Davon können sich deutsche Leser jetzt auch bei der Lektüre der deutschen Erstausgabe von Sartres Entwürfen für eine Moralphilosophie überzeugen. Allerdings haben die sechs täglichen Arbeitsstunden des französischen Philosophen einen Kenntnis- und Gedankenreichtum zur Folge, der es nicht gerade leicht mit dieser Lektüre für solche Leser macht, die bisher kaum eine Stunde wöchentlich mit Fragen der existenzialistischen Geschichtsphilosophie und der Marxschen Theorie verbracht haben.
Sartres Entwürfe, eine Sammlung von umfangreichen Notizen in zwei Heften festgehalten, entstanden 1947 und 48 zwischen den beiden philosophischen Hauptwerken 'Das Sein und das Nichts’, 1943 erschienen, und der Kritik der dialektischen Vernunft, die 1960 herauskam. Das Projekt einer stringenten Philosophie der Moral legte er beiseite und ließ es unvollendet.
Sartre starb 1980 und drei Jahre später erschienen seine Entwürfe in Frankreich als Buch, jetzt zum 100sten Geburtstag des Philosophen sind sie endlich auch auf Deutsch zu lesen. Der Philosoph Alfred Schmidt, selbst mit zahlreichen Arbeiten zur existenzialistischen Marx-Interpretation hervorgetreten, hat Sartres Entwürfe für uns rezensiert:
Erst nach seinem Tode sollten auf Wunsch Sartres seine unvollendeten philosophischen Texte veröffentlicht werden. Im "Selbstportrait mit siebzig Jahren, heißt es:
"Sie zeigen, was ich zu einer bestimmten Zeit machen wollte und aufgegeben habe, und das endgültig. Solange ich hingegen am Leben bin, bleibt ... die Möglichkeit, dass ich sie wieder aufgreife oder in einigen Worten sage, was ich daraus machen wollte. Nach meinem Tod veröffentlicht, bleiben diese Texte unvollendet, so wie sie sind, unklar, da ich darin noch nicht völlig ausgereifte Gedanken formuliere. Es wird beim Leser liegen, zu interpretieren, wohin sie hätten führen können. "
Vor eben dieser Aufgabe steht auch der deutsche Leser des Sartreschen Buches Entwürfe für eine Moralphilosophie, deren Originalausgabe 1983 unter dem Titel Cahiers pour une morale publiziert wurde. Der rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Philosophen erschienene, über tausend Seiten starke Band enthält zwei Hefte mit Notizen der Jahre 1947 und 1948. Hinzugefügt wurden zwei Texte von 1945, deren erster, tagebuchartig, das Verhältnis des Guten zur Subjektivität erörtert, das nicht an und durch sich existiert, sondern getan werden muss; der zweite Text ist eine phänomenologische Studie über Unterdrückung von Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die Sartre in seine Moralkonzeption eingliedern wollte. Arlette Elkaïm-Sartre, die Herausgeberin, räumt ein, dass die "in einem Zug heruntergeschriebenen Aufzeichnungen" Sartres "keine Struktur" haben. Gleichwohl sind sie mehr als "flüchtige Notate". Ihr "Leitgedanke" ist, umrisshaft, Stichwörtern des Registers zu entnehmen.
Der Gedankenreichtum des Buches setzt Leser voraus, die bereit sind, behutsamen Schritten eines Autors zu folgen, der keine fertige Doktrin verkündet, sondern angesichts einer radikal veränderten Welt- und Bewusstseinslage um Selbstverständigung bemüht ist. Sartres Entwürfe sind entstanden im Paris der Nachkriegszeit, in einer durch den sich anbahnenden Ost-West-Konflikt neu aufgeteilten Welt. Stalin stand an der Elbe, in Frankreich und Italien gab es starke kommunistische Parteien. Sartres Denkweg ist in diese zeitgeschichtlichen Tatsachen verwoben, gehorcht aber eigener Logik. Sein erstes, 1943 erschienenes Hauptwerk Das Sein und das Nichts steht im Zeichen Husserls und Heideggers und ist, so der Untertitel, der "Versuch einer phänomenologischen Ontologie". Diese, erklärt Sartre, wirft zwar die Frage auf, wie eine Ethik aussehen würde, "die sich ihrer Verantwortlichkeit angesichts einer menschlichen Realität in Situation bewußt ist". Da aber Ontologie sich nur "mit dem beschäftigt, was ist", kann sie die Frage nicht beantworten, geschweige denn "ethische Vorschriften erlassen".
