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Man sieht Menschen

Am 28. Januar feiert Hermann Peter Piwitt seinen 75. Geburtstag. Unbeirrbar links, hat er sich nie vereinnahmen lassen, pochte stets auf Unabhängigkeit. In "Heimat, schöne Fremde" sammelt er Beobachtungen aus 35 Jahren.

Von Detlef Grumbach | 27.01.2010
    "Wenn ich in Form bin, wenn ich mich gut fühle, dann kann ich sie anschauen wie die Tochter des Indra in Strindbergs Traumspiel, die mehrfach auf die Erde zurückgeschickt wird, um die Menschen kennenzulernen, mehrfach sagt innerhalb des Stückes, es ist schade um die Menschen."

    Da stirbt ein alter Nachbar, hinterlässt versteckt hinter der Heizung ein paar Pornos, niemand vermisst ihn. Da erzählt eine wildfremde Frau, der Freund sei gestorben. Ganz überraschend. Kerngesund sei er gewesen, 60 Zigaretten am Tag, der angeborene Herzfehler, morgens schon ein Bier ... "Im Viertel" heißt der Text aus dem Jahr 1975, in dem Hermann Peter Piwitt Eindrücke aus seine unmittelbare Nachbarschaft versammelt und den er an den Anfang seines neuen Buchs stellt. In einem kleinen Kommentar markiert er die Veränderungen. Der Stadtteil hat sich zum Szeneviertel gemausert. Die alten Kneipen sind verschwunden, die Baulücken geschlossen, alles ist schicker geworden. Die Menschen dagegen sind ziemlich kaputt.

    "Man sieht Menschen, armselig aussehende Menschen, nicht äußerlich natürlich, also nicht von der Kleidung her, die von einer schrecklichen Eitelkeit heimgesucht sind, wo man nur mit dem Kopf schütteln kann, Hingeschmissene, die sich spreizen und wo es einem vor Mitleid erbarmen könnte. Und ich glaube, es ist ganz gut, wenn man sich das Gefühl des Mitleids erhält, weil sonst, ich weiß nicht, was man sonst zu schreiben hätte, wenn man nicht mit Mitleid schreibt. Wenn man sie nicht auch mit Mitleid bloßstellt, zur Kenntlichkeit entstellt."

    "Heimat, schöne Fremde" nennt der 75-Jährige das Buch, in dem er solche Beobachtungen aus 35 Jahren, teils veröffentlicht, viele auch neu, in drei Abteilungen zusammenstellt: "Da die schöne Welt vergeht", "Unterwegs" und "Der Stand der Dinge". Das Buch ist zu seinem Geburtstag, erschienen. Es zeigt Piwitts Blick auf die sich ändernde Welt, auf Gesellschaft, Kunst und Politik, ergibt in der Summe aber auch ein Porträt des Autors selbst. 1965 erschien sein Debüt, ein Band mit Erzählungen, "Herdenreiche Landschaften". Es folgten zahlreiche Essay-Bände, die Romane "Rothschilds" und "Die Gärten im März" über die 50er- und 60er-Jahren, "Der Granatapfel", eine aus der Perspektive des alten d'Annunzio geschriebene Autobiografie, Bücher wie "Deutschland, Versuch einer Heimkehr" und zuletzt "Jahre unter ihnen". Sein Platz ist unbeirrbar aufseiten der Linken, doch hat er sich nie vereinnahmen lassen, nahm auch die Beschädigungen und Verletzungen im Fühlen, im Denken seiner Freunde wahr. Margot, Mitte 30 und schon eine Ewigkeit hinterm Tresen seiner Stammkneipe, ihr Mann als Selbstständiger dauernd auf Montage unterwegs, bekennt ihm irgendwann: "Um im Sozialismus leben zu können, dazu sind wir doch alle schon viel zu kaputt." Ein Kommunist gesteht ihm, dass ihn das Lied "Ich hatt' einen Kameraden" beim Begräbnis eines politischen Gegners durchaus anrührt. Der Autor kennt selbst solche Prägungen, fragt aber, ob wir nicht, so wörtlich, "den Menschen auslöschen können, zu dem man uns als Kind fertiggemacht hat".

