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Mahnungen zum Hinsehen

Was geht in einem 24-Jährigen vor, wenn er als Obergefreiter der US-Armee in den Irak geschickt wird? Wenn er etwa 200 Häuser stürmt, ohne je auf Verdächtige zu stoßen, dafür aber auf das stumme Entsetzen der Bewohner? Wenn er Kameraden und Zivilisten sterben sieht?

    Der Soldat Joshua Key hat Erlebnisse dieser Art nicht ertragen. Er ist desertiert und nach Kanada geflohen. Warum, das kann man jetzt nachlesen. In einem Buch, das er dem Sachbuch- und Romanautor Lawrence Hill in die Feder diktiert hat. Den Krieg im Irak aus der Perspektive der einfachen Soldaten zu beschreiben, bemüht sich auch Dietmar Herz, Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist mit US-Truppen unterwegs gewesen. Und zurückgekehrt mit Eindrücken aus zwei getrennten Welten: dem geschützten Raum von US-Camps einerseits, der feindlichen Außenwelt andererseits. Und mit langen Listen von Toten. Moritz Behrendt über zwei Bücher, die auf je eigene Art den Irak-Krieg aus der Froschperspektive beschreiben.

    "In der Zeit vom 28. Dezember bis zum 30. Dezember 2006 fielen wieder zehn Amerikaner. Christopher Esckelson, 22 Jahre alt, aus Vassar, Michigan; Nicholas Miller, 20 Jahre alt, aus Silverwood, Michigan, und William Spencer, 20 Jahre alt, aus Paris, Tennessee, ließen ihr Leben in einem Kampf um Falludscha. Zwischen den Jahren starben 203 Iraker, 192 davon waren Zivilisten."

    Herz: "Ich habe jeden einzelnen Gefallenen amerikanischen Soldaten identifizieren können. Den Namen, den Dienstgrad, wo er oder sie herkam, wo er oder sie gefallen ist. Für die Iraker gab es meistens nur Zahlen."

    Dietmar Herz, Politikprofessor in Erfurt, ist das deutsche
    Desinteresse am Krieg im Irak zuwider. Schulterzuckend sehen wir die immergleichen Fernsehbilder von Anschlägen in Bagdad oder Samarra, mit Gleichgültigkeit nehmen wir die Zahlen der Toten zur Kenntnis. Aber dieser Konflikt geht auch uns etwas an, davon ist Herz überzeugt. Deswegen ist er Ende 2006 in den Irak gereist:

    "Mir schien es, dass ich über diesen Konflikt nur vernünftig reden kann, mit Sachkunde reden kann, wenn ich mir ein eigenes Bild davon mache. Deswegen hatte ich mich entschlossen, für einige Zeit in den Irak zu gehen."

    Als "eingebetteter Politikwissenschaftler" begleitet Herz vier Wochen lang Einheiten der amerikanischen Armee und notiert genau, was er zu sehen bekommt. Einen Essay nennt er sein Buch "Die Amerikaner im Irak". Es ist keine der üblichen Analysen, was und warum die US-Regierung alles falsch gemacht hat, sondern ein Bericht voller Mitgefühl für die im Krieg handelnden und leidenden Menschen, auch und gerade die einfachen GIs. Da gewesen zu sein allein, bedeutet für Herz jedoch nicht, den Überblick zu haben über den Irak-Krieg.

    "Man kann über die Hölle aus der Distanz berichten und darüber langsam das Interesse verlieren, man kann auch in der Hölle leben und sich an ihre Schrecken gewöhnen."

    Zuerst landet Herz aber gar nicht in der Hölle, sondern bei Starbucks am Flughafen in Kuwait. Auch später sitzt er immer wieder in ähnlichen Coffee-Shops amerikanischer Militärcamps im Irak. Ein großer Teil der Routine der Soldaten dort besteht aus Warten: Sie gucken sich Videos an, spielen Computerspiele und leben in einer Art Parallelwelt.

