsicherung, also was tun wir mit einem Kind, das nach der Geburt nicht eindeutig zuzuordnen ist als Mädchen oder Junge. Da steckt ein großer Problembereich, weil das normative Denken in der Medizin weit verbreitet ist."

    Doch nicht nur in der Medizin ist dieses normative Denken verbreitet. Mann und Frau, zwei und nur zwei Geschlechter zu denken, ist, wie es der Sexualforscher Gunter Schmidt nannte, eine "naive kulturelle Selbstverständlichkeit". Auch Julia Marie K., Mutter eines intersexuellen Kindes, gesteht ein, dass sie dieses Schema kaum verlassen kann:
    Mutter:

    "Intersexuell sein, bleibt ein Dazwischensein, oder ein Weder-noch-Sein, oder ein Eher-so-oder-Eher-so-Sein. Es gibt in unserer Erfahrungswelt kein Intersexuell-Sein. Auch für mein Kind bleibt die alltägliche Herausforderung, sich zuzuordnen. Das ist das Schmerzliche. Vielleicht liegt also in unseren Köpfen das größte Problem. Das Kind ist nicht krank, aber wir können das Kind nicht denken, wenn es keiner der beiden Kategorien eindeutig zugehört. Wir können ihm keinen Namen geben, wir können es nicht ansehen und sagen, da gehörst du hin. In abstrakter Reflexion scheint das beinahe banal. Das kann doch kein so großes Problem sein. Und doch ist es eins. "

    Doch das, was bislang kaum gedacht werden konnte, dass es nämlich etwas anderes noch als Mann oder Frau geben kann, wird von intersexuellen Menschen zunehmend zum Thema gemacht:

    "Das ist ein Wahn, ein Normierungswahn. Und kein Mensch wird besser oder schlechter, wenn er ein konstruiertes Genital hat, darüber muss man sich im Klaren sein und diese Normierungswut hilft niemandem. Es ist so, diese Operationen wurden gemacht, um Kinder vor Diskriminierung zu schützen. Wie diskriminierend ist das denn, wenn Sie wegen Ihres Genitals so schwere Eingriffe in ihre Gesundheit hinnehmen müssen!"

    Im Auftrag der Bundesregierung beschäftigte sich mittlerweile auch der Deutsche Ethikrat mit der Situation intersexueller Menschen. An oberster Stelle stand bei dessen Überlegungen das Kindswohl, das - im Falle der Intersexualität - oft auch gegen das Interesse der Eltern gewahrt werden müsse. Dr. Michael Groneberg, Philosoph an der Universität Lausanne:

    "Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Frage, wie schaffen wir es, dem Kind Gelegenheit zu geben, seine eigene Geschlechtlichkeit auszubilden? Wir wissen wenig, aber doch so viel, dass sich die Geschlechtsidentität nicht vor dem Alter von zwei Jahren ausbildet. Wir wissen auch, dass im Falle intersexueller Kinder Ungewissheit auch länger bestehen kann. Da brauchen die Eltern Beratung, nicht nur von Medizinern, sondern von Sozialwissenschaftlern, von Psychologen. Es gibt eine Grenze der elterlichen Entscheidungsgewalt, wir müssen nicht nur an die Eltern denken, die bestens aufgeklärt sind und das Beste für ihre Kinder wollen. Wir müssen auch an die Eltern denken, die nicht gut aufgeklärt sind und aufgrund ihrer Normen lieber für ein Geschlecht des Kindes stimmen, obwohl es nicht im Interesse des Kindes ist."