Nun verfolgen Sartres Notizen keineswegs die Absicht, auf ethischer Ebene die abstrakt-ontologischen Betrachtungen seiner Schrift von 1943 linear fortzusetzen. Sartre betritt hier – auch als Moralphilosoph – Neuland. Das erklärt, weshalb er die Arbeit an den Entwürfen abgebrochen und ihre Publikation verhindert hat. Dadurch wird ihre sachliche wie biographische Bedeutung nicht geschmälert; dokumentieren sie doch Sartres – an Alexandre Kojève geschulte – Aufnahme der Hegelschen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft sowie sein intensives Studium des Marxismus, den er mit seiner stalinistischen Travestie nicht verwechselt.
Eine lediglich weltanschaulich, gar tagespolitisch bedingte Option für die linke Sache liegt Sartre fern. Er will seine "Konversion", wie er die Abkehr von phänomenologischer "Reinheit" nennt, nicht weniger streng begründen, wie die Begriffe, die sie ersetzen. Daher auch seine scharfe Kritik am Objektivismus der sowjetischen Ideologie. Sie steht in Sartres Aufsatz Materialismus und Revolution, der 1946 in der Zeitschrift Les Temps Modernes erschienen ist. Wie Sartre selbst hervorhebt, ist dieser Aufsatz unentbehrlich für das Verständnis des Tenors seiner Notizen. Dargelegt wird hier, wie unbefriedigend ein Denken ist, das, orientiert am starren Gegensatz von Idealismus und Materialismus, ein Glaubensbekenntnis verlangt. Sartre schreibt:
"Es ist die menschliche Subjektivität, die das Widerstreben des Wirklichen in der und durch die Absicht entdeckt, dieses Wirkliche auf die Zukunft hin zu überwinden. Idealismus und Materialismus heben beide gleichermaßen das Wirkliche auf, der eine, weil er das Ding, der andere, weil er die Subjektivität unterdrückt. Damit die Wirklichkeit sich offenbart, bedarf es eines Menschen, der gegen sie ankämpft; kurz, der Realismus des Revolutionärs erfordert in gleicher Weise die Existenz der Welt und die der Subjektivität; oder besser noch: er verlangt eine solche Wechselbeziehung der einen zur andern, dass man sich keine Subjektivität außerhalb der Welt vorstellen kann, und keine Welt, die nicht durch die Bemühung einer Subjektivität erhellt werden würde. "
Sartre näherte sich hier dem von Marx in den Thesen über Feuerbach entwickelten Begriff der "Praxis" im Sinn "gegenständlicher Tätigkeit". Seinem Selbstverständnis nach war jedoch der von ihm eingeschlagene, dritte Weg zwischen Idealismus und Materialismus der seiner damaligen Philosophie, die Existentialismus und Humanismus gleichsetzte. Verbunden war er mit der politischen Hoffnung, es werde sich in Europa eine demokratisch-sozialistische Alternative zu Kapitalismus und Staatssozialismus herausbilden. Der sich zuspitzende Kalte Krieg machte diese Hoffnung zunichte.
Der philosophische Ertrag des Buches besteht darin, dass Sartre hier vom dürren Gerippe Heideggerscher "Geschichtlichkeit" übergeht zu materialer Geschichte, wobei er diese nicht nur als mehr oder weniger gesicherten Archivbestand betrachtet, sondern, mehr noch, als zu gestaltende Gegenwart. Philosophie ist gleichbedeutend mit der sich verwirklichenden Idee.
