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Mainzer Kita-Skandal
Mutmaßliche* sadistische Gewalt unter Kindern

In einer katholischen Kita in Mainz wurden Kinder mutmaßlich* über Wochen hinweg gequält – von anderen Kindern. Sie schlugen - so die Vermutungen* - Altersgenossen oder Jüngere, zwangen sie, sich zu entblößen oder steckten ihnen Gegenstände in den Po. Über 50 Kinder sollen betroffen gewesen sein als Opfer von Gewalt oder als Handelnde - wovon die Kita-Mitarbeiter angeblich nichts mitbekommen haben sollen.

Von Anke Petermann | 15.06.2015
    Spielende Kinder sind auf Mülltonnentüren der Katholischen Kindertagesstätte Maria Königin in Mainz (Rheinland-Pfalz) gemalt. Nach mutmaßlichen sexuellen Übergriffen unter Kindern hat die katholische Kirche die Kindertagesstätte vorübergehend dicht gemacht. Die Vorfälle beschäftigen jetzt auch Ermittler und Behörden. Das Landesjugendamt kritisierte am Donnerstag die Verantwortlichen.
    Die Kita Maria Königin soll erst im neuen Kita-Jahr im September mit neuer Leitung und neuem Personal wieder öffnen. (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
    Zum Auftakt der Ermittlungen ist laut Mainzer Staatsanwaltschaft nicht klar, wie die Beteiligung von handelnden und betroffenen Kindern zu gewichten ist. Speziell geschulte Kripo-Mitarbeiter sprechen mit Kindern, Eltern, Angehörigen und dem Kita-Personal. Wer konkret von den sieben fristlos gekündigten Mitarbeitern und der Leitung als mutmaßliche* Beschuldigte in Frage kommt, steht noch nicht fest.
    Geprüft wird, ob Erzieherinnen beziehungsweise die Leiterin Aufsichtspflichten verletzt haben. Elternberichte und Dokumente lassen darauf schließen, dass von 55 Kindern des katholischen Kindergartens 50 oder mehr betroffen waren, entweder als Opfer von Gewalt oder als Handelnde.
    "Sexuell getönte sadistische Gewalthandlung"
    Kinder schlugen demnach mutmaßlich* Altersgenossen oder Jüngere, zwangen sie, sich zu entblößen, steckten ihnen Gegenstände in den Po - so heißt es. Laut Michael Huss, Chefarzt Kinder- und Jugend-Psychiatrie der Rheinhessen-Fachklinik, ist das:
    "Gar nicht so klassisch jetzt im sexuellen Missbrauchssinn zu verstehen, sondern eher eine stark sexuell getönte sadistische Gewalthandlung, die da zwischen den Kindern vollzogen wurde mit Erpressung, Unterdrückung, Demütigung. Das sind sehr sadistisch gewaltgeprägte Impulse, da muss man tatsächlich davon ausgehen, dass sich die Kinder das mit dieser Tönung nicht selbst ausdenken. Und ob das nun pornografisches Material ist, dem die altersunangemessen ausgesetzt waren, oder ob an ihnen selbst auch sexueller Missbrauch verübt wurde, das sind Spekulationen, aber in diese beiden Richtungen geht natürlich unser denken."
    Erste Hinweise vor einem halben Jahr
    Unklar ist, seit wann sich die mutmaßlichen* Misshandlungen unter Kindern im Alltag der kleinen überschaubaren Kita etablieren konnten. Vor einem halben Jahr gaben Eltern erste Hinweise, Verletzungen im Genitalbereich sollen ärztlich festgestellt worden sein. Warum dennoch nichts geschah, ist eines der vielen Rätsel. Offen auch, ob die sadistische Abwärtsspirale, wie Michael Huss es nennt, möglicherweise schon lange vor den ersten Beschwerden einsetzte.
    Die Pfarrei als Träger der Kita will Anfang Juni von den Übergriffen erfahren haben und informierte das Bistum. Das schloss die Kita sofort, informierte die Eltern aber erst eine Woche später über die konkreten Gründe - und dann auch die Staatsanwaltschaft. Die Kita-Mitarbeiter haben von der Alltagsgewalt unter Kindern angeblich nichts mitbekommen. Generalvikar Dietmar Giebelmann kann das nicht nachvollziehen:
    "Zu sagen, ich war im Raum und habe es nicht gemerkt – Kinder sind verletzt worden! Dass die Einrichtung sich keine Hilfe geholt hat, gehört zu dem geschlossenen System, was ich sage."
    Traumatisierte Kinder
    Ob der katholische Träger und das Bistum genug getan haben, um einem solchen System der Verrohung vorzubeugen, ob es genügend Supervision und Unterstützung für die Erzieher und die Kita-Leitung gab – das dürfte ebenfalls aufzuklären sein. Sofern es tatsächlich zu Übergriffen kam, könnten Kinder traumatisiert worden sein*. Kinderschutzbund und Universitätsmedizin Mainz bieten Betroffenen Beratung und Betreuung an. Zentrales Problem für die Kinder sei, so sagt Michael Huss als federführender Kinderpsychiater,
    "dass hier ein Schutz versagt hat. Man würde in einer Kita immer davon ausgehen, dass Kinder beaufsichtigt sind und dass, wenn bedrohliche oder schädigende Situationen eintreten, dass dann entsprechend die Erzieher oder der institutionelle Rahmen für einen Schutz sorgt. Und genau das hat hier nicht funktioniert. Und damit ist, wenn ich das mal im Bild sagen darf, das 'Nest beschmutzt.' Das irritiert Kinder natürlich besonders. Was ich jetzt hoffe: Dass zunächst mal der Schutzraum wiederhergestellt wird, und das müssen jetzt die Eltern tun, indem sie ihre Kinder quasi aus dem Fokus herausnehmen. Da kann es durchaus auch richtig sein, das Kind nicht sofort bei einem Psychiater vorzustellen, und jetzt erst mal zuzuwarten."
    Wenn das Kind aber erzählen wolle, seien Zuhören, Offenheit und Empathie gefragt. Erst im neuen Kita-Jahr im September soll die Kita Mariae Königin mit neuer Leitung und neuem Personal wieder öffnen.
    (*) Bitte beachten Sie: Bei den Handlungen handelt es sich zum damaligen Zeitpunkt nur mutmaßlich - und nicht, wie in der Ursprungsversion des Beitrags missverständlich interpretierbar, um tatsächlich nachgewiesene Übergriffe. Deshalb wurde das Manuskript an den gekennzeichneten Stellen entsprechend verändert. Später stellte sich der Sachverhalt anders dar, wie Campus & Karriere am 24.11.2015 berichtet hat.