    Der Ethikrat kam zu dem Schluss, dass das Recht des intersexuellen Kindes geschützt werden müsse, sein Geschlecht selbst zu bestimmen. Im Februar 2012 erschien seine Stellungnahme. Michael Wunder, Sprecher der Arbeitsgruppe Intersexualität des Deutschen Ethikrates:

    "Der Ethikrat hat klar gesagt, dass geschlechtszuordnende oder korrigierende Operationen ein Eingriff in die Grundrechte sind, es verletzt das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, aber von dem lässt sich auch ableiten ein Recht auf sexuelle Identität und Fortpflanzungsfähigkeit, all diese Rechte werden dadurch fundamental verletzt. "

    Außer im Fall einer akuten schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder das Leben der Betroffenen lehnt der Ethikrat deshalb Eingriffe bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen Kindern ab.

    Zur medizinischen Behandlung ist zu sagen, dass wir Operationen, die geschlechtszuweisend und -korrigierend sind, ablehnen, im nicht einwilligungsfähigen Alter. Etwas anderes ist es, wenn jemand im erwachsenen Alter sagt, ich will dies oder jenes. Aber im nichteinwilligungsfähigen Alter, dass Kinder operiert werden, dieses lehnen wir ab, es ist ein Eingriff in die Grundrechte."

    Doch nicht nur das. Der Ethikrat hielt es für einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, wenn Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder als Mann noch auch Frau fühlen, rechtlich gezwungen werden, sich im Personenstandsregister einer dieser Kategorien zuzuordnen.

    "Der zweite wesentliche Forderungskomplex ist, dass wir Menschen, die nicht eindeutig Mann oder Frau sind, im Personenstandsrecht ersparen sollten, in ihren Pass so zu tun, als ob sie das eine oder das andere wären. Wir sollten ihnen ermöglichen, eine dritte Kategorie zu wählen, das heißt, Anderes, das kann heißen, es ist weder Mann noch Frau, aber auch es ist sowohl Mann als Frau, aber auch, es ist etwas ganz anderes."

    In Australien übrigens können Intersexuelle seit 2011 im Pass neben "männlich", "weiblich" auch ein "x" für "anderes" ankreuzen. Allerdings wollen sich lange nicht alle Betroffene als "drittes Geschlecht" outen. Einige möchten stattdessen ein unauffälliges Leben innerhalb der zweigeschlechtlichen Norm führen, ergab die Hamburger Studie zur Intersexualität. Katinka Schweizer:

    "Die Hälfte sagt, ja, wir sind für die Einführung, die Hälfte sagt Nein. Aber wenn Sie die Begründung untersuchen, sehen Sie, dass die Begründungen ähnlich sind. Diskriminierung vermeiden, Vielfalt ermöglichen. Die einen sagen, wir wollen erscheinen, sichtbar sein, die anderen sagen, wir wollen leben, nicht geoutet werden."

    Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins Intersexueller Menschen, begrüßt - mit einigen Einschränkungen - die Stellungnahme des Ethikrates. Für sie ist es ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Intersexualität zu enttabuisieren.

    "Ich denke, dass diese Empfehlungen ein wichtiger Schritt war hin zu einer Gesetzesbildung. Die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates geben dem Bundestag ganz klare Orientierungen, in welche Richtungen es gehen könnte und wo noch mal genauer hingeschaut werden muss. Ich denke, die Bundesregierung steht unter dem Druck etwas ändern zu müssen und ich denke, dass sie bereit ist etwas zu tun."

    Nicht Mann und nicht Frau zu sein - oder auch sowohl Mann als auch Frau - wird auch weiterhin bei vielen zunächst einmal Befremden, wenn nicht Abwehr hervorrufen. Das sieht auch Julia Marie K. so, die Mutter eines intersexuellen Kindes. Doch Fremdes kann möglicherweise vertraut werden, wenn wir ihm endlich einen Platz in unserer Gesellschaft zugestehen.

    Mutter:

    "Bei allem Fremden entsteht in uns ein Hang, es abzulehnen. Das ist eine ureigene Erfahrung. Wenn es uns aber gelingt, das Fremde nicht gleich abzutöten, können wir uns ihm neugierig nähern und es vielleicht lieben lernen. Auch der Uneindeutigkeit eines Geschlechts kann man sich liebevoll annähern."