"Die Philosophie unterscheidet sich nicht von dem Menschen, der dabei ist, die Welt zu verändern. Die Totalität des handelnden Menschen, das ist die Philosophie. "
Wenn "Geschichte" in Sartres Notizen stets in Großbuchstaben auftaucht, so spiegelt sich darin die Bedeutung, die das historische Universum für seine Reformulierung des Problems der Moral gewinnt. Machen die Menschen, wie Marx lehrt, ihre eigene Geschichte, aber nicht unter selbst gewählten, sondern stets vorgegebenen Umständen, ist individuelles Handeln letztlich determiniert, so wird Freiheit, wie Sartre sie emphatisch als Wesenszug des Menschen behauptet hatte, fragwürdig und damit die Verantwortung für sein Tun; nur ein freier Mensch kann verantwortlich, das heißt moralisch handeln. Wie aber, fragt Sartre, lassen sich Geschichte und Moral vereinbaren? Eine "konkrete Moral" ist nur als "Synthese des Allgemeinen und Historischen" denkbar. Gewählt, betont Sartre in der Sprache Hegels, wird das "konkret Allgemeine". Die Menschen wollen beidem Rechnung tragen: der Allgemeinheit von Prinzipien und ihrer jeweiligen Situation. Deshalb verlangen wir vom Historiker,…
"...dass er unsere Grundsätze billigt, indem er sich durch das synthetische Denken in unsere Situation versetzt (das heißt im Grunde, die Idee wieder aufgreift) und der Bewegung der Geschichte folgt. "
Wenn wir von der "Gesamtheit der Menschen" als dem Subjekt der Geschichte sprechen, unterliegen wir einem Fehler. Sklaven, Leibeigene und Arbeiter bilden zwar das Substrat der historischen Prozesses, gehören diesem aber nicht als "historische Elemente" an:
"Die GESCHICHTE vollzieht sich außerhalb von ihnen. Sie sind geschichtliche Materie. Die Geschichte der Menschen ist dann nicht die Geschichte aller Menschen. Außerdem Trennungen von Ländern: Geschichten (Geschichte von Frankreich, von Spanien usw.), mithin mögliche Universalisierung. "
Wir müssen also, unbeschadet unseres Interesses am Individuellen, Einmaligen mit "Ewigkeitselementen in der GESCHICHTE" rechnen, mit "Elementen abstrakter Universalität", die Sartre mit "Negationen der individuellen Dauer" gleichsetzt. Ehrfurcht vor dem, was er vor der "Konversion" für wahr gehalten hat, ist Sartre fremd; er überführt es in historische Kategorien. Es kommt so zu erstaunlichen Aussprüchen:
"Die existentialistische Ontologie ist selbst historisch. Es gibt ein erstes Ereignis, das Auftauchen des Für-sich durch Nichtung des Seins. Die Moral muss historisch sein, das heißt das Allgemeine in der GESCHICHTE auffinden und es in der GESCHICHTE wieder erfassen."
Insofern ist die Moral "ein individuelles, subjektives und historisches Unternehmen". Am Existentialismus bleibt wahr, dass er sich dem ehernen Gang des Weltgeists widersetzt. Sartre verteidigt seine "Affirmation der unreduzierbaren Individualität der Person". Formulierungen, die nicht nur an Marxens Kritik der politischen Ökonomie erinnern, sondern auch an Positionen der Frankfurter Schule. Letzteres wird deutlich, wenn man sich an die Sache hält und den Frankfurter Katalog verbotener Wörter beiseite lässt. Kategorien wie Ware, Geld und Kapital verhüllen die Tatsache, dass ihnen die entfremdete Arbeit leibhaftiger Menschen zu Grunde liegt. Theodor W. Adornos Betonung des "Nichtidentischen", des "Hinzutretenden" steht dem politischen Existentialismus näher, als ihm lieb sein konnte.
Jean Paul Sartres Vorstöße zu einer dialektischen, auch Hegel und Marx entmythologisierenden Geschichtsphilosophie, die allein auf den Menschen setzt, sind nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Doch zeugen sie von seiner unerschütterlichen Hoffnung, es werde dereinst zu Immanuel Kants "Reich der Zwecke" kommen.
