Julie Orringer hat einen Roman vorgelegt, der romanhafter nicht sein könnte. "Die unsichtbare Brücke" überspannt in der epischen Breite von 811 Seiten die Jahre von 1937 bis 1945, in denen das alte Europa zugrunde ging - um schließlich einen kurzen Ausblick auf den Kalten Krieg aufzutun. Doch steckt in diesem Buch ein unerschütterlicher Optimismus, wie er wohl nur in der Neuen Welt anzutreffen ist.
Alles beginnt an einem Septemberabend des Jahres 1937. Im Budapester Opernhaus weht noch ein Hauch von k.u.k.-Welt. Kronleuchter, goldene Zierrate, rauschende Röcke, Platzanweiser in Smoking und Puccinis Tosca in perfekt realistischem Bühnenbild - europäisches Kulturleben vor dem Fall in die Barbarei. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Romanheld, Andras Levi, in diesem Ambiente seinen ersten Auftritt hat. Andras ist ein feinsinniger, kultivierter junger Mann. Sohn liebvoller aber mittelloser Eltern, kann er nur dank eines Stipendiums ein Architekturstudium an der École Spéciale in Paris aufnehmen. Sein Bruder Tibor, der ihn in die Oper eingeladen hat, um seinen Aufbruch nach Paris zu feiern und den Abschied erträglicher zu machen, muss hingegen noch einige Jahre auf einen Studienplatz im italienischen Modena warten, wo er Medizin studieren möchte. Der Zugang zu ungarischen Universitäten ist ihnen verwehrt, denn eine Verordnung beschränkt die Zahl jüdischer Studenten auf sechs Prozent. Womit eins der Themen des Romans angeschlagen wird: der Antisemitismus, der nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa zuhause war, bevor Hitler daraus die Wahnidee der Judenvernichtung ableitete.
Auch in Paris wird Andras ihn zu spüren bekommen. Da liebäugeln einige Kommilitonen mit der Nazi-Ideologie, Überfälle auf jüdische Studenten sind an der Tagesordnung. Die französischen Nazis haben sogar Vereinigungen gegründet, die emblematische Namen wie Le Grand Occident tragen. Aber vor der deutschen Besatzung besteht für Juden und Antifaschisten in Frankreich immer noch die Möglichkeit, gegen den grassierenden Antisemitismus zu protestieren und die Versammlungen der französischen Hitler-Verehrer zu stören.
"Weitere Demonstranten schoben sich aus den Reihen in die Gänge, sie entrollten große Banner, hielten sie hoch, damit alle sie sehen konnten. Ligue International contre l'Antisémitisme stand auf einem. Schluss mit den französischen Hitlerianern auf einem anderen. Liberté, Egalité, Fraternité auf einem dritten. Die Männer mit den Bannern jubelten los, und das Publikum antwortete mit einem zornigen Brüllen. Der dünne Sekretär des Präsidenten lief geradezu violett an."
Orringers Roman basiert auf gewissenhafter Recherche. Auch Familienangehörige der Autorin sind zu Vorbildern ihrer Figuren geworden. Und die École Spéciale, an der Andras studiert, hat es wirklich gegeben - sie gibt es heute noch. Sie war eine Brutstätte der architektonischen Moderne, an der berühmte Architekten wie Pierre Vago und Auguste Perret unterrichten. Als internationale Einrichtung gegründet, nahm sie eine große Anzahl ausländischer Studenten auf. Seine jüdischen Kommilitonen erkennt Andras auf den ersten Blick, ein gewisses, unsicheres Auftreten scheint ihnen allen gemeinsam zu sein.
