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"Man muss sensibler auf die Aufgaben blicken"

Tausende Schüler in NRW demonstrierten heute gegen das Mathe-Abi. Sie fanden die zentralen Prüfungsaufgaben zu schwer. Man dürfe nicht die Lösbarkeit einer Aufgabe als Maßstab nehmen, sondern müsse auch sehen, was die Schüler leisten können, sagt Peter Silbernagel, Vorsitzender des Philologenverbands Nordrhein-Westfalen.

Peter Silbernagel im Gespräch mit Jörg Biesler | 23.04.2013
    Jörg Biesler: Heute haben sich rund 1.000 Schülerinnen und Schüler zu Protesten vor dem Schulministerium in Nordrhein-Westfalen verabredet, weil die Abiturklausur in Mathematik, so meinen sie, mindestens missverständlich war. Das ist nicht das erste Mal, dass Abiturienten auf die Barrikaden gehen, weil sie mit den Matheaufgaben nicht klarkommen. Liegt das nun an den Schülerinnen und Schülern oder an den Aufgaben? Peter Silbernagel ist selber Mathematiklehrer und Vorsitzender des Philologenverbandes in Nordrhein-Westfalen. Guten Tag, Herr Silbernagel!

    Peter Silbernagel: Guten Tag, Herr Biesler!

    Biesler: Warum eigentlich gibt es diese anhaltenden Probleme mit dem Mathematikabitur in Nordrhein-Westfalen? Wer stellt die Aufgaben eigentlich zusammen?

    Silbernagel: Also, die Aufgaben werden zusammengestellt von einer Kommission, die wiederum das, was aus Schulen beispielsweise an Vorarbeit geliefert wird, sichtet, noch mal komplettiert, noch mal verändert. Und dann gibt es auch eine Kommission oder eine Gruppe von Praktikern, die die Aufgaben durchrechnen auf Lösbarkeit und auf Korrektheit noch einmal überprüfen.

    Biesler: Jetzt hatten wir in der Vergangenheit gelegentlich Probleme - woran liegt das denn?

    Silbernagel: Ja, wir hatten eigentlich seit 2008 in jedem Jahr Probleme im Zentralabitur Mathematik Nordrhein-Westfalen. Das ist sehr unglücklich für dieses Fach, das ist aber noch viel dramatischer und katastrophaler für die Betroffenen. Es liegt daran wohl, weil es schwierig ist, im Fach Mathematik einzuschätzen, welchen Schwierigkeitsgrad können die Schülerinnen und Schüler als angemessen empfinden. Wo können wir im Zeitlichen die vernünftigen Maßstäbe hernehmen? Und vielleicht liegt es auch ein bisschen an der Tendenz, im Fach Mathematik jetzt krampfhaft und vielleicht auch etwas künstlich einen Lebensbezug herzustellen und damit in der Aufgabenstellung, in der Aufgabenbeschreibung manchmal größere Verkomplizierungen noch hineinzubringen.

    Biesler: Sie sind ja nun auch selber Mathematiklehrer. Warum ist das denn in der Mathematik so schwierig? Und ist es für Sie als Lehrer vor Ihren Schülern auch schwierig, oder ist das nur schwierig, wenn man das so abstrahiert, sozusagen auf die Ebene des landesweiten Zentralabiturs geht?

    Silbernagel: Also, ich denke schon, dass das Letztere eine besondere Herausforderung darstellt. Es mag in sprachlichen Fächern vielleicht einfacher sein, die Lektüre ist vielleicht hier gleichermaßen von vielen zu nutzen. Aber Mathematik ist nun auch ein Fach, was sich für viele Schülerinnen und Schüler, insgesamt für viele Menschen, sage ich mal, nur sehr schwer erschließt. Dennoch darf es nicht sein, dass wir in jedem Jahr Stress mit dem Fach Mathematik haben. Wir beschädigen nicht nur das Fach Mathematik, sondern wir verändern vielleicht auch mittelfristig das Schülerwahlverhalten. Wir wollen ja Schüler animieren, Mathematik und Naturwissenschaften zu wählen, auch mit Blick auf Berufswünsche später einmal. Wenn sich aber herumspricht und jedes Jahr das deutlich wird, alles ist kalkulierbar, nur das Fach Mathematik nicht, dann hat das Auswirkungen auf das Schülerwahlverhalten.

    Biesler: Wenn wir uns jetzt mal die ganz konkrete Arbeit anschauen, um die es jetzt geht – wie sehen Sie das denn? Ist die missverständlich gewesen, ist die zu schwierig gewesen?

    Silbernagel: Also nach Rücksprache mit einer ganzen Reihe von Fachkolleginnen und -kollegen sagen die mir, es gab Teile für den Grundkursbereich, die vom Schwierigkeitsgrad zu hoch angesetzt waren. Das heißt nicht, das die Gesamtaufgabe zu schwierig war, da würde ich auch sehr vorsichtig sein, ein abschließendes Urteil vorzunehmen, aber es gab Teile, die ausgesprochen anspruchsvoll waren und für die Schülerinnen und Schüler dazu geführt haben, dass sie diese als Haken und Ösen empfunden haben. Zweitens, es gab Probleme oftmals mit der Zeit. Es war zu viel in zu kurzer Zeit zu bearbeiten. Ein Problem auch schon im letzten Jahr, und ein Problem, was man ernst nehmen muss. Ein Drittes: Viele Schüler sagen, warum bekommen wir abgespeckte Leistungskursaufgaben? Wir wollen nicht ein Leistungskursniveau erreichen. Das ist aus Sicht der Schüler nachvollziehbar. Das sind dann zwar keine Leistungskursaufgaben, aber man nimmt zuerst den Leistungskurstext und komprimiert ihn dann, und das Kürzergefasste wird zum Grundkurstext. Das ist vom Format her nicht immer glücklich und aus der Sicht der Schüler sicherlich auch sehr missverständlich. Fazit: Man darf nicht die Lösbarkeit einer Aufgabe als Maßstab dafür nehmen, ob es im Zentralabitur Mathematik gerecht und fair zugeht. Man muss auch sehen, was können die Schüler leisten, was entspricht dem normalen, im Mathematikunterricht Grundkurs, und was ist, auch im Vergleich zu früheren Jahren, angemessen.

    Biesler: Das heißt, in Zukunft müsste was passieren, um so was zu vermeiden?

    Silbernagel: Man muss viel stärker, viel intensiver und viel sensibler auf die Aufgaben blicken. Man muss Praktiker hinzubitten, die auch den Mut haben zu sagen, wir brauchen hier nicht noch mal einen Schwierigkeitsgrad draufzulegen. Wir müssen uns auch nicht selbst bei der Aufgabenerstellung bestätigen. Wir müssen etwas den Schülerinnen und Schülern servieren, von denen sie ausgehen, dass es fair ist. Das heißt noch lange nicht, dass jeder Schüler in Mathematik jetzt herausragende Leistungen erbringen wird. Das wissen auch die Schüler. Aber wenn sie sagen, es war nicht richtig, es war nicht gerecht, es entsprach nicht dem, wie wir uns vorbereitet haben – und man darf schon annehmen, dass die Schüler das sehr ernst nehmen – dann, glaube ich, muss das Schulministerium auch reagieren und kann es nicht so weiterlaufen lassen wie bisher.

    Biesler: Peter Silbernagel, der Vorsitzende des Philologenverbands Nordrhein-Westfalen meint, bei den Abiturprüfungen im Fach Mathematik gibt es Verbesserungsbedarf. Das Gespräch haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.