Alfred Schmidt besprach: Jean Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Deutsch von Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, die deutsche Erstausgabe ist im Rowohlt Verlag erschienen, hat 1055 Seiten und kostet 29.90 Euro.
Sartres Entwürfe, eine Sammlung von umfangreichen Notizen in zwei Heften festgehalten, entstanden 1947 und 48 zwischen den beiden philosophischen Hauptwerken 'Das Sein und das Nichts’, 1943 erschienen, und der Kritik der dialektischen Vernunft, die 1960 herauskam. Das Projekt einer stringenten Philosophie der Moral legte er beiseite und ließ es unvollendet.
Sartre starb 1980 und drei Jahre später erschienen seine Entwürfe in Frankreich als Buch, jetzt zum 100sten Geburtstag des Philosophen sind sie endlich auch auf Deutsch zu lesen. Der Philosoph Alfred Schmidt, selbst mit zahlreichen Arbeiten zur existenzialistischen Marx-Interpretation hervorgetreten, hat Sartres Entwürfe für uns rezensiert:
Erst nach seinem Tode sollten auf Wunsch Sartres seine unvollendeten philosophischen Texte veröffentlicht werden. Im "Selbstportrait mit siebzig Jahren, heißt es:
"Sie zeigen, was ich zu einer bestimmten Zeit machen wollte und aufgegeben habe, und das endgültig. Solange ich hingegen am Leben bin, bleibt ... die Möglichkeit, dass ich sie wieder aufgreife oder in einigen Worten sage, was ich daraus machen wollte. Nach meinem Tod veröffentlicht, bleiben diese Texte unvollendet, so wie sie sind, unklar, da ich darin noch nicht völlig ausgereifte Gedanken formuliere. Es wird beim Leser liegen, zu interpretieren, wohin sie hätten führen können. "
Vor eben dieser Aufgabe steht auch der deutsche Leser des Sartreschen Buches Entwürfe für eine Moralphilosophie, deren Originalausgabe 1983 unter dem Titel Cahiers pour une morale publiziert wurde. Der rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Philosophen erschienene, über tausend Seiten starke Band enthält zwei Hefte mit Notizen der Jahre 1947 und 1948. Hinzugefügt wurden zwei Texte von 1945, deren erster, tagebuchartig, das Verhältnis des Guten zur Subjektivität erörtert, das nicht an und durch sich existiert, sondern getan werden muss; der zweite Text ist eine phänomenologische Studie über Unterdrückung von Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die Sartre in seine Moralkonzeption eingliedern wollte. Arlette Elkaïm-Sartre, die Herausgeberin, räumt ein, dass die "in einem Zug heruntergeschriebenen Aufzeichnungen" Sartres "keine Struktur" haben. Gleichwohl sind sie mehr als "flüchtige Notate". Ihr "Leitgedanke" ist, umrisshaft, Stichwörtern des Registers zu entnehmen.
Der Gedankenreichtum des Buches setzt Leser voraus, die bereit sind, behutsamen Schritten eines Autors zu folgen, der keine fertige Doktrin verkündet, sondern angesichts einer radikal veränderten Welt- und Bewusstseinslage um Selbstverständigung bemüht ist. Sartres Entwürfe sind entstanden im Paris der Nachkriegszeit, in einer durch den sich anbahnenden Ost-West-Konflikt neu aufgeteilten Welt. Stalin stand an der Elbe, in Frankreich und Italien gab es starke kommunistische Parteien. Sartres Denkweg ist in diese zeitgeschichtlichen Tatsachen verwoben, gehorcht aber eigener Logik. Sein erstes, 1943 erschienenes Hauptwerk Das Sein und das Nichts steht im Zeichen Husserls und Heideggers und ist, so der Untertitel, der "Versuch einer phänomenologischen Ontologie". Diese, erklärt Sartre, wirft zwar die Frage auf, wie eine Ethik aussehen würde, "die sich ihrer Verantwortlichkeit angesichts einer menschlichen Realität in Situation bewußt ist". Da aber Ontologie sich nur "mit dem beschäftigt, was ist", kann sie die Frage nicht beantworten, geschweige denn "ethische Vorschriften erlassen".
