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Makabrer Wanderzirkus

Gäbe es eine Maschine zur Verlangsamung der Zeit, sie stünde in Solothurn. Dort würde sie jedes Jahr zu den Literaturtagen an Auffahrt, wie Himmelfahrt in der Schweiz heißt, ihre Aggregate anwerfen. Das heimliche Zentrum des Solothurner Gefühls bildet die Genossenschaftsbeiz "Kreuz", und in ihr wiederum die Baskenmütze Peter Bichsels. Unvermutet tauchen der Schriftsteller und seine Lieblingswirtschaft in einer Prosaminiatur Aglaja Veteranyis mit dem Titel "Der Besuch II" auf. Darin zeigt Bichsel alias "Herr P" keinem geringeren als Gott von der Luftseilbahn aus die Berge, Solothurn und das Kreuz und ist enttäuscht, als der nur ein belangloses "sehr schön" herausbringt. Die Herren gesetzten Alters beginnen zu raufen, Bichsel fällt aus der Kabine, unten wartet schon Gott auf ihn, und zwar "zornig, wie man das von der Bibel her kennt". Am siebten Tag schließlich versöhnen sie sich.

Von Katrin Hillgruber |
    Ein stärkerer Kontrast als der zwischen der sonnigen Szenerie in Solothurn und dem Freitod der 39-jährigen Aglaja Veteranyi am frühen Morgen des 3. Februar 2002 im Zürichsee ist kaum vorstellbar. Schon Monate zuvor, auf einer Rumänienreise mit ihrem Lebensgefährten, kündigte sich eine schwere psychische Krise an. Peter Bichsel hat seine junge Kollegin, die erst mit 17 Deutsch sowie Lesen und Schreiben lernte, als großes Talent geschätzt: "Hier schreibt eine Artistin auf dem hohen Seil, und ich schaue ihr von unten zu und mir stockt der Atem", befand er über ihren Debütroman "Warum das Kind in der Polenta kocht" von 1999. Aglaja Veteranyis Eltern, die sich später trennten, waren Stars des rumänischen Staatszirkus: Er als finsterer Clown, sie als Artistin, die an ihren Haaren hängend tollkühn durch die Luft schwebte und die Tochter in ständige Angst versetzte.

    Die Geschichte vom Streit des Herrn P mit Gott ist noch eine der heitersten in Veteranyis Sammlung Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter. Nach dem Roman Das Regal der letzten Atemzüge (Herbst 2002), der berührenden Totenrede auf ihre Tante, erscheint der Band mit Kurzprosa als zweites Buch postum, auf ausdrücklichen Wunsch der Autorin, wie der Verlag mitteilt.

    Die Slapstick-Szene in der Luftseilbahn läßt auch an Ludwig Metzgers Filmporträt "Hier Himmel – Aglaja Veteranyi" - eine Koproduktion des Westdeutschen Rundfunks mit dem Schweizer Fernsehen DRS und 3sat – denken. Der außergewöhnliche Nekrolog wurde kürzlich mit dem Fernsehpreis LiteraVision der Stadt München ausgezeichnet. In Gesprächen mit den Hinterbliebenen, durch die Musterung der Requisiten eines ganzen Künstlerlebens aus dem Koffer, erkundet der Kölner Filmemacher diskret und erhellend die psychische Struktur von Veteranyis Autorschaft.

    Im Nachwort des Buches schreibt Werner Morlang, Aglaja Veteranyi habe ihr "Prosastückligeschäft" mit einem gewissen merkantilen Stolz betrieben. Auf den Ordner, in dem sie die Geschichten sammelte, hatte sie eine Sentenz ihres Landsmannes Eugène Ionesco notiert: "Die Wörter allein zählen, alles andere ist Geschwätz." Und so braucht die so spät und glücklich zum Deutschen gekommene Sprachkünstlerin auch nicht viele Worte, um ins absurde Zentrum der Dinge und Gefühle vorzustoßen. Die wenigen aber, die sie benützt, wirken lange nach.

    Nicht mehr als "1 Postkarte" – eine als Ziffer eins geschrieben - bleibt der Tochter, nachdem sie der Vater vor zwanzig Jahren verließ. Dann kehrt er zurück und "stirbt 1 mal", verlässt sie also ein zweites Mal, diesmal unwiderruflich. In "Meine Geburten" legt sie einer 13-Jährigen folgenden Satz in den Mund:

    Die großen Leute haben Zähne im Gehirn, die beißen ins Herz.

    Die Kinder in diesen unversöhnlichen Miniaturen sind fast alle seelisch versehrt. Ihre absurde Gegenwehr gehen sie deshalb mit einer düsteren schöpferischen Kraft an, die an Roger Vitracs surrealistische Farce "Victor oder Die Kinder an der Macht" erinnert. Von den Schrecken der Kindheit gibt es kein Entrinnen. Lapidar werden lebenslängliche Urteile verhängt und an Ersatzobjekten vollstreckt, etwa in Sabines Fall:

    Der Garten
    Am Geburtstag läßt Sabine Herrn und Herrn Stein kommen. Sie ziehen Handschuhe an und tragen Sabines Möbel in den Garten.
    Jedes Jahr wird ein anderes Möbelstück erhängt.
    Heute das Sofa. Am großen Baum.
    Sabine verbringt den Geburtstag allein.
    Sabines Vater hat sich an ihrem Geburtstag in diesem Garten erhängt.
    Heute wird Sabine 30 Jahre klein.


    Aglaja Veteranyis transitorisches Personal verkleidet sich mit Leidenschaft, es lebt aus dem Koffer, läßt sich nicht festlegen. Sind die makabren Kunststücke absolviert, werden die Figuren wieder weggepackt, abreisebereit wie im Wanderzirkus. Die titelgebende Frau Butter wechselt ihre Identität, indem sie sich – ausnahmsweise weniger originell - in "Hühnersuppe" umbenennt. Einer alten Frau fällt beim Sturz aus dem Bus die Perücke vom Kopf und bleibt auf der Straße liegen - Zitat: "Ein zweiter Kopf ohne Gesicht:"

    Der Komik der Zerstörung wohnt der Schrecken des Persönlichkeitsverlusts inne. In ihren besten Momenten erinnert diese Choreographie der Zu- und Zwischenfälle an die unbeschwerte Absurdität von Aglaja Veteranyis russischem Lieblingsautor Daniil Charms. Gelingt den Figuren die Bewegung jedoch nicht mehr, etwa weil sie zu alt sind, dann greift der Tod Raum, ebenso die Sehnsucht nach ihm. Ein Selbstinserent schreibt:

    Suche jemand, der mich umbringt. Bezahle mit meiner Frau.

    Von einem alten Mädchen heißt es, ihm wachse ein Sarg im Bauch und die Liebhaber seien "schon so lange tot, dass alle Robert heißen". So liest sich die Prosa der letzten Worte.

    Aglaja Veteranyi
    Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter. Geschichten
    Deutsche Verlags-Anstalt, 136 S., EUR 17,90