Archiv


"Man soll das Geringe und Kleine nicht gering achten - das wäre meine Moral"

Hanns Zischler braucht keine Worte. Es reicht, wie er guckt. Ein schweigsames Gesicht, das auch Steven Spielberg so fasziniert hat, dass er Hanns Zischler engagiert hat, einen Mossad-Agenten zu spielen. Er ist einer der meistbeschäftigten Schauspieler Deutschlands, und zugleich Autor, Dichter, Übersetzer, Fotograf, Sprecher und Sänger. Jetzt hat er mit "Lady Earl Grey" ein Märchen für Erwachsene vorgelegt, in dem es um eine Treppenmaus in Wohnungsnot geht.

Mit Andreas Main |
    Andreas Main hat Hanns Zischler dort getroffen, wo er lebt, im tiefsten Westen von Berlin, dem Westend.

    Andreas Main: Herr Zischler, wann haben Sie ein solch intensives Verhältnis zu Mäusen entwickelt?

    Hanns Zischler: Zu Mäusen eigentlich erst in dem Augenblick, wo ich mich mit Lady Earl Grey befasst habe, also die erste Begegnung. Und dann habe ich eben angefangen, nicht über Mäuse als zoologische Wesen nachzudenken, sondern über Mäuse als eine Möglichkeit des fiktionalen Erzählens.

    Main: Die Maus kann ja auch sprechen. Sie sind Schauspieler. Sie könnten uns doch jetzt einfach mal zu Gehör bringen, was diese Maus Ihnen da alles so erzählt hat mit einer kleinen Leseprobe.

    Zischler: Ja, können wir machen. Also, die Maus sitzt auf der Treppe; und ich bin eigentlich im Begriff, in meine Bibliothek zu gehen und werde dadurch aufgehalten. Aber ich lasse mich natürlich auch aufhalten: "Sie folgte meinem Blick, kringelte sehr beiläufig das Schwänzchen ein und hauchte: 'Bitte sehr.' Sachte schlich ich mich an ihr vorbei. 'Moment mal, Mussjöh! Was liest Er da gerade? Sie deutelte mit ihrem Schwänzchen auf einen schmalen Band, der aus meinem Morgenmantel hervorlugte. 'Kannst du denn lesen?' 'Ob wir lesen können?! Es gibt ja etwas anderes als Leseratten in der Welt! Geschriebenes wie Gedrucktes, wir schrecken vor nichts zurück. In Papierdingen sind wir buchstäblich Allesfresser. 'Handschriften! Handschriften lieben wir über alles. Tinte! Pergamente! Drucke auf Japanpapier! Es hat einen bittersüßen Beigeschmack, wie duftender Reis, da geht nichts drüber!' Sie geriet ins Schwärmen."
    Main: Wie ist das: Ein Mann, der mit einer Maus sprechen kann, nein, eine Maus, die mit einem Mann sprechen kann - ist das ein Märchen, eine Fabel oder ein Fabelmärchen, ein Zwitterwesen? Sie sind der Germanist! Das müssen Sie jetzt klären.

    Zischler: Sowohl in der Fabel als auch im Märchen gibt es immer wieder sprechende Tiere. Es gibt auch sprechende Pflanzen. Ich würde mich jetzt so aufs Genre nicht festlegen. Ob es eine Fabel ist? Eine Fabel müsste eine ganz strikte Moral haben. Das hat das Buch nicht. Sondern es ist eigentlich ein Gespräch über das Lesen, über das Verhältnis zu Tieren. Es geht eigentlich mehr um Dinge, die uns am Rande unseres Alltags immer wieder berühren: Tiere zum Beispiel.

    Main: Und auch schöne Wörter: Fidibus, Kruscht und ähnliche altmodische Wörter benutzen Sie. Man könnte den Eindruck haben, dass Sie Wörter retten und damit ein Weltenretter sein wollen?

    Zischler: Na, das ist vielleicht zu hoch gegriffen oder mit zu starken Möglichkeiten betraut. Zumindest ist es so: Die Sprache ist ja immer ihr eigener Inhalt. Das heißt: Wenn ich ein Wort durch ein anderes ersetze, passiert auch eine Verschiebung des Sinns. Wenn ich auf ein bestimmtes Wort bestehe, zum Beispiel Fidibus, dann ist es eben ein Fidibus, und es klingt etwas ganz anderes bei mir, als wenn ich sage, ein brennendes Stück Holz oder ein brennendes Stück Papier. So. Die Sprache gibt mir die Möglichkeit eines reicheren, eines vielschichtigeren Ausdrucks, also warum sie nicht nutzen?

    Main: Hanns Zischler, andere gehen in Ