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"Man muss sich auf die Welt und die Dinge einlassen"

"Die Wahrheit bewohnt nicht bloß den inneren Menschen. Denn es gibt keinen inneren Menschen. Der Mensch kennt sich allein in der Welt." Dies ist einer der Kernsätze aus der "Phänomenologie der Wahrnehmung" des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty.

Von Astrid Nettling | 06.12.2009
    Er wandte sich damit gegen die klassische Lehre von Augustinus, wonach im Inneren des Menschen die Wahrheit wohne. In dem nun folgenden Essay über "Maurice Merleau-Ponty oder das philosophische Staunen", reflektiert Astrid Nettling die zentrale These, dass man sich auf die Welt und die Dinge einlassen müsse. Merleau-Ponty lebte von 1908 bis 1961. Er gehört zu den herausragenden Vertretern der französischen Phänomenologie.

    Astrid Nettling ist seit 1994 als Rundfunkautorin tätig.


    Maurice Merleau-Ponty oder das philosophische Staunen
    Von Astrid Nettling

    "Ich denke an das cogito Descartes', ich fühle unter meiner Hand die Frische des Papiers, ich sehe durchs Fenster die Bäume des Boulevards. In jedem Augenblick ist mein Leben transzendierenden Dingen zugewandt. Was aber ist das, das cogito? Was ist jener Gedanke, der vor dreihundert Jahren sich formte im Geiste Descartes'?"

    Ein geradezu klassisches Setting - der Philosoph in seinem Arbeitszimmer, das frische Blatt Papier vor sich, der schweifende Blick nach draußen und sein Geist auf das "cogito", auf das "Ich denke", gerichtet. Nicht zufällig knüpft Maurice Merleau-Ponty damit an die 'Urszene' neuzeitlicher Philosophie an. Descartes selbst hat sie 1641 in seinen "Meditationen über die Grundlagen der Philosophie" entworfen, in jener berühmten ersten Meditation: "Woran man zweifeln kann", wo er sich in seiner Studierstube inmitten der Dinge seiner selbst zu vergewissern sucht. "dass ich jetzt hier bin, dass ich mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, dass ich dieses Papier mit den Händen betaste, wie könnte man das bestreiten?" Der Philosoph kann es, und er wird es tun - radikal, bis sich sein Körper, bis sich die Dinge um ihn herum, der Kamin, das Schreibmaterial in seiner Hand, die Studierstube, schließlich die Welt in nichts aufgelöst haben und nur noch eine einzige Gewissheit klar und deutlich hervortritt: das "cogito".

    "Ich werde jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen, alle meine Sinne abberufen, auch die Bilder körperlicher Dinge sämtlich aus meinem Bewusstsein tilgen oder, da dies wohl kaum möglich ist, sie doch als eitel und falsch und für nichts achten; mit mir allein will ich reden, tiefer in mich hineinblicken und so versuchen, mir mein Selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen."

    Es ist der Auftakt einer langen und für die Neuzeit folgenreichen Meditationsgeschichte - dieser Rückgang in die reine Innerlichkeit des Ichbewusstseins, der die vorgängige leib-sinnliche Komplizenschaft des Menschen mit der Welt und den Dingen Schritt für Schritt aufkündigt. "Gehe nicht nach draußen, in dich selbst kehre zurück; im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit", hatte es bereits bei Augustinus gelautet. Während der christliche Philosoph dort die Wahrheit ursprünglicher Gottesverbundenheit findet, entdeckt Descartes im Inneren des Menschen die Wahrheit des autonomen "Ich denke", von dessen zweifelsfreier Gewissheit aus das Ich sein Draußen, das heißt seinen Welt- und Dingbezug, zuverlässig zu etablieren vermag. Wenn also der Philosoph seine Augen wieder öffnet, seine Ohren frei macht und überhaupt seine Sinne wieder nach 'draußen' schickt, liefern sie ihm zwar gewisse äußerliche Sinnesdaten - etwa die leichte Schwere des Papiers, seine angenehme Griffigkeit, die weißliche Färbung des Blatts -, deren Essenz jedoch erschließt sich allein seinem Denkvermögen, da "die Körper nicht eigentlich durch die Sinne, sondern einzig durch den Verstand erkannt werden, nicht dadurch dass man sie betastet oder sieht, sondern dass man sie denkt."