Andras Aufenthalt in Paris steht unter dem Stern seiner ersten, einer großen Liebe. Eine der Sorte, die partout nicht sein darf, und gerade deshalb umso heftiger entbrennt. Der einundzwanzigjährige Andras verliebt sich in die um neun Jahre ältere Ballettlehrerin Klara Morgenstern, eine ungarischstämmige Französin, die eine heranwachsende Tochter und eine offenbar finstere, geheim gehaltene Vergangenheit hat. Andras muss einen Spießrutenlauf der Liebesqualen durchstehen, um an den Kern dieser Frau und ihr Geheimnis vorzudringen. Ein Auf und Ab von Hingabe und Abweisung, Glückseligkeit und Verzweiflung, dem man über fast die Hälfte des Buches beiwohnt. Dass es ihm schließlich glückt, Klaras Vertrauen und Liebe zu gewinnen, hängt damit zusammen, dass es diesem Verehrer weder an Inbrunst noch an Feinsinn mangelt. Klaras Geheimnis enthüllt sich als eine abenteuerliche und ausnehmend leidvolle Geschichte von antisemitischen Schikanen, Vergewaltigung, Totschlag, Exil: Stoff, der mächtig auf die Tränendrüsen drückt. Doch von der Liebe Andras' und Klaras erzählt die Autorin in so zarten Tönen, dass es dem Leser manchmal schwer fällt, der Ergriffenheit standzuhalten.
"Auch wenn er sich vorgemacht hatte, mit keiner Antwort zu rechnen, hoffte er doch, dass Elisabet auf ihre Mutter einwirken würde, ihm zurückzuschreiben. An diesem Abend dann war er von Forestier heimgekehrt und hatte sie im Sessel vorgefunden, die schwarzen Schuhen auf dem Boden daneben wie zwei Viertelnoten. Andras blieb in der Tür stehen und starrte Klara an, voller Furcht, sie könne eine Erscheinung sein; sie stand auf und nahm ihm die Tasche von der Schulter, schob die Arme unter seinen Mantel und drückte ihn an ihre Brust. Da war ihr Geruch nach Lavendel und Honig, der brotähnliche Duft ihrer Haut. Dessen Vertrautheit brachte ihn fast zum Weinen."
Klar, dass große Gefühle in der Literatur immer nah am Kitsch erblühen. Diesem erliegt die Autorin aber zunehmend im zweiten Teil des Romans. Denn da geht es nicht nur um große Gefühle, sondern auch um Große Geschichte. Die Handlung wird nach Ungarn verlagert. Andras muss nach Budapest zurück, um sein Visum zu verlängern. Klara, mit der er inzwischen verheiratet ist, folgt ihm. Kurz darauf bricht der Krieg aus, Andras wird zum Arbeitsdienst eingezogen - einer Art Ersatz-Wehrdienst, zu dem ungarische Juden, die als unzuverlässige Staatsbürger galten, verpflichtet wurden. In Wahrheit handelte es sich um Zwangsarbeit, die Insassen der Arbeitslager starben reihenweise ob der mangelnden Ernährung, der unmenschlichen Schinderei, und nicht zuletzt wegen der Willkür von Lagerleitern und Wächtern. Es ist Julie Orringers Verdienst, das Grauen der Arbeitslager detailgenau zu beschreiben, ohne ihre Figuren, deren Charakter, deren Hoffnungen und private Sorgen aus dem Blick zu verlieren - so dass sich der Leser der Anteilnahme nicht erwehren kann. Die Autorin hält es aber offenbar für nötig, den Anblick des absoluten Bösen mit Musterbildern des Guten zu konterkarieren. Wo ehrenhafte Generäle und heldenhafte Häftlinge auftreten, um den Protagonisten - oder einen anderen Kameraden - um ein Haar vor dem sicheren Tod zu retten, stürzt die Erzählung geradewegs ins Triviale ab.
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn werden auch die ungarischen Zwangsarbeiter in KZ deportiert. Inklusive der meisten Mitglieder von Andras Familie. Andras gelingt es hingegen immer wieder, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen - eine Folge ebenso glücklicher wie unwahrscheinlicher Fügungen lässt den Leser nach einer Weile ahnen, dass der Romanheld durchkommen wird. Am Ende des Krieges wandelt er, zerlumpt, versehrt aber lebendig, durch das zerbombte Budapest. Ein prächtiges Historiengemälde, vom Wiedersehen mit der ebenso wundersam davongekommenen Klara aufgehellt und von Andras Verzweiflung über den Tod seiner Familienangehörigen überwölkt. Zum Schluss also ein Happy End nach allen Regeln der Filmindustrie. Was wieder einmal abgeschmackt - und ziemlich schade ist. So ist Orringers Mammutwerk eine herrliche Vorlage für einen Kassenerfolg geworden. Es hätte aber auch ein wirklich guter Roman werden können.