Nun verfolgen Sartres Notizen keineswegs die Absicht, auf ethischer Ebene die abstrakt-ontologischen Betrachtungen seiner Schrift von 1943 linear fortzusetzen. Sartre betritt hier – auch als Moralphilosoph – Neuland. Das erklärt, weshalb er die Arbeit an den Entwürfen abgebrochen und ihre Publikation verhindert hat. Dadurch wird ihre sachliche wie biographische Bedeutung nicht geschmälert; dokumentieren sie doch Sartres – an Alexandre Kojève geschulte – Aufnahme der Hegelschen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft sowie sein intensives Studium des Marxismus, den er mit seiner stalinistischen Travestie nicht verwechselt.
Eine lediglich weltanschaulich, gar tagespolitisch bedingte Option für die linke Sache liegt Sartre fern. Er will seine "Konversion", wie er die Abkehr von phänomenologischer "Reinheit" nennt, nicht weniger streng begründen, wie die Begriffe, die sie ersetzen. Daher auch seine scharfe Kritik am Objektivismus der sowjetischen Ideologie. Sie steht in Sartres Aufsatz Materialismus und Revolution, der 1946 in der Zeitschrift Les Temps Modernes erschienen ist. Wie Sartre selbst hervorhebt, ist dieser Aufsatz unentbehrlich für das Verständnis des Tenors seiner Notizen. Dargelegt wird hier, wie unbefriedigend ein Denken ist, das, orientiert am starren Gegensatz von Idealismus und Materialismus, ein Glaubensbekenntnis verlangt. Sartre schreibt:
"Es ist die menschliche Subjektivität, die das Widerstreben des Wirklichen in der und durch die Absicht entdeckt, dieses Wirkliche auf die Zukunft hin zu überwinden. Idealismus und Materialismus heben beide gleichermaßen das Wirkliche auf, der eine, weil er das Ding, der andere, weil er die Subjektivität unterdrückt. Damit die Wirklichkeit sich offenbart, bedarf es eines Menschen, der gegen sie ankämpft; kurz, der Realismus des Revolutionärs erfordert in gleicher Weise die Existenz der Welt und die der Subjektivität; oder besser noch: er verlangt eine solche Wechselbeziehung der einen zur andern, dass man sich keine Subjektivität außerhalb der Welt vorstellen kann, und keine Welt, die nicht durch die Bemühung einer Subjektivität erhellt werden würde. "
Sartre näherte sich hier dem von Marx in den Thesen über Feuerbach entwickelten Begriff der "Praxis" im Sinn "gegenständlicher Tätigkeit". Seinem Selbstverständnis nach war jedoch der von ihm eingeschlagene, dritte Weg zwischen Idealismus und Materialismus der seiner damaligen Philosophie, die Existentialismus und Humanismus gleichsetzte. Verbunden war er mit der politischen Hoffnung, es werde sich in Europa eine demokratisch-sozialistische Alternative zu Kapitalismus und Staatssozialismus herausbilden. Der sich zuspitzende Kalte Krieg machte diese Hoffnung zunichte.
Der philosophische Ertrag des Buches besteht darin, dass Sartre hier vom dürren Gerippe Heideggerscher "Geschichtlichkeit" übergeht zu materialer Geschichte, wobei er diese nicht nur als mehr oder weniger gesicherten Archivbestand betrachtet, sondern, mehr noch, als zu gestaltende Gegenwart. Philosophie ist gleichbedeutend mit der sich verwirklichenden Idee.