    "Das ist eine ganz eigene Welt, in dieser Welt herrscht, ich sag das mal in Anführungszeichen, eine gewisse Art von Normalität. Allerdings müssen die Soldaten immer wieder nach draußen, in die irakische Welt. Manchmal bezeichnen das Soldaten als Indian Country, als Indianerland, als ein Gebiet, in dem andere Regeln gelten, in dem man angegriffen werden kann, in dem man den Feind nicht sieht."

    Dieses Indianerland bleibt auch in dem Essay des Politikprofessors terra incognita. Die große Stärke von Herz' Buch liegt in der Darstellung des Lebensalltags in den amerikanischen Camps. Herz beschreibt detailliert, wie die Soldaten die Zeit totschlagen, wie sie leben, wie ihre Umgebung aussieht. Neben den amerikanischen Militärs trifft der Autor immer wieder auf Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste, moderne Söldner in Fantasie-Uniformen etwa in der Grünen Zone in Bagdad:

    "Alles wirkt in einer seltsamen Weise globalisiert: ein Sprachengewirr, in dem sich englische und spanische Laute durchsetzen. Die vielen Uniformierten, die oft keinen Staat, sondern ein Wirtschaftsunternehmen vertreten, dessen Geschäft Sicherheit ist - die begehrteste und teuerste Ware des ganzen Landes."

    Während der Irak-Krieg in deutschen Medien mehr und mehr zu einem abstrakten, anonymen Konflikt verkommt, macht Herz deutlich, dass es um eine Vielzahl menschlicher Schicksale geht. Die klugen Anmerkungen des Politikprofessors heben sich wohltuend ab von sonstiger Krisenberichterstattung. Gerade weil Herz auf Dramatisierungen und Sensationen verzichtet, bringt er den Lesern die amerikanischen Soldaten in diesem Krieg nahe. Auch wenn der Autor nicht verhehlt, dass er den Irak-Krieg für einen Fehler hält, ist ihm jeder Anflug von Antiamerikanismus fremd.

    "Die Schadenfreude oder die versteckte Schadenfreude, die klammheimliche Schadenfreude am Scheitern der Amerikaner, ist nicht angebracht. Insofern sollten wir uns da nicht bequem zurücklehnen und sagen, das geht uns alles nichts an, das ist ein amerikanisches Problem. Das ist mit Sicherheit auch unser Problem. Das Wegsehen aus diesem Konflikt, finde ich, ist auch eine gewisse Art der Verrohung. Man beginnt zu akzeptieren, dass hier jeden Tag eine hohe Zahl an Menschen stirbt, ohne dass wir uns in irgendeiner Weise bemühen, politisch auf die Situation einzuwirken."

    Natürlich kann man Herz Einseitigkeit vorwerfen, schließlich kommt die irakische Perspektive in seinem Buch überhaupt nicht vor. Doch gerade diese Einseitigkeit ist ein Vorteil. Herz tut nicht so, als hätte er den Überblick über die Gesamtsituation im Irak. In einem Land, das man nur in Begleitung von bewaffneten Beschützern bereisen könne, sei das gar nicht möglich. In seiner offenen und nüchternen Sprache ist sich Herz der Grenzen seiner Wahrnehmung sehr bewusst:

    "Ich würde nicht vorgeben, dass ich den Irak-Konflikt als solches analysiert habe. Ich glaube, dass ich etwas besser verstehe, was die Situation der amerikanischen Präsenz, der amerikanischen Truppen im Irak ist, aber das ist nur eine Facette eines sehr, sehr komplizierten Amalgams von Konflikten."

    Und selbst den amerikanischen Soldaten kommt Herz als deutscher Wissenschaftler nur bedingt nahe. Er zählt zwar die Namen der Gefallenen auf, aber, und das ist der einzige Kritikpunkt an diesem in seiner Ehrlichkeit herausragenden Buch, ihre Gesichter und Geschichten bleiben schemenhaft.

