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Malerei als flammender Appell

Vor 125 Jahren, am 23. November 1883 wurde der Mexikaner José Clemente Orozco geboren. Zusammen mit den international weit bekannteren Künstlern Diego Rivera und David Siqueiros gehörte er zum "Großen Dreigestirn der mexikanischen Wandmaler" des vergangenen Jahrhunderts. Orozco aber war der Älteste und künstlerisch vielleicht radikalste dieser so genannte Muralisten, die - ein jeder auf seine unverwechselbare Weise - eingängige, engagierte, zum Teil monumentale politisch-revolutionäre Wandbilder schufen, mit denen sie die Analphabeten der unterdrückten arbeitenden Klassen ihres Landes aufrütteln wollten. Hierzulande ist Orozco kaum bekannt, in seiner mexikanischen Heimat aber bis heute populär.

Von Rainer Berthold Schossig | 23.11.2008
    Eine Pyramide, getürmt aus drei toten Soldaten, geschlagenen, namenlosen Kämpfern der Revolution, massakriert, verkeilt zwischen Waffen und Geröll, in einem chaotisch zerklüfteten Schützengraben, darüber ein blutroter Himmel. Das Wandbild "Der Graben", 1926 gemalt von dem mexikanischen Künstler José Clemente Orozco, ein flammender Appell. Orozco gehört zu den großen Revolutions-Künstlern des 20. Jahrhunderts. Geboren am 23. November 1883 in Zapotlán el Grande, in der mexikanischen Provinz Jalisco, geht der ehrgeizige junge José Clemente in die Hauptstadt an die Akademie von Mexico City. Orozco war hin- und hergerissen - zwischen den Einflüssen Europas, den folkloristischen Motiven Mexikos und den Wurzeln der aztekischen Antike. Zunächst machte er als politischer Zeichner mit Karikaturen in der Presse auf sich aufmerksam.


    Die jahrzehntelangen Wirren der mexikanischen Revolution zwischen 1910 und 1926 befeuern die romantischen Träume der Künstler und Intellektuellen Mexikos - eine explosive Mischung, nicht nur ästhetisch. Bei Sprengstoff-Experimenten an der Hochschule verliert der Rebell Orozco seine rechte Hand und einen Teil seines Augenlichts.

    "Besser aufrecht sterben, als auf den Knien leben!" - Getreu diesem Wahlspruch der Zapatisten nimmt Orozco aktiv teil an den "Land-und-Freiheits"-Märschen der armen Bauern und an den Streiks der Studenten. So wird er aus nächster Nähe zum Zeugen der Rebellion und ihrer Schrecken. Dies prägt die expressive Wandmalerei - mexikanisch "Muralismo", macht sie zur sozial-revolutionären Armenbibel. Orozco gehört zum Gründerkreis der Bewegung. Zusammen mit seinen Kollegen Diego Rivera und David Siqueiros gestaltet er die Wände der Escuela Nacional Preparatoria in Mexico City. Doch er ist unzufrieden mit seinen Arbeiten; er findet, sie seien noch allzu abhängig von den europäischen Traditionen, und er zerstört viele davon. Auch die mexikanische Kunstkritik verurteilt Orozcos Stil; die nachrevolutionäre Regierung entzieht dem Muralismo die Unterstützung. Und die Künstler ziehen sich zeitweise in die USA zurück.

    1930 malt Orozco am kalifornischen "Pomona-College" einen monumentalen Prometheus, eine Leidens- und Lichtbringer-Gestalt, die seinen tiefen Glauben illustriert, dass sich Geschichte in großen Kreisen immer neu erfüllt. Die Passion des antiken Titanen, welcher der Menschheit das Feuer brachte, adelt Orozco durch Figuren im Stile Michelangelos. Kurz danach entsteht das Wandbild "Katharsis", ein flackerndes Panorama von Krieg und Gewalt, Industrie und Raubbau an der Natur. In fleischig-fluoreszierenden Farben geißelt Orozco moralischen Verfall und menschliche Hybris, Gier und Verblendung. So wird sein realistisches Menschenbild doch noch zum Menschheits-Bild, zum pathetischen Gleichnis, in dem die Zeit eingefrorenen scheint. Die schmerzliche Suche nach dem eigenen Stil führt Orozco zu einer in Mexikos Kunst bis dahin unbekannten, kämpferischen Monumentalität. Sein jüngerer Maler-Kollege Diego Rivera:

    "Ein Künstler ist vor allem ein Mensch, zutiefst menschlich bis auf den Kern. Wenn der Künstler nicht all das erahnt, was die Menschheit fühlt, wenn er nicht in der Lage ist, so sehr zu lieben, dass er sich selbst vergisst, ja aufopfert, und wenn nötig, seinen magischen Pinsel zur Seite legt, um den Kampf gegen die Unterdrücker ins Auge zu fassen, dann ist er kein großer Künstler."

    José Clemente Orozco starb 1949 in Mexiko-City. Sein Verdienst bleibt es, die Leiden seiner Zeit auf düstere, abgründige, dabei einleuchtende Weise aufgezeigt zu haben. So wurde seine Malerei zum Baustein der modernen nationalen Kunst Mexikos.