    Täuschen wir uns nicht darüber, wie tief dieses cartesianische Erbe noch immer in uns steckt. Sind wir nicht nach wie vor bereit, unsere leib-sinnlichen Erfahrungen zu verwerfen und uns statt dessen an den Theoretiker mit seinen exakten Daten zu wenden, wenn wir beispielsweise wissen wollen, was - um im Bilde zu bleiben - dieses Papier 'eigentlich' ist, das wir in den Händen halten? Bestand nicht gerade der neuzeitliche Fortschritt darin, dass wir, um Aufschluss über die wahre Natur der Dinge zu erhalten, gelernt haben, dem methodischen Wissen des Wissenschaftlers, seinen Analysen und Berechnungen, den Vorzug zu geben? Längst haben wir unserer leib-sinnlichen Wahrnehmung jede Wahrheit abgesprochen, obwohl das Wort 'Wahrnehmung' das Adjektiv 'wahr' enthält. Dass unser Sehen, unser Hören, unser leibliches Fühlen überhaupt Wahres 'nehmen' kann, lässt sich jedoch nur erfahren, wenn wir bereit sind, es uns von den Farben, den Tönen, dem Fühlbaren 'geben' zu lassen. Anders gesagt: wenn wir uns auf den ureigenen Spielraum der Dinge einlassen, für den wir durch unseren Leib und unsere Sinne von Natur aus offen und aufgeschlossen sind. "Das Denken ist ernsthaft allein durch den Körper. Die Seele ohne den Körper brächte nur Kalauer hervor - und Theorien", notierte der Dichter Paul Valéry polemisch gegen die Exklusivität eines "cogito", das man von seinen 'äußeren' Hüllen befreit hat - dies die wörtliche Bedeutung des Lateinischen "exclusus" - und ins Innerste reiner Selbstbezüglichkeit verlegte als ein ganz sich selbst gegenwärtiges Sein.

    Bleiben wir um der Wahrheit willen da, wo wir uns immer schon befinden - nämlich in der Welt und bei den Dingen. "Gehe nicht nach draußen, in dich selbst kehre zurück; im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit", hatte es bei Augustinus gelautet. In seiner "Phänomenologie der Wahrnehmung" wird Maurice Merleau-Ponty dem entgegenhalten:

    "Die Wahrheit 'bewohnt' nicht bloß den 'inneren Menschen', vielmehr es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt. Gehe ich, alle Dogmen des gemeinen Verstandes wie auch die Wissenschaft hinter mir lassend, zurück auf mich selbst, so ist, was ich finde, nicht eine Heimstätte innerer Wahrheit, sondern ein Subjekt, zugeeignet der Welt."

    Fangen wir also noch einmal an. Und nichts, so könnte man vermuten, sei leichter als das. Lassen wir den cartesianischen Denker drinnen in seinem Arbeitszimmer und mischen uns direkt unter die Dinge. Gehen ins nächste Café oder in die nächste Bar und fangen einfach an - so die amüsante Anekdote, die Simone de Beauvoir in ihren Memoiren erzählt, wie sie und Jean-Paul Sartre in den dreißiger Jahren in einer Bar auf dem Montparnasse von einem Freund auf die Phänomenologie gestoßen wurden. "Wir bestellten die Spezialität des Hauses: Aprikosen-Cocktail. Raymond Aron wies auf sein Glas: "Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!" Sartre erbleichte vor Erregung: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie!" Doch seien wir vorsichtig - gemeint ist damit nicht, nun einfach draufloszureden.

    "Zu den Sachen selbst", dies die berühmte Losung der Phänomenologie, wie sie deren Gründungsvater Edmund Husserl geprägt hat, bedeutet keinesfalls, sich den vermeintlich reflexiven Umweg ersparen zu können und dem welt- und leibabgewandten Philosophen 'drinnen' nun das pralle Leben 'draußen' entgegenzuhalten, dem Ich die Welt, dem Denken die Sinnlichkeit, dem Geist den Körper. Denn es genügt nicht, das gelebte Leben einfach zu bejahen, unsere leib-sinnliche Komplizenschaft mit den Dingen, unser In-der-Welt-sein durch ein simples "Ja" lediglich zu affirmieren. Vielmehr geht auch die Phänomenologie wie noch eine jede Philosophie davon aus, dass wir obzwar in der Welt und mitten unter den Dingen zumeist gerade nicht wirklich bei den Dingen sind. Deshalb gibt mir dieses Cocktailglas, das ich in die Hand nehme, nicht so ohne weiteres seine Wahrheit preis. Dafür braucht es die Bemühung der Philosophie, braucht es die Wahrnehmung des Phänomenologen. Denn auch hier gilt: "Das Eigentümliche der Philosophie ist, das zu untersuchen, was man sonst für bekannt hält", wie es schon bei Hegel heißt. Oder wie Merleau-Ponty in einem Radiovortrag aus dem Jahre 1948 ausführt:

    "Die Welt der Wahrnehmung, das heißt die Welt, die sich uns durch unsere Sinne und durch die Lebenspraxis erschließt, scheint uns auf den ersten Blick bestens bekannt zu sein, da es keines Instruments und keiner Berechnung bedarf, um Zugang zu ihr zu haben, und es uns dem Anschein nach genügt, die Augen zu öffnen und uns dem Leben zu überlassen, um sie ergründen zu können. Doch trifft dies nur dem Anschein nach zu. Die Welt der Wahrnehmung bleibt in hohem Maße von uns unerkannt, es bedurfte viel Zeit, Anstrengung und Kultur, sie freizulegen, und es gehört zu den Verdiensten der Kunst und des Denkens der Moderne, uns diese Welt, in der wir leben, und die wir doch ständig zu vergessen geneigt sind, wiederentdecken zu lassen."

    Da gibt es also die uns wohlbekannten Dinge - das frische Schreibpapier, das Arbeitszimmer mit seinem Blick nach draußen, die Bäume in der Allee, die Bar, in der wir gewöhnlich unseren Cocktail trinken, das gefüllte Cocktailglas selbst. Wir wissen, wie die Dinge aussehen, wie sie schmecken, sich anfühlen, kennen ihren Nutzen, ihre Funktion, ihre Bewandtnis. Wir haben unser Leben mit und in ihnen eingerichtet, sie gehören fest zu unserer Lebenswelt. In einer treffenden Wendung spricht der Phänomenologe Bernhard Waldenfels von den "Netzen der Lebenswelt", da sie uns einerseits in der Welt halten, uns zugleich aber gefangen halten, weil sie uns an unsere gewohnte Welt und an die bekannte Sicht der Dinge fesseln. Platon hatte dafür das berühmte "Höhlengleichnis" gefunden, wo die Menschen seit Kindesbeinen in einer Höhle gefesselt sind und an der beleuchteten Höhlenwand nichts als die Schatten der Dinge wahrnehmen, die sie aus Gewohnheit für die wahren Dinge nehmen. Und gleichgültig ob man von "Höhle" oder von "Netz" spricht - die Lebenswelt bildet das Milieu, in dem wir uns im Laufe unseres Lebens einwohnen mit der ständigen Gefahr, dass wir unser Leben in dem so Gewohnten gleichsam blind verwohnen.

    Mit anderen Worten: Dass wir niemals dahin kommen, offenen Auges zu "staunen", wie Platon sagen würde, für den das Staunen am Anfang aller Philosophie steht. Dass wir blicklos bleiben für das "Wunder", so bezeichnet es Merleau-Ponty, dass unser Dasein überhaupt für das, was ist, offen und aufgeschlossen ist. Denn es ist diese Offenheit, die es allererst erlaubt, dass unser Sein und das Sein der Dinge miteinander in Berührung kommen können. Beispielsweise in diesem Glas, dessen lichte Transparenz uns aufgeht, lange bevor wir es als Cocktailglas zu bezeichnen und zu gebrauchen lernen. Und noch länger bevor eine mathematische Berechnung oder eine chemische Analyse uns die Formel für dessen 'eigentliches' Sein präsentiert. Diese ursprüngliche Offenheit aber ist es, die "wir ständig zu vergessen geneigt sind". Sei es in unserer Lebenswelt, sei es in der seit der Neuzeit dominanten wissenschaftlichen Sicht auf die Welt. Dabei will der Phänomenologe keineswegs die Wissenschaft als solche in Frage stellen - allein: "Die Wissenschaft geht mit den Dingen um, ohne sich auf sie einzulassen. Sie macht sich eigene Modelle von ihnen, und dringt dabei nur hin und wieder zur wirklichen Welt durch", pointiert er in seinem Essay "Das Auge und der Geist".

