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Magie und Realität

"Die Tränenfrau" ist der fünfte Band einer Buchreihe, die ihresgleichen in der Verlagswelt sucht. 35 Verlage aus Europa, Asien und Amerika haben beschlossen, prominente Schriftsteller aller Herren Länder zu bitten, Mythen aus ihrem Kulturkreis neu zu erzählen. Deren Faszination ist ungebrochen.

Von Johannes Kaiser | 09.01.2007
    6 Romane sind bereits erschienen, 16 Schriftstellerinnen und Schriftsteller sitzen derzeit an ihrer Version eines Mythos. 30 weitere von dem Afrikaner Chinua Achebe über den Australier Richard Flanagan, die Engländerin A.S. Byatt bis hin zu Harry Mulisch und Salman Rushdie haben bereits zugesagt. Auch der Berlin-Verlag ist mit von der Partie, hat Ingo Schulze auf Adam und Evas Spuren gesetzt. Das Mythen-Projekt soll noch 10 bis 15 Jahre fortgesetzt werden.

    "Binu saß unter dem Baum und wartete auf den Tod. [...] Sie fühlte sich schuldig gegenüber ihrer toten Mutter. Von klein auf hatte ihre Mutter sie so viele Methoden gelehrt, ihre Tränen zu unterdrücken, aber keine davon hatte sie erlernt - keine bis auf die eine, mit ihren Haaren zu weinen. [...] Sie war einfach nicht gut im Weinen. Selbst wenn der Himmel einstürzte, aus den Augen durften keine Tränen fließen. Jedes Mädchen in Pfirsichdorf hatte diese Regel verinnerlicht. Nur sie, Binu, konnte sich einfach nicht daran halten. [...] Damit war ihr Schicksal besiegelt. Ein jeder Bewohner von Pfirsichdorf wusste: Augen, die Tränen vergossen, waren dazu verurteilt, sich für immer zu schließen."

    Doch die Vorhersage erweist sich als falsch, wie uns der 43-jährige chinesische Schriftsteller Su Tong erzählt, einer der wichtigsten Autoren der jüngeren Generation, gerühmt für seine drastischen, dramatischen, experimentellen Erzählformen. Davon kann man sich jetzt in seinem Roman "Die Tränenfrau" überzeugen, der sich der über 2000 Jahre alten chinesischen Legende der Ehefrau Meng annimmt, die ihrem Mann so treu ergeben war, dass sie unendliche Mühen auf sich nahm, um dem zum Bau der Großen Mauer Zwangsverpflichteten warme Wintersachen zu bringen. Bei Su Tong heißt die liebende Gattin Binu und ist eine naiv-dumme Dorfschönheit, die auf ihrer Reise die absonderlichsten Abenteuer erlebt, die absurdesten Demütigungen über sich ergehen lassen muss. Doch stur hält sie an ihrem Ziel fest. Mehrmals droht ihr sogar der Tod. Binu rettet immer wieder ihr nie endender Tränenfluss, ein Meer aus Tränen, das schließlich sogar die Große Mauer, unter der ihr Mann begraben liegt, zum Einsturz bringt: ein Märchen in drastische Worte gekleidet, voll mystischer Fabelwesen, Pferde- und Hirschmenschen, verwandelten Fröschen, mähenden Geistern, lächerlicher Herrscherfiguren.

    Mit "Die Tränenfrau" liegt nunmehr der fünfte Band einer Buchreihe vor, die ihresgleichen in der Verlagswelt sucht. 35 Verlage aus Europa, Asien und Amerika haben beschlossen, prominente Schriftsteller aller Herren Länder zu bieten, Mythen aus ihrem Kulturkreis neu zu erzählen. Deren Faszination ist ungebrochen und das aus gutem Grund, so die britische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong in ihrem als Einführung in das Thema von allen Verlagen gemeinsam herausgebrachten Essay "Eine kurze Geschichte des Mythos":

    "Die Menschen haben schon immer Mythen kreiert, denn wir sind Sinn suchende Kreaturen. Während andere Lebewesen damit leben können, keine letzten Fragen zu stellen, tun wir Menschen das. Wir schaffen uns dafür Verhaltensmuster, denn wir sind Wesen, die sehr leicht verzweifeln und die Geschichten helfen uns dabei, uns selbst zu definieren und in einer Welt, die oftmals chaotisch scheint, dem Ganzen Sinn zu geben."