Julie Orringer: "Die unsichtbare Brücke". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andrea Fischer. Kiepenheur & Witsch, Köln. 816 Seiten. 24,95 Euro
Alles beginnt an einem Septemberabend des Jahres 1937. Im Budapester Opernhaus weht noch ein Hauch von k.u.k.-Welt. Kronleuchter, goldene Zierrate, rauschende Röcke, Platzanweiser in Smoking und Puccinis Tosca in perfekt realistischem Bühnenbild - europäisches Kulturleben vor dem Fall in die Barbarei. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Romanheld, Andras Levi, in diesem Ambiente seinen ersten Auftritt hat. Andras ist ein feinsinniger, kultivierter junger Mann. Sohn liebvoller aber mittelloser Eltern, kann er nur dank eines Stipendiums ein Architekturstudium an der École Spéciale in Paris aufnehmen. Sein Bruder Tibor, der ihn in die Oper eingeladen hat, um seinen Aufbruch nach Paris zu feiern und den Abschied erträglicher zu machen, muss hingegen noch einige Jahre auf einen Studienplatz im italienischen Modena warten, wo er Medizin studieren möchte. Der Zugang zu ungarischen Universitäten ist ihnen verwehrt, denn eine Verordnung beschränkt die Zahl jüdischer Studenten auf sechs Prozent. Womit eins der Themen des Romans angeschlagen wird: der Antisemitismus, der nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa zuhause war, bevor Hitler daraus die Wahnidee der Judenvernichtung ableitete.
Auch in Paris wird Andras ihn zu spüren bekommen. Da liebäugeln einige Kommilitonen mit der Nazi-Ideologie, Überfälle auf jüdische Studenten sind an der Tagesordnung. Die französischen Nazis haben sogar Vereinigungen gegründet, die emblematische Namen wie Le Grand Occident tragen. Aber vor der deutschen Besatzung besteht für Juden und Antifaschisten in Frankreich immer noch die Möglichkeit, gegen den grassierenden Antisemitismus zu protestieren und die Versammlungen der französischen Hitler-Verehrer zu stören.
"Weitere Demonstranten schoben sich aus den Reihen in die Gänge, sie entrollten große Banner, hielten sie hoch, damit alle sie sehen konnten. Ligue International contre l'Antisémitisme stand auf einem. Schluss mit den französischen Hitlerianern auf einem anderen. Liberté, Egalité, Fraternité auf einem dritten. Die Männer mit den Bannern jubelten los, und das Publikum antwortete mit einem zornigen Brüllen. Der dünne Sekretär des Präsidenten lief geradezu violett an."
Orringers Roman basiert auf gewissenhafter Recherche. Auch Familienangehörige der Autorin sind zu Vorbildern ihrer Figuren geworden. Und die École Spéciale, an der Andras studiert, hat es wirklich gegeben - sie gibt es heute noch. Sie war eine Brutstätte der architektonischen Moderne, an der berühmte Architekten wie Pierre Vago und Auguste Perret unterrichten. Als internationale Einrichtung gegründet, nahm sie eine große Anzahl ausländischer Studenten auf. Seine jüdischen Kommilitonen erkennt Andras auf den ersten Blick, ein gewisses, unsicheres Auftreten scheint ihnen allen gemeinsam zu sein.
Andras Aufenthalt in Paris steht unter dem Stern seiner ersten, einer großen Liebe. Eine der Sorte, die partout nicht sein darf, und gerade deshalb umso heftiger entbrennt. Der einundzwanzigjährige Andras verliebt sich in die um neun Jahre ältere Ballettlehrerin Klara Morgenstern, eine ungarischstämmige Französin, die eine heranwachsende Tochter und eine offenbar finstere, geheim gehaltene Vergangenheit hat. Andras muss einen Spießrutenlauf der Liebesqualen durchstehen, um an den Kern dieser Frau und ihr Geheimnis vorzudringen. Ein Auf und Ab von Hingabe und Abweisung, Glückseligkeit und Verzweiflung, dem man über fast die Hälfte des Buches beiwohnt. Dass es ihm schließlich glückt, Klaras Vertrauen und Liebe zu gewinnen, hängt damit zusammen, dass es diesem Verehrer weder an Inbrunst noch an Feinsinn mangelt. Klaras Geheimnis enthüllt sich als eine abenteuerliche und ausnehmend leidvolle Geschichte von antisemitischen Schikanen, Vergewaltigung, Totschlag, Exil: Stoff, der mächtig auf die Tränendrüsen drückt. Doch von der Liebe Andras' und Klaras erzählt die Autorin in so zarten Tönen, dass es dem Leser manchmal schwer fällt, der Ergriffenheit standzuhalten.
