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Magere Zeiten

Der Mensch muss essen, damit er Mensch bleibt. Anhaltender Hunger verfälscht seine Wahrnehmung, zentriert sein Denken und Fühlen auf einen einzigen Begriff: Nahrungsaufnahme. Wo Hunger aus echtem Mangel entsteht, gilt Dickleibigkeit daher nicht unbedingt als Makel. Das eine oder andere zusätzliche Kilo kann sich in Notzeiten als lebensrettend erweisen, und wer je wirklich gehungert hat, wird den Begriff "Diät" ausschließlich der Medizin zuschreiben, bei manchen Krankheiten indiziert, ansonsten eine unangenehme Störung vitaler Funktionen. Denn Essen ist nicht nur notwendig, Essen macht auch Spaß. Der Lustfaktor fällt so hoch aus, dass wir Kinder der Überflussgesellschaft den Verlockungen eines gefüllten Tisches kaum widerstehen. Wir schlingen und fressen all die Köstlichkeiten in uns hinein, von denen unsere Vorfahren nur träumen konnten, und irgendwann schreibt uns die Erdanziehungskraft eine geharnischte Quittung aus: Alles zieht uns nach unten. Der Teufelskreis von Lust und Askese, idealem Selbstbild und schwachem Fleische kann beginnen. Wohl dem, dem das erst im gefestigten Erwachsenenalter widerfährt.

Florian Felix Weyh |
    Lori, elf Jahre alt, ist Kind der Überflussgesellschaft und alles andere als erwachsen. Ihre altkluge Überlegenheit lässt zwar manchen darauf tippen, dass sich im schmächtigen Mädchenkörper ein viel älterer Geist verbirgt, doch Loris Probleme passen exakt zu ihrem biographischen Alter: Sie ist nicht beliebt. Ihre intellektuellen Fähigkeiten gelten bei den Gleichaltrigen wenig, wohl aber der Brustumfang, bei dem sie wenig aufzubieten hat. Die Jungen ignorieren sie, und ihre besten Freundinnen wenden sich ebenfalls ab, um das eigene Image nicht von der grauen Maus beschädigen zu lassen. Was Lori an der einen Stelle - nämlich am Busen - nicht besitzt, scheint sie an anderen im Überfluß zu haben: Bauch und Po, Oberarme und Schenkel sind gräßlich verunstaltet durch - Fett, mindestens einen halben Zentimeter dick. Ihre Mutter gibt nicht gerade das beste Vorbild ab, ißt sie doch nie ihren Teller leer, erbettelt sich aber zugleich "Kostproben" von den anderen Familienmitgliedern und stopft sich nachts mit Keksen voll. Diese Inkonsequenz stößt Lori ab, sie wird es besser machen, zumal sie erkennt, dass sich hinter dem Zauberwort "Diät" ein Mittel zu Steigerung der Beliebtheit verbirgt - als müsse man einfach einen Buchstabendreher korrigieren: Weniger beleibt macht mehr beliebt.

    Lori, das Mathematikass und Schachgenie, lernt mühelos Kalorientabellen auswendig und sieht fürderhin jeder Erbse ihren physiologischen Brennwert an. Auch in der Schule wird sie auffällig, rennt abwechselnd zum Wasserhahn und auf die Toilette: acht Liter Flüssigkeit am Tag dämpfen das Hungergefühl, das verspricht zumindest einer ihrer Diätratgeber, den sie wie pornographische Literatur unter dem Bett versteckt. Dennoch bleibt ihr Programm der Umwelt nicht verborgen, und Lori tritt die Odyssee vom Schularzt über den Kinderpsychiater bis zur stationären Krankenhauseinweisung an. Weil sie sich trotz ihrer gestörten Selbstwahrnehmung immer noch auf Höhe ihres Geistes befindet, protestiert sie nach Kräften: Alle reden von ihrem bedenklichen "Zustand", wo sie doch nur das uramerikanische Freiheitsrecht auf eine Diät in Anspruch nimmt - wie Millionen Amerikanerinnen auch. Die freilich sind älter als elf, und diese Unmündigkeit rettet Lori das Leben. Kurz vor der Zwangsernährung via Magensonde revidiert das bis aufs Skelett abgemagerte Mädchen seine Entscheidung: Ein Schlauch im Hals wird durch ein Schlankheitsideal nicht weniger schrecklich. Von Schlankheit sieht sie im Spiegel ohnehin keine Spur. Es ist das Gesicht des Todes, das ihr da entgegenschlägt.

    Mit "Magere Zeiten" hat die amerikanische Produzentin Lori Gottlieb ein beachtliches Stück Selbstfiktionalisierung vorgelegt. Nirgendwo auf den 280 Tagebuchseiten einer Elfjährigen finden sich Anachronismen oder perspektivische Brüche. Ob es sich tatsächlich um unbearbeitete Originalaufzeichnungen aus dem Los Angeles der späten siebziger Jahre handelt, mag man eher bezweifeln, doch der Tonfall und die leicht monotone Abfolge der Ereig-nisse passen zum Erlebnishorizont einer Elfjährigen. Dass sie trotz des starren Festhaltens an der These, die ganze Welt sei verrückt und nicht sie, zur selbstironischen Reflexion in der Lage ist, macht den Stoff erträglicher, auch wenn es die Authentizität ein wenig bricht. Der Trost des Buches liegt ohnehin im Überleben der Heldin - und wir gehen grenzüberschreitend davon aus, dass Literatur und Leben sich hier einmal decken.