    Sehr konkret dagegen ist die Geschichte, die Joshua Key zu erzählen hat. Der 29-Jährige beschreibt, wie er aus einem armen, gewalttätigen und waffenverliebtem Elternhaus im ländlichen Oklahoma zur amerikanische Armee kommt und dann in den Irak geschickt wird. "Ich bin ein Deserteur", heißt das Buch, dass Key, unterstützt von einem kanadischen Journalisten veröffentlicht hat. Zum Glück ist es mit Ausnahme des missglückten, moralgeschwängerten Nachwortes keine plumpe Abrechnung mit der Politik der Regierung Bush, sondern ein persönlicher und präziser Erlebnisbericht aus dem ersten Kriegsjahr 2003. Am Anfang verspürt Key noch den Kick der Macht, wenn er etwa mit seinem Trupp Häuser in Ramadi durchsucht.

    "Nach der Hausdurchsuchung waren wir aufgeputscht. Mir kam es vor, als liefe mir das Adrenalin über einen Tropf direkt in die Vene. Nach diesem Abenteuer wollte ich mehr. Ich wollte die Scheißterroristen fassen und vermutete, es war einfach nur Pech, dass wir sie beim ersten Mal nicht gefunden hatten."

    Sie suchen Terroristen und Waffen, meistens finden sie aber nur schreiende Frauen. In den ersten Monaten des Irak-Kriegs stellt sich niemand im Land der schwer bewaffneten US-Armee in den Weg. Und auch später, als die Angriffe auf die Soldaten zunehmen, bleibt der Feind unsichtbar. Bei den Soldaten sorgt das für Frust:

    "Die wahren Aufständischen bekamen wir nicht zu Gesicht, geschweige denn, dass wir einen Schuss auf sie abgeben konnten, also mussten Zivilisten herhalten."

    Neben der Angst vor dem unsichtbaren Feind nistet sich in den Camps der Soldaten noch eine perfide, für viele aber durchaus reale Furcht ein: "Wie treu ist eigentlich meine Frau zu Hause?"

    "Ich wusste, wer von seiner Frau gerade per Brief den Laufpass bekommen hatte, ich kannte den armen Kerl, der zwei Stunden am Telefon angestanden hatte und dem dann seine Frau kurz und bündig erklärte, dass sie einen neuen Mann im Bett hatte."

    Key selbst bleibt davon verschont. Als er Urlaub von der Front bekommt, flüchtet er mit seiner Frau Brandi und den vier Kindern nach Kanada. Keys Entschluss zu desertieren, ist nicht Folge eines einzelnen Schlüsselereignisses, sondern einer ganzen Reihe von Erlebnissen. Er will gesehen haben, wie amerikanische Soldaten mit den Köpfen enthaupteter Iraker Fußball spielen. Er muss mit anschauen, wie ein kleines Mädchen gezielt erschossen wird, und er ist überrascht, als er in einem arabischen Fernsehsender die Teletubbies sieht. Key beschreibt alle diese Episoden mit großer Präzision, er versucht jede Ungenauigkeit zu vermeiden. So wird sein Ringen um die Entscheidung zu desertieren nachvollziehbar. Auch als er schon im Heimaturlaub bei seiner Frau ist:

    "Mein Gewissen sagte mir, dass es falsch sei, in den Irak zurückzukehren und weiter Dinge zu tun, die meiner Überzeugung nach Unrecht waren. Doch der bloße Gedanke daran, zu desertieren, überforderte uns völlig."

    Joshua Keys Geschichte mag nicht typisch sein, auszuschließen ist auch nicht, dass er eigene Missgriffe im Irak ausklammert, schließlich läuft sein Asylantrag in Kanada noch. Sein Buch ist aber wertvoll, weil es ausführlich den Alltag und den Frust der amerikanischen Soldaten im Irak beschreibt.


    Dietmar Herz: Die Amerikaner im Krieg. Bericht aus dem Irak im vierten Kriegsjahr
    C.H. Beck Verlag, München, 2007
    160 Seiten, 17,90 Euro

    Joshua Key: Ich bin ein Deserteur. Mein Leben als Soldat im Irak-Krieg und meine Flucht aus der Armee
    Hoffmann und Campe, Hamburg 2007
    256 Seiten, 19,95 Euro