    "Ich selbst bin ja auch geprägt worden und habe auch Jahre gebraucht, diese Prägungen zumindest unter Kontrolle zu bringen und dann mich auch dagegen zu wenden Aber sie sind natürlich in jedem Blick, den ich werfe, sind sie drin, diese Prägungen, dadurch kommt wahrscheinlich diese ironische Melancholie zustande."

    Mit melancholischem Furor, so heißt es, blicke Piwitt auf die Welt und was die Menschen daraus machen. "Drei Seen" nennt er einen bislang unveröffentlichten Text, in dem er erzählt, wie in Italien Landschaften und Natur unter das Joch der Ökonomie genommen werden. Es klingt grotesk, beinahe komisch, ist aber todtraurig. In einem Essay aus dem Jahr 1982 nimmt er sich den Hang zum Irrationalen vor, den er immer dann diagnostiziert, wenn Aufbrüche und Bewegungen ins Stocken kommen, wenn Geschichte auf eine Art zum Stillstand kommt, dass sie nicht mehr als Geschichte, sondern als Gegebenes wahrgenommen wird. Dieses "Verschwinden der Ursachen" - so der Titel - lokalisiert er auch in der Literatur und demonstriert es an der Geschichte des Trikont-Verlags: Widmete sich der 1967 gegründete Verlag über Jahre den kolonialen Strukturen, der Ausbeutung der Dritten Welt und den Befreiungskämpfen dort, nannte er sich plötzlich Diana-Verlag und verschrieb sich der Esoterik.

    Wie ein roter Faden zieht sich auch die Beschäftigung mit Johann Gottfried Seume durch das Buch.

    "Wo ich immer anfange, ich könnte eigentlich immer von Seume reden."

    Seume, der gewaltsam zum Dienst in der Armee verpflichtet und in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verkauft wurde, der später zu Fuß bis Syrakus gewandert ist und by the way in seinen Reisebeschreibungen glänzende Betrachtungen der sozialen Verhältnisse verfasste.

    "Er bedeutet ausgeliefert gewesen zu sein, den Verhältnissen, richtig körperlich ausgeliefert sein, ihnen aber auch standgehalten zu haben, und dabei noch hoch spannende Prosa geliefert zu haben, und auch widerstanden zu haben bis zu seinem Lebensende gegen die Zumutungen, denen er ausgesetzt war und denen vor allem die Menschen ausgesetzt waren."

    Seume gehört zur Aufklärung und hat die Restaurationsepoche nicht mehr erlebt. Piwitts Perspektive ist eine andere. Er hat den Aufbruch der 60er-Jahre begleitet und erlebt, wie das Land später in eine Erstarrung zurückfiel. Zuletzt hat er sich in die Haltung des garstigen Alten begeben, der auf dem Posten des an der Welt verzweifelnden Beobachters steht, der als Autor in dieser Gesellschaft nicht mehr gefragt ist. "Heimat, schöne Fremde" erscheint dagegen durchaus wieder angriffslustiger. Das mag an der erfrischenden Wiederbegegnung mit den frühen Texten liegen, zu deren Wiederentdeckung der Autor seine Leser durchaus verführt. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Verhältnisse heute nach Veränderung geradezu schreien, dass Piwitt diesen Schrei ganz leise, in seinen anrührenden Beobachtungen, in der Stimmigkeit des kleinsten Details, in der Genauigkeit seines Blicks, artikuliert.

    "Dieser Blick ist nicht verächtlich, das ist klar. Er ist trostlos. Ich weiß, dass die trostlosesten Autoren immer die spannendsten waren für mich, und vielleicht will ich denen auch nacheifern. Naja, Celine oder Beckett, das sind schon spannende Autoren."

    Hermann Peter Piwitt: Heimat, schöne Fremde.
    Geschichten und Skizzen. Wallstein-Verlag 2010, 19,90 Euro