"Die Philosophie unterscheidet sich nicht von dem Menschen, der dabei ist, die Welt zu verändern. Die Totalität des handelnden Menschen, das ist die Philosophie. "
Wenn "Geschichte" in Sartres Notizen stets in Großbuchstaben auftaucht, so spiegelt sich darin die Bedeutung, die das historische Universum für seine Reformulierung des Problems der Moral gewinnt. Machen die Menschen, wie Marx lehrt, ihre eigene Geschichte, aber nicht unter selbst gewählten, sondern stets vorgegebenen Umständen, ist individuelles Handeln letztlich determiniert, so wird Freiheit, wie Sartre sie emphatisch als Wesenszug des Menschen behauptet hatte, fragwürdig und damit die Verantwortung für sein Tun; nur ein freier Mensch kann verantwortlich, das heißt moralisch handeln. Wie aber, fragt Sartre, lassen sich Geschichte und Moral vereinbaren? Eine "konkrete Moral" ist nur als "Synthese des Allgemeinen und Historischen" denkbar. Gewählt, betont Sartre in der Sprache Hegels, wird das "konkret Allgemeine". Die Menschen wollen beidem Rechnung tragen: der Allgemeinheit von Prinzipien und ihrer jeweiligen Situation. Deshalb verlangen wir vom Historiker,…
"...dass er unsere Grundsätze billigt, indem er sich durch das synthetische Denken in unsere Situation versetzt (das heißt im Grunde, die Idee wieder aufgreift) und der Bewegung der Geschichte folgt. "
Wenn wir von der "Gesamtheit der Menschen" als dem Subjekt der Geschichte sprechen, unterliegen wir einem Fehler. Sklaven, Leibeigene und Arbeiter bilden zwar das Substrat der historischen Prozesses, gehören diesem aber nicht als "historische Elemente" an:
"Die GESCHICHTE vollzieht sich außerhalb von ihnen. Sie sind geschichtliche Materie. Die Geschichte der Menschen ist dann nicht die Geschichte aller Menschen. Außerdem Trennungen von Ländern: Geschichten (Geschichte von Frankreich, von Spanien usw.), mithin mögliche Universalisierung. "
Wir müssen also, unbeschadet unseres Interesses am Individuellen, Einmaligen mit "Ewigkeitselementen in der GESCHICHTE" rechnen, mit "Elementen abstrakter Universalität", die Sartre mit "Negationen der individuellen Dauer" gleichsetzt. Ehrfurcht vor dem, was er vor der "Konversion" für wahr gehalten hat, ist Sartre fremd; er überführt es in historische Kategorien. Es kommt so zu erstaunlichen Aussprüchen:
"Die existentialistische Ontologie ist selbst historisch. Es gibt ein erstes Ereignis, das Auftauchen des Für-sich durch Nichtung des Seins. Die Moral muss historisch sein, das heißt das Allgemeine in der GESCHICHTE auffinden und es in der GESCHICHTE wieder erfassen."
Insofern ist die Moral "ein individuelles, subjektives und historisches Unternehmen". Am Existentialismus bleibt wahr, dass er sich dem ehernen Gang des Weltgeists widersetzt. Sartre verteidigt seine "Affirmation der unreduzierbaren Individualität der Person". Formulierungen, die nicht nur an Marxens Kritik der politischen Ökonomie erinnern, sondern auch an Positionen der Frankfurter Schule. Letzteres wird deutlich, wenn man sich an die Sache hält und den Frankfurter Katalog verbotener Wörter beiseite lässt. Kategorien wie Ware, Geld und Kapital verhüllen die Tatsache, dass ihnen die entfremdete Arbeit leibhaftiger Menschen zu Grunde liegt. Theodor W. Adornos Betonung des "Nichtidentischen", des "Hinzutretenden" steht dem politischen Existentialismus näher, als ihm lieb sein konnte.
Jean Paul Sartres Vorstöße zu einer dialektischen, auch Hegel und Marx entmythologisierenden Geschichtsphilosophie, die allein auf den Menschen setzt, sind nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Doch zeugen sie von seiner unerschütterlichen Hoffnung, es werde dereinst zu Immanuel Kants "Reich der Zwecke" kommen.
Alfred Schmidt besprach: Jean Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Deutsch von Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, die deutsche Erstausgabe ist im Rowohlt Verlag erschienen, hat 1055 Seiten und kostet 29.90 Euro.