Lori, das Mathematikass und Schachgenie, lernt mühelos Kalorientabellen auswendig und sieht fürderhin jeder Erbse ihren physiologischen Brennwert an. Auch in der Schule wird sie auffällig, rennt abwechselnd zum Wasserhahn und auf die Toilette: acht Liter Flüssigkeit am Tag dämpfen das Hungergefühl, das verspricht zumindest einer ihrer Diätratgeber, den sie wie pornographische Literatur unter dem Bett versteckt. Dennoch bleibt ihr Programm der Umwelt nicht verborgen, und Lori tritt die Odyssee vom Schularzt über den Kinderpsychiater bis zur stationären Krankenhauseinweisung an. Weil sie sich trotz ihrer gestörten Selbstwahrnehmung immer noch auf Höhe ihres Geistes befindet, protestiert sie nach Kräften: Alle reden von ihrem bedenklichen "Zustand", wo sie doch nur das uramerikanische Freiheitsrecht auf eine Diät in Anspruch nimmt - wie Millionen Amerikanerinnen auch. Die freilich sind älter als elf, und diese Unmündigkeit rettet Lori das Leben. Kurz vor der Zwangsernährung via Magensonde revidiert das bis aufs Skelett abgemagerte Mädchen seine Entscheidung: Ein Schlauch im Hals wird durch ein Schlankheitsideal nicht weniger schrecklich. Von Schlankheit sieht sie im Spiegel ohnehin keine Spur. Es ist das Gesicht des Todes, das ihr da entgegenschlägt.
Mit "Magere Zeiten" hat die amerikanische Produzentin Lori Gottlieb ein beachtliches Stück Selbstfiktionalisierung vorgelegt. Nirgendwo auf den 280 Tagebuchseiten einer Elfjährigen finden sich Anachronismen oder perspektivische Brüche. Ob es sich tatsächlich um unbearbeitete Originalaufzeichnungen aus dem Los Angeles der späten siebziger Jahre handelt, mag man eher bezweifeln, doch der Tonfall und die leicht monotone Abfolge der Ereig-nisse passen zum Erlebnishorizont einer Elfjährigen. Dass sie trotz des starren Festhaltens an der These, die ganze Welt sei verrückt und nicht sie, zur selbstironischen Reflexion in der Lage ist, macht den Stoff erträglicher, auch wenn es die Authentizität ein wenig bricht. Der Trost des Buches liegt ohnehin im Überleben der Heldin - und wir gehen grenzüberschreitend davon aus, dass Literatur und Leben sich hier einmal decken.