    Der Siegeszug der Naturwissenschaften in Europa im 18. und 19. Jahrhundert hat allerdings die Kraft der Mythen schwinden lassen.

    "Bis dahin hatten die Menschen überall auf der Welt geglaubt, dass man Mythos und Logos zusammen bräuchte, Verstand und Mythologie, da beide unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen hatten. Logos half, die Gesellschaft zu organisieren, erlaubte mathematische oder medizinische Entdeckungen. Aber er konnte nicht dabei helfen, mit Tragödien fertig zu werden. Wenn zum Beispiel Ihr Kind stirbt, wollen Sie keine rationale oder wissenschaftliche Erklärung dafür, wie es geschehen ist, sondern Sie wollen Hilfe, um mit der verstörenden Trauer umgehen zu können, die Ihre ganze innere Welt ergriffen hat. Und dabei können Mythen helfen. Sie haben uns die innere Welt erschlossen und geholfen, mit unseren Ängsten, mit unseren Dämonen zu leben, nicht nur in unseren Köpfen, sondern auch in unserem Unterbewusstsein."

    Die Romane zeigen, wie unterschiedlich man mit den Mythen umgehen kann, die zum Menschen gehören wie Essen und Trinken. So hat sich zum Beispiel die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood Homers Bericht von der Rückkehr des Odysseus angenommen und ihn gegen den Strich erzählt, nämlich aus Sicht seiner Gattin Penelope und ihrer zwölf Mägde.

    ""In der Odyssee kümmert sie vor allem um die drei W: sie weint, sie wartet und sie webt. Das ist nicht gerade aufregende Lektüre. Aber sie muss eine Menge anderer Dinge ebenfalls erledigt haben, denn niemand sonst war dafür da. Odysseus und alle körperlich fitten Männer seines Ranges waren in den türkischen Krieg gezogen, aus dem niemand außer ihm zurückkehrte. Der Sohn war zu jung. Der Schwiegervater war zu alt. Sie hatte keine Armee, die sie hätte verteidigen können. Deswegen konnten die Freier den Palast überrennen und die Mägde vergewaltigen. Sie steckte also in einer sehr schwierigen Situation. Ihr Leben war den größten Teil der Zeit in Gefahr. Sie hätten ihren Sohn umbringen können. Sie aßen ihre ganzen Vorräte auf und setzten sie mächtig unter Druck, einen von ihnen zu heiraten. Sie musste all ihre Intelligenz einsetzen, dem zu entgehen. So webt sie das Leichentuch und trennt es nachts wieder auf. Und als das schließlich auffliegt, schlägt sie einen Wettkampf vor. Sie holt den Bogen des Odysseus und sagt: mal sehen, wer von den Freiern mit ihm schießen kann. Das war ziemlich clever von ihr, wusste sie doch, dass niemand dazu in der Lage war. Sie macht das sehr gut. Sie hält sie hin."

    Der leicht ironische Tonfall, die sarkastischen Nebenbemerkungen über ihre Cousine, die schöne Helena, die schonungslose Enthüllung männlicher Eitelkeiten - Margaret Atwood stützt ihre Demaskierung antiker Helden durchaus auf Fakten.

    Auch die 47-jährige englische Schriftstellerin Jeanette Winterson, mehrfach preisgekrönt für ihre ausgesprochen unkonventionelle Erzählform, ihre Mischung aus Magie und Realität, hat einen Faible für die griechische Mythologie. In ihrem Roman "Die Last der Welt" nimmt sie sich des Mythos von Atlas an. Der hat viel Zeit zum Nachdenken, während er die Erde auf seinen Schultern trägt. Das führt schließlich dazu, dass Atlas begreift, dass er selbst Herr seines Schicksals ist. So legt er am Ende des Romans die Erde nieder und ist frei.