    Denn wie gesagt: Das cartesianische Erbe sitzt tief. So kommt für Merleau-Ponty insbesondere der modernen Kunst, vor allem der Malerei, das Verdienst zu, unsere Wahrnehmung zu jener Offenheit hingeführt zu haben, die wir doch dauernd zu übersehen pflegen. "Es gibt nur wenige Leute, die sehen, richtig sehen, alles sehen können", notierte Pierre Bonnard in seinen Aufzeichnungen. Tatsächlich waren Cézanne, Bonnard, Matisse, Picasso, Braque - um nur diese zu nennen - die Maler, die unsere Wahrnehmung nachhaltig aufgestört und unsere Normalsicht auf die Dinge mit Erfolg durcheinandergebracht, ja, destruiert haben. Die scharfen Kanten, unerwarteten Schnittlinien, bestürzenden Deformationen der Dinge verletzten unseren an die exakte Renaissance-Perspektive gewöhnten Blick; die Sprengung des herkömmlichen Bildraums, die Auflösung fester Dingkonturen lieferten unser Sehen dem Licht und der schieren Farbe aus; der "Polymorphismus des wilden Seins", wie Merleau-Ponty es nennt, ließ den gezähmten, zivilisierten, berechenbaren Anblick der Dinge nahezu explodieren. Sicher - inzwischen haben wir uns auch daran gewöhnt, an die sogenannte klassische Moderne, und die Cézannes, Bonnards, Matisses, Picassos, Braques schmücken die Wände unserer Wohnräume. Dennoch bewahrt die moderne Malerei ihr Potenzial, unserem Blick Ungesehenes vor Augen zu führen, wie auch die Musik imstande ist, uns Unerhörtes zu Gehör zu bringen. Anders gesagt: Sie holen uns aus jener Vergessenheit zurück, indem sie uns "staunen" machen oder uns das "Wunder" erfahren lassen, dass unsere Wahrnehmung, unser Hören, unser Sehen, tatsächlich die ureigene Wahrheit der Töne und Farben wahr-zu-nehmen vermag.

    So sehen wir denn mit Staunen, dass "die Verbindung eines schattierten Grüns und eines Rots einen Mund traurig macht oder eine Wange lächeln lässt", wie es in den Gesprächen Paul Cézannes mit dem Dichter Joachim Gasquet heißt, auf die sich Merleau-Ponty in seinem Essay "Das Auge und der Geist" wiederholt bezieht. Hatte die cartesianische Tradition uns gelehrt, um der Wahrheit willen geistig auf Abstand zu den Dingen zu gehen, so lehrt uns die Kunst, uns um der Wahrheit willen mit allen Sinnen so nah wie möglich auf die Dinge einzulassen. Denn wie der Maler seinem Freund weiter anvertraut: "Das geringste Versagen des Auges verdirbt alles. Und bei mir, das ist schrecklich, mein Auge klebt an einem Ast, an einer Scholle. Ich leide darunter, wenn ich es davon losreiße, so sehr kann mich ein Ding fesseln." Was also wäre ein Maler ohne seinen Leib, ohne seine Sinne?

