Archiv


Magier, Mittler und Heiler

Waren Schamanen die ersten Systemanalytiker oder Psychotherapeuten? Diese Frage stellt sich in der Sonderausstellung "Schamanen Sibiriens - Magier, Mittler, Heiler", die ab kommenden Samstag im Stuttgarter Lindenmuseum bis zum Sommer zu sehen sein wird. Sibirien ist ein riesiger Teil Asiens, vom Ural bis zur Beringstraße, vom Himalaja über den Baikalsee bis zum Eis des Nordmeers. Dort leben 1,5 Millionen Menschen in 23 Völkern deren Namen dem Europäer meist fremd sind. Welche Denkanstöße hat die Kultur der Sibirischen Schamanen zu bieten?

Von Cajo Kutzbach |
    Das Zeremonialgewand eines sibirischen Schamanen hat einen Muschel-besetzten Kragen, die Brust ist mit Bierdeckel-großen Metallplatten besetzt und unterhalb des Gürtels folgen Walnussgroße Glöckchen in Reihen. Kurator Dr. Erich Kasten:

    "Das stammt von den Oroqen, das ist eine Südtungusische Gruppe, die heute im Bereich China lebt. Da sind natürlich sehr stark die Einflüsse aus südlichen Kulturen; aus dem Buddhismus, diese Metallplatten, die Spiegel sind auf dem Gewand sehr schön zu sehen."

    Aber einige Glöckchen fehlen. Das war eine Vorsichtsmaßnahme:

    "Aus der Sicht der Völker waren das heilige Gegenstände, die mit sehr großer Kraft beladen waren. Und die einheimischen Menschen hatten sehr große Angst sich von den Gegenständen zu trennen, und zwar aus dem Grund, weil sie befürchtet haben, dass der Sammler die Kräfte nicht beherrschen kann. Das kann nur der Schamane. Und sie haben dann eben um das Wohl der, eigentlich der Fremden, ihrer Gäste sich Sorgen gemacht und wollten das nicht rausrücken. Das haben natürlich die Sammler damals nicht so verstanden. Und dann haben die Einheimischen von einigen Objekten, die leicht verändert, zum Beispiel einen Stiefel an der Naht aufgeschlitzt. Und dadurch konnten die Geister entweichen und konnten keine Gefahr mehr bereiten dem Sammler."

    Als Anthropologe lehrte Erich Kasten zunächst an der Freien Universität in Berlin, ehe er beim Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle die Sibiriengruppe koordinierte. Seit vielen Jahren arbeitet er in Sibirien im Auftrag der Unesco und der Landesregierungen daran, Kulturen und Sprachen zu erhalten, oder zumindest zu dokumentieren.

    Diese eng mit der Natur verbundenen Völker glaubten, dass die Welt voller Geister sei. Ihr Lebensbaum verbindet, wie im Christentum das Diesseits mit einem tiefen dunklen Jenseits, ähnlich der Hölle und einem lichten luftigen Geisterreich, ähnlich dem Himmel. Der Schamane kann in Ekstase oder Trance Kontakt zur Geisterwelt aufnehmen. Dabei spielt seine Trommel, oft bemalt und mit Symbolen für Seelen oder Hilfsgeister behängt, genauso eine wichtige Rolle wie Gesang, Tanz oder halluzinogene Pflanzen.

    Vieles erinnert an nordamerikanische Indianer und ihre Medizinmänner. Das liegt an grundlegenden Gemeinsamkeiten, erklärt Erich Kasten:

    "Die Ähnlichkeiten zwischen den Indianern und den sibirischen Völkern ist eben deswegen auch, weil diese Völker lebten sehr nah mit der Natur. Sie haben die Natur sehr genau beobachtet und haben sich immer drum bemüht die Zeichen der Natur zu deuten. Und das ist auch das Grundelement im Schamanismus kann man fast sagen: Der Schamane war eben besonders dafür begabt, sensibel, diese Zeichen zu sehen. Und wenn etwas im natürlichen Gleichgewicht, wenn die Rentiere, oder wenn das Jagdwild ausblieb, oder Menschen erkrankt waren, hat man meistens die Schuld auf eigenes Fehlverhalten zurück geführt, dass man irgend was falsch gemacht hat. Und der Schamane musste dann eben von der Natur, oder von der beseelten Natur, das heißt von den Geistern der Tierwesen erfahren, was haben wir falsch gemacht, was können wir besser machen. Und eigentlich grad diese Gleichwertigkeit zwischen Mensch und Natur, die ist eigentlich das ganz Charakteristische im Schamanismus."

    In modernen Worten ausgedrückt, war der Schamane Systemanalytiker für das Ökosystem und Priester oder Psychotherapeut für sein Volk. Wenn in diesem System das Gleichgewicht, die Harmonie gestört war, musste er einen Weg finden, um dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Schamanismus befriedigt ein tiefes menschliches Bedürfnis:

    "Jeder sucht Erklärung grad das Unerklärliche, erklärlich zu machen; ohne Orientierung, ohne Erklärung wird man wahnsinnig. Und jede Kultur sucht seine Erklärung. Wir haben den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, wo wir oft auch nicht so ganz richtig liegen wahrscheinlich, und Andere haben dann ihre andern Hochreligionen.""