"Auch wenn er sich vorgemacht hatte, mit keiner Antwort zu rechnen, hoffte er doch, dass Elisabet auf ihre Mutter einwirken würde, ihm zurückzuschreiben. An diesem Abend dann war er von Forestier heimgekehrt und hatte sie im Sessel vorgefunden, die schwarzen Schuhen auf dem Boden daneben wie zwei Viertelnoten. Andras blieb in der Tür stehen und starrte Klara an, voller Furcht, sie könne eine Erscheinung sein; sie stand auf und nahm ihm die Tasche von der Schulter, schob die Arme unter seinen Mantel und drückte ihn an ihre Brust. Da war ihr Geruch nach Lavendel und Honig, der brotähnliche Duft ihrer Haut. Dessen Vertrautheit brachte ihn fast zum Weinen."
Klar, dass große Gefühle in der Literatur immer nah am Kitsch erblühen. Diesem erliegt die Autorin aber zunehmend im zweiten Teil des Romans. Denn da geht es nicht nur um große Gefühle, sondern auch um Große Geschichte. Die Handlung wird nach Ungarn verlagert. Andras muss nach Budapest zurück, um sein Visum zu verlängern. Klara, mit der er inzwischen verheiratet ist, folgt ihm. Kurz darauf bricht der Krieg aus, Andras wird zum Arbeitsdienst eingezogen - einer Art Ersatz-Wehrdienst, zu dem ungarische Juden, die als unzuverlässige Staatsbürger galten, verpflichtet wurden. In Wahrheit handelte es sich um Zwangsarbeit, die Insassen der Arbeitslager starben reihenweise ob der mangelnden Ernährung, der unmenschlichen Schinderei, und nicht zuletzt wegen der Willkür von Lagerleitern und Wächtern. Es ist Julie Orringers Verdienst, das Grauen der Arbeitslager detailgenau zu beschreiben, ohne ihre Figuren, deren Charakter, deren Hoffnungen und private Sorgen aus dem Blick zu verlieren - so dass sich der Leser der Anteilnahme nicht erwehren kann. Die Autorin hält es aber offenbar für nötig, den Anblick des absoluten Bösen mit Musterbildern des Guten zu konterkarieren. Wo ehrenhafte Generäle und heldenhafte Häftlinge auftreten, um den Protagonisten - oder einen anderen Kameraden - um ein Haar vor dem sicheren Tod zu retten, stürzt die Erzählung geradewegs ins Triviale ab.
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn werden auch die ungarischen Zwangsarbeiter in KZ deportiert. Inklusive der meisten Mitglieder von Andras Familie. Andras gelingt es hingegen immer wieder, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen - eine Folge ebenso glücklicher wie unwahrscheinlicher Fügungen lässt den Leser nach einer Weile ahnen, dass der Romanheld durchkommen wird. Am Ende des Krieges wandelt er, zerlumpt, versehrt aber lebendig, durch das zerbombte Budapest. Ein prächtiges Historiengemälde, vom Wiedersehen mit der ebenso wundersam davongekommenen Klara aufgehellt und von Andras Verzweiflung über den Tod seiner Familienangehörigen überwölkt. Zum Schluss also ein Happy End nach allen Regeln der Filmindustrie. Was wieder einmal abgeschmackt - und ziemlich schade ist. So ist Orringers Mammutwerk eine herrliche Vorlage für einen Kassenerfolg geworden. Es hätte aber auch ein wirklich guter Roman werden können.
Julie Orringer: "Die unsichtbare Brücke". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andrea Fischer. Kiepenheur & Witsch, Köln. 816 Seiten. 24,95 Euro