    "In der Tat kann man sich nicht vorstellen, wie ein reiner Geist malen könnte. Indem der Maler der Welt seinen Körper leiht, verwandelt er die Welt in Malerei. Mein beweglicher Körper hat seine Stelle in der sichtbaren Welt, ist ein Teil von ihr, und deshalb kann ich ihn auf das Sichtbare hin richten. Umgekehrt hängt auch das Sehen von der Bewegung ab. Man sieht nur, was man betrachtet. Was wäre das Sehen ohne jede Bewegung der Augen? Dieses erstaunliche Ineinandergreifen von Sehen und Bewegung, an das man nicht genug denkt, verbietet es, das Sehen als Denkoperation aufzufassen, die vor dem Geist ein Bild oder eine Darstellung der Welt aufbauen würde, eine Welt der Immanenz und der Ideen. Durch seinen Körper, der selbst in das Sichtbare eingetaucht ist, eignet sich der Sehende, das was er sieht, nicht an: Er nähert sich ihm durch den Blick, er öffnet sich auf die Welt hin. Wer auch immer der Maler sei, während er malt, praktiziert er eine magische Theorie des Sehens. Er muss zugeben, dass die Dinge in ihn übergehen oder dass der Geist ihm aus den Augen tritt, um sich unter den Dingen zu ergehen."

    Denn der Maler reproduziert kein Bild von der Welt, vielmehr holen seine Blicke und seine pinselführende Hand im engsten Kontakt zum Sichtbaren jenen Ast oder jene Erdscholle allererst in die Offenheit von Welt herein. "Wer dem Maler zusehen würde", schreibt Merleau-Ponty weiter, "wie er mit der Nase am Pinsel klebt, sähe nur die Kehrseite seiner Arbeit, eine schwache Bewegung des Pinsels - die Vorderseite dagegen ist der Durchbruch der Sonne, den er auslöst." Hatte er zuvor festgestellt, dass "die Wissenschaft mit den Dingen umgeht, ohne sich auf sie einzulassen", so zeigt sich für ihn exemplarisch am Malprozess, wie sehr wir mit unserer Wahrnehmung in Wirklichkeit bei den Dingen sind, in welcher Nähe zueinander sich Sehen und Sichtbares, Berühren und Berührbares befinden. Oder wie Cézanne sagt: "Was ich wiederzugeben versuche, ist mit den Wurzeln des Seins selbst verflochten, an der ungreifbaren Quelle der Empfindungen." Es ist eine Nähe, für deren Realisierung es allerdings der ganzen Aufmerksamkeit bedarf: Der des Malers, sonst - so Merleau-Ponty - "bleibt seine Malerei eine bloße Anspielung auf die Dinge und gibt sie uns nie in der Präsenz und unüberbietbaren Fülle, die für uns alle das Reale definiert", aber ebenso der des Phänomenologen, wenn er "zu den Sachen selbst" gelangen will. Wie gesagt: Das cartesianische Erbe sitzt tief.

    Und mit ihm die Tradition, uns die Dinge vorzustellen, sie vor uns hinzustellen, um sie aus der Distanz einer unabhängigen Position als Gegenstände, als berechenbare Objekte unserer Wahrnehmung und Erkenntnis betrachten zu können. Die neuzeitliche Philosophie baute dafür auf das "cogito", auf das "Ich denke", die Wissenschaft auf die theoretische Sicht der Dinge, bei der sie als neutraler Betrachter außen vor bleibt - das griechische "theoréo" bezeichnete ursprünglich das Zuschauen im Theater. Ebenso tendieren wir in unserem Alltagsbewusstsein dazu, uns die Dinge wie in einem "spectaculum mundi", in einem großen Welttheater, vorzustellen, sie uns vor Augen zu stellen - und sie uns nicht zuletzt durch die technischen Medien unserer Zeit vor Augen stellen zu lassen: durch Fotografie, Film, Fernsehen, Video und Internet, die jenes klassische Setting bis zum Überdruss weiter und weiter generieren.

    Man mag sich darüber wundern oder auch nicht, in welchem Maße wir uns von diesen Bildmedien immer wieder kaptivieren und begeistern lassen, für den Phänomenologen jedenfalls ist es der Ausdruck jener Vergessenheit, von der unsere Wahrnehmung der Dinge ohnehin ständig bedroht ist.