    So betrachtet dient Religion dem Seelenfrieden. Man hat eine Erklärung für das Unbegreifliche. Ein Erntedankfest bei uns und ein ähnliches Fest bei den Völkern Sibiriens ist Ausdruck von Dankbarkeit, aber auch das Bemühen um Harmonie mit der Natur.

    Wichtig für die Wirkung des Schamanen war seine Glaubwürdigkeit bei Zeremonien. Dafür setzt er sein ganzes handwerkliches Können ein, um etwa Geisterstimmen durch Bauchreden zu erzeugen, oder Töne so klingen zu lassen, als ob sie aus einer Ecke der Jurte kämen. Wie bei einem westlichen Zauberer versucht er die Menschen zu packen, aber nicht mit dem Ziel des Gelderwerbs durch Irreführung, sondern um die heilende Wirkung der Zeremonie zu verstärken. Dies versucht eine Klanginstallation, die grade aufgebaut wird, zu vermitteln:

    "Wenn der Schamane eben das Ritual durchführte, hat er auch die Tiergeräusche imitiert, mit denen er unterwegs was, die Vogelstimmen und das alles. Und das wollen wir versuchen so ein bisschen dem Besucher nahe zu bringen, wie es mal so gewesen sein könnte."

    Die Ausstellung, die vom Lindenmuseum gemeinsam mit dem Russischen Ethnografischen Museum in St. Petersburg zusammengestellt wurde, zeigt viele der 160 Gegenstände zum ersten Mal; auch zum Teil sehr alte Bilder, Filme und Gegenstände, die Schamanen benutzten. Ein mit Birkenrinde bedecktes Zelt samt angedeuteter Feuerstelle zeigt, wie ein Schamane lebte.

    Zeremonialgewänder wurden im Laufe der Zeit immer schwerer, weil der Schamane sie mit Symbolen, die sich als wirksam erwiesen, schmückte, darunter auch christliche Kreuze.

    "Oft ist dann auch die ganze Gruppe mit ihm auf die Jenseitsreise gegangen um die Ursachen zu ergründen. Und zwar wird das oft symbolisiert durch Fransen in dem Schamanengewand. Also Fransen symbolisierten oft die Seelen der Gemeinschaft. Das heißt der Schamane war gewissermaßen auch die Verkörperung der Gruppe in der Vermittlung mit den anderen Welten."

    Bei Krankenheilungen dienten Schnitzereien dazu, dass der böse Geist der Krankheit aus dem Menschen geholt und in die Schnitzerei verbannt werden konnte.

    "Diese Nanaj-Figuren, die haben dann haben dann eben diese durchlöcherten Arme und Beine. Das waren dann eben für Menschen, die Probleme hatten mit Beinen oder Armen wurde diese Figur eingesetzt. Und die Figur muss dann weiterhin immer gefüttert werden. Der Mund wurde bestrichen mit Nahrung. Und wenn man die Figur nicht weiter in der Weise huldigte, dann konnte sich der Geist wieder eines Tages rächen."

    So war es noch vor hundert Jahren. - In der Sowjetunion wurden Schamanen verfolgt, Rücksichtnahme auf die Natur galt als rückständig. Heute gibt es Völker mit über 400000, aber auch mit nur noch 400 Menschen. Und bei den kleinen Völkern ist mit der Sprache natürlich auch die schamanische Kultur bedroht:

    "Es sind natürlich schon sehr bedrohte indigene Sprachen. Sehr viele Sprachen, die sterben nun wirklich definitiv wahrscheinlich in dieser Zeit aus. Und deswegen gibt da besondere Programme und auch den ganz starken Wunsch der jungen Leute - grade nach Perestroika, nach Glasnost - sich jetzt wieder zu besinnen auf ihre eigenen kulturellen Wurzeln."

    Dabei inszenieren die Einen schamanistische Auftritte für touristische Zwecke, während Andere die zugrunde liegenden Wertvorstellungen interessieren. Denn Kommunismus und Turbokapitalismus erzeugen auch in Sibirien die Sehnsucht nach Orientierung. Die Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln kann da Halt geben. Moderne Forscher unterstützen das mit ihrer Arbeit. Erich Kasten vor einem Kajak in der Ausstellung:

    "Hier sieht man nachher ein schönes Projekt zum Erhalt von Handwerkstraditionen. Und zwar ist es der Nachbau eines alten Bootes. Ein Boot, das schon seit vierzig Jahren nicht mehr so gebaut wird. Ham wir son Workshop organisiert. Ich hab das dann alles dokumentiert auf Video und hab dann eben einen Film draus gemacht für die dortigen Schulen mit Untertiteln in Originalsprache. Und mit dem Material lernen die Kinder eben ihre Korjakische Sprache."

    Da gerade sibirische Lehrer und Künstler sich mit der Schamanischen Tradition befassen, zeigt die Ausstellung auch zeitgenössische Kunstwerke, in denen Schamanistische Vorstellungen weiter leben. Der Betrachter entscheidet, wie der Tourist, selbst, ob er sich nur am fremdartigen Leben erfreut, oder mit den Werten einer undogmatischen Weltanschauung auseinander setzt, die vermutlich seit 13.000 Jahren ein Leben im Einklang mit der Umwelt ermöglichte.