    "Es gibt immer eine Möglichkeit, die alten Geschichten wieder neu zu erzählen. Wir werden ihrer nie müde. Darum bleiben sie auch in unserer Kultur erhalten. Das ist der Grund, warum wir sie kennen. Sie erzählen uns etwas über die menschliche Beschaffenheit. Was wollen wir? Wir wollen sicher leben, wir wollen unsere Kinder aufziehen, wir wollen geliebt werden, wir wollen nicht, dass uns jemand betrügt oder tötet oder verletzt. Wir möchten gerne glauben, dass unser Leben einen Sinn hat, statt nur nützlich zu sein. Wir möchten gerne wissen, worin der besteht. Darum sprechen uns Geschichten an, die von unserer Entscheidungen handeln, von Verrat, Liebe, Hoffnungen, den unentwegten Verlusten unseres Lebens, den Triumphen. Das spricht uns weiterhin an und darin sind die Mythen sehr gut."

    Als Verkörperung der Liebe gilt den Schotten der Göttersohn Angus. Er ist das Ergebnis des erschlichenen Beischlafs des Gottes Dagda mit der Flussgöttin Bodb. Dann allerdings raubt der Vater der Mutter ihr Kind, schiebt es aber schon bald als lästige Erziehungsaufgabe an seinen älteren Sohn, also Angus Bruder ab. Als junger Mann kehrt Angus dann in das Haus seines Vaters zurück und entmachtet ihn. Er regiert als fröhlicher Herrscher und Frauenschwarm, Schöpfer schöner Träume, bis ihn die Liebe trifft. Als sich die Geliebte in einen Schwan verwandelt, nimmt auch Angus die Gestalt eines Schwan an, um mit ihr zusammenleben zu können.

    Der schottische Schriftsteller Alexander McCall Smith nimmt sich die Angus-Sage, um einzelnen ihrer Episoden Geschichten aus unserem Alltag gegenüberzustellen. Nachdem wir zum Beispiel erfahren haben, wie der Göttersohn von seinem Vater verstoßen wurde, lesen wir von einem Jungen aus einem armen Bauernhaus, der seine Familie verlassen und nach Kanada auswandern muss, weil das Land nicht genug abwirft, um alle zu ernähren. Als sich Angus zum Schutzpatron der Schweine erklärt, ohne sie aber vor dem Gefressenwerden bewahren zu können, hören wir danach die Geschichte eines Tierwärters in einem Gentechniklabor, der ein ihm anvertrautes Schwein entführt und es dann doch wieder zurückbringen muss. Dafür findet er aber seine große Liebe. Erstaunliche Geschichten, verblüffende Parallelen.

    Sechs Romane sind bis jetzt erschienen, sechs Variationen über die ewigen Themen der Mythen. Wir werden, so Jeanette Winterson, ihrer nie müde werden.

    "Die Mythen sind sehr gut darin, uns daran zu erinnern, dass wir selbst Helden sind, dass in uns etwas steckt, das größer ist, als man selbst und die bescheidenen Umstände. Wir vergessen das oftmals, fühlen uns in unserem kleinen bescheidenen Leben gefangen und sehen nichts größeres. In unserer Welt ist es nicht erlaubt, Helden zu haben. Alles hat klein zu bleiben. Die Mythen handeln von den großen wie von den kleinen Dingen. Darum werden wir von ihnen immer wieder angezogen und darum ist es für einen Schriftsteller so befriedigend, sie aufzugreifen und für eine neue Generation neu zu schaffen."

    Die ungewöhnliche Buchreihe gibt den Mythen ihre Strahlkraft zurück, wenn auch in der gebrochenen Form der Aufklärung, der Nachfrage, des Neu- und Gegenentwurfs. Schriftsteller sind ihrer Magie schon immer verfallen. Das verspricht noch aufregende Lektüre.