    Der Phänomenologe nimmt es unaufgeregt, besitzt er doch wie auch der Maler, der mit der Nase am Pinsel klebt, alle Geduld der Welt für das, was sowieso immer nur momenthaft glückt: nämlich die Realisation jener Nähe zu den Dingen, des - wie Merleau-Ponty formuliert - "stummen Kontakts mit ihnen, solange die Dinge noch unausgesprochen sind", oder mit anderen Worten: der Durchbruch jener Offenheit, bevor die Welt und die Dinge wieder ins Bekannte rücken oder ins wissenschaftlich Objektivierbare gestellt werden.

    Und hier erweist sich der Phänomenologe als ein bedingungslos nichtmetaphysischer Denker, der die Erfahrungen der Moderne ernst nimmt und weiß, dass das "Wunder", das "Staunenmachende" keine Sache metaphysischer "Hinterwelten" ist - wie Friedrich Nietzsche es spöttelnd nannte -, vielmehr etwas ganz und gar Diesseitiges, ja, in unserem In-der-Welt-sein selber liegt und dass es deshalb die Aufgabe der Philosophie darstellt, ihre ganze Aufmerksamkeit diesem unserem In-der-Welt-sein zu widmen. "Zeigen, dass die Philosophie sich einrichten muss am Rande des Seins, weder im Fürsich noch im Ansich, sondern an ihrer Verbindungsstelle, dort, wo sich die vielfältigen Eingänge der Welt kreuzen," notiert Merleau-Ponty in seinem unvollendet gebliebenen Werk "Das Sichtbare und das Unsichtbare", das 1964, drei Jahre nach seinem Tod, erschienen ist. Am Rande, das heißt an jener Verbindungslinie wie der zwischen dem Meer und dem Strand, wo unser Sehen und das Sichtbare sich berühren und wo aus dieser Berührung eine Art allererste 'Skizze' der Dinge hervorgeht.

    "Es zeigt sich nur demjenigen, der es nicht haben, sondern sehen will, der nicht darauf aus ist, es gleichsam mit der Pinzette zu ergreifen oder wie unter dem Objektiv eines Mikroskopes unbeweglich zu machen, sondern bereit ist, es sein zu lassen, der sich darauf beschränkt, ihm den Spielraum zu gewähren, den es erfordert, und den Widerklang, den es verlangt, der seiner Eigenbewegung folgt, abgestimmt auf das poröse Sein, das er befragt, von dem er aber keine Antwort erhält, sondern lediglich eine Bekräftigung seines Staunens. Die Wahrnehmung muss als dieses fragende Denken begriffen werden, das die Wahrnehmungswelt eher sein lässt, als dass es sie setzen würde, und vor dem die Dinge werden und entwerden in einer Art gleitender Übergänge diesseits von Bejahung und Verneinung."

    Keine Frage - der Phänomenologe wagt sich mit seiner Wahrnehmung weit hinaus. Weit hinaus aus dem cartesianischen Setting eines 'Innen' und 'Außen', des Dualismus von subjektiver Selbstbezüglichkeit einerseits und objektivierbaren Körpern und Dingen in einer mehr oder weniger feststehenden Welt andererseits. Die "wilde" oder "rohe" Wahrnehmung, wie Merleau-Ponty sie auch nennt, nimmt uns mit auf das unbefestigte Terrain des Sinnlichen, dorthin, wo jener Wechsel ständigen 'Gebens' und 'Nehmens' stattfindet als ein unverfügbares, unberechenbares Geschehen, bei dem kein "Ich denke" zugegen ist.

    "Das Sinnliche ist genau das Medium, in dem es das Sein gibt, ohne dass es gesetzt werden müsste; die stillschweigende Überredung des Sinnlichen ist das einzige Mittel des Seins, sich zu zeigen, ohne dass es Positivität wird und ohne dass es aufhört, vieldeutig und transzendent zu sein. Die vorgebliche Positivität der sinnlichen Welt, erweist sich gerade als etwas unfassliches, sichtbar im vollen Sinne ist nur die Totalität, aus der das Sinnliche herausgeschnitten wurde. Und das Denken ist noch ein wenig weiter von den visibilia entfernt."

