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"Man ist immer konfrontiert mit Überraschungen"

Trendscouts, die im Auftrag von Mode-Imperien neuen Ideen nachjagen und Thinktanks, die Regierungen und Konzerne beraten - mehr scheint nicht geblieben von jener Zukunftsforschung, mit der nach 1945 kritische Geister Debatten über die Gefahren der Atomtechnologie und die Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft anfachten. Erfunden hatte diese Futurologie ein deutsch-russisch-jüdischer Jurist im amerikanischen Exil: Ossip K. Flechtheim.

Von Jochen Stöckmann | 05.03.2009
    "Ich hatte in meiner eigenen Familie im Ersten Weltkrieg beide feindlichen Lager vertreten: Ein Onkel von mir - ein bekannter Kunsthändler, Alfred Flechtheim -, als der Krieg ausbrach wurde er eingezogen und wurde also Reserveleutnant, und die Familie jubelte. Der Bruder meiner Mutter wurde in die russische Armee eingezogen und kam dann in ein Gefangenenlager in der Nähe von Münster, wo wir lebten damals, und durfte uns jeden Sonnabend besuchen."

    Geboren am 5. März 1909 in der Ukraine als Sohn deutsch-russischer Eltern jüdischen Glaubens, aufgewachsen in Westfalen, war es Ossip Kurt Flechtheim sozusagen in die Wiege gelegt, als nüchtern-distanzierter Beobachter "zwischen den Fronten" zu vermitteln. Das demonstrierte er selber Ende der sechziger Jahre als Professor am Otto-Suhr-Institut in der sogenannten Frontstadt Berlin. Da fragte der Jurist und Politologe mitten im Kalten Krieg beide Seiten mit mahnendem Unterton:

    "Ob es uns gelingt, den Gegensatz zwischen Ost und West weiter abzubauen? Hier kriegerische Verwicklungen, die ja letal, fatal ausgehen müssen, zu vermeiden?"

    Das war mehr als nur Rhetorik, kein unverbindlicher Aufruf zu Harmonie: Flechtheim engagierte sich für einen "Dritten Weg", für einen Sozialismus, der alle bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte nicht nur respektieren, sondern auch praktisch durchsetzen sollte. Das war nicht die einzige Lehre, die Flechtheim aus der jüngsten Geschichte zog:

    "Ich bin 1927 mit 18 Jahren in die Kommunistische Partei eingetreten und wurde dann immer kritischer, als das, was man später als Stalinismus bezeichnete, sich mehr und mehr durchzusetzen begann. Habe aber aus dieser ganzen Tradition sozusagen übernommen, gerettet das Interesse an der Zukunft."

    Mit dem Instrumentarium der marxistischen Gesellschaftsanalyse entwarf Flechtheim, der 1935 über die Schweiz in die USA emigriert war, die Entwicklungslinien einer zukünftigen Gesellschaft mit demokratischen Strukturen und sozialer Absicherung - ohne großen Militärapparat. Das war die Geburtsstunde der "Futurologie", zum ersten Mal so genannt am 29. Oktober 1942 in einem Brief an den ebenfalls emigrierten Freund John Herz:

    "Was hältst Du davon, wenn ich statt auf die Vergangenheit mich auf die Zukunft werfen würde?"

    Nach 1945 nahm die neue, akademisch nirgendwo verankerte Disziplin der "Zukunftswissenschaft" in den USA einen steilen Aufstieg. Flechtheim, der 1946 als Bürochef des US-Hauptanklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess nach Deutschland zurückgekehrt war, hatte auf diese Entwicklung keinen Einfluss:

    "Ich selber habe auch wohl da - wie auch in der Politik überhaupt - immer zu einer Minderheit gehört, die eben als Phantasten, als Utopisten und so weiter abgelehnt wurden."

    Vor allem an der Kernkraft schieden sich die Geister. Während die erfolgreichen, vom Staat bestens geförderten Futurologen glaubten, die Zukunft allein durch Auswertung von Statistiken vorbestimmen zu können, sich mit dem Aufkommen leistungsfähiger Computer der Diktatur dieser Rechenknechte unterwarfen, beharrte Flechtheim darauf,

    "dass eben die Futurologie nicht im alten Sinne eine exakte Wissenschaft ist, weil sie eben einen philosophischen Ansatz hat, also im Sinne auch einer philosophischen Überprüfung, Kritik, und, wenn Sie so wollen, ein gewisses künstlerisches Element, also ein gewisses Nutzbarmachen etwa der Phantasie, der Kunst in diesem Sinne."

    Bei aller Fantasie aber hatte sich Flechtheim, der bis zu seinem Tod im März 1998 in Berlin politisch aktiv war, eines nicht vorstellen können: dass der Eiserne Vorhang sich öffnen, der Ostblock innerhalb weniger Monate zusammenbrechen könnte.

    "Ich würde sagen, dass Gorbatschow im besten Sinne des Wortes ein Futurologe ist, Stichwort: sanfte Technik, Qualität anstelle von Quantität. Auch die Grenzen des Wachstums sehr ernst zu nehmen. Wendungen, Gedankensplitter, Ausdrucksweisen usw., die sich zum Teil wörtlich mit meinen decken. Man ist immer konfrontiert mit Überraschungen."