    Groß geworden als Denker ist Maurice Merleau-Ponty in einer Zeit der Umbrüche. Mit Jean-Paul Sartre, lange Zeit ein enger philosophischer Weggefährte, teilte er die Begeisterung für die Phänomenologie. Als Edmund Husserl an zwei Abenden im Februar 1929 an der Sorbonne seine berühmten "Pariser Vorträge" hielt, die später als "Cartesianische Meditationen" veröffentlicht wurden, saß Merleau-Ponty, gerade mal zwanzig Jahre alt, bereits unter den Zuhörern. Der Einfluss der modernen Kunst war nach wie vor ungebrochen. Die Ausläufer der Spätimpressionisten und der Fauvisten - der so genannten "Wilden" -, die Kubisten, die Surrealisten und mit ihnen die Entdeckung des Freudschen Unbewussten hatten die traditionellen Seh- und Denkgewohnheiten gründlich über den Haufen geworfen.

    Als in den dreißiger Jahren das "Musée de l'homme" seine Pforten öffnete, konfrontierten die dort ausgestellten Zeugnisse außereuropäischen Kunst- und Kulturschaffens den eurozentrierten Blick schlagartig mit dem Fremden, dem ganz Anderen, mit dem unerwarteten Genie des Primitiven. Ebenso brachen die kulturanthropologischen Arbeiten u.a. eines Marcel Mauss und später die von Claude Lévi-Strauss, dessen Freundschaft mit Merleau-Ponty in den dreißiger Jahren seinen Anfang nahm, Bild und Begriff des Menschen aus dem beengten Rahmen abendländischer Provenienz.

    Für den Phänomenologen war es deshalb nur konsequent, sich "an den vielfältigen Eingängen der Welt" niederzulassen, um an die Welt als ein offenes 'work in progress' herangehen zu können. Denn "nicht allein die Werke der Modernen sind unabgeschlossen, sondern die Welt selbst gleicht einem unabgeschlossenen Werk, von dem man nicht weiß, ob es jemals einen Abschluss finden wird", heißt es am Ende seines Radiovortrags von 1948. - Einiges von dieser geistigen Offenheit von damals wünschte man sich für die heutige Zeit, einiges von dieser "Neugierde für das Erstaunliche einer unfertigen Welt, die auf unsere erfinderischen Antworten wartet", so der Phänomenologe Bernhard Waldenfels mit Blick auf das Werk Merleau-Pontys, einiges vom Enthusiasmus, sich auf die Welt und die Dinge einzulassen, ohne im vorhinein zu wissen, was sie uns zu sehen und zu denken geben werden.

    "Die Philosophie ist notwendig, mit Husserl zu reden, endlose Meditation, und gerade wenn sie ihrer Absicht treu bleibt, wird sie nie wissen, wohin sie geht. So ist es weder Zufall noch Trug, wenn die Phänomenologie eher als eine Bewegung denn als System und Lehre sich gibt. Sie ist mühsam wie das Werk von Proust, Valéry oder Cézanne: in gleichem Aufmerken und Erstaunen, in gleicher Strenge der Forderung an das Bewusstsein, in gleichem Willen, den Sinn von Welt und Geschichte zu fassen in statu nascendi."

    Begann die neuzeitliche Philosophie auf ihrer Suche nach fragloser Gewissheit mit Descartes' berühmter erster Meditation: "Woran man zweifeln kann", so ließe sich der Phänomenologie Merleau-Pontys ein "Worüber man staunen muss" mit auf ihren unabschließbaren Weg geben. Das Staunen als eine philosophische Primärtugend, als eine Art 'Vorschule' des Sehens nicht zuletzt auch für uns, die unsere Sinne und unseren Sinn für das Werden der Dinge wach hält und unseren Blick stets erneut für das öffnet, was wir in unserer alltäglichen Welt "doch ständig zu vergessen geneigt sind". - "Komm! ins Offene, Freund!" lautet es in einer bekannten Gedichtzeile Friedrich Hölderlins - verstehen wir seine Worte getrost als eine Aufforderung des Dichters, aus dieser unserer oftmals allzu fertig eingerichteten Welt und Wirklichkeit ins Freie und Offene hinauszutreten:

    Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
    Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
    Darum hoff ich, es werde, wenn gefunden das Wort,
    und aufgegangen das Herz ist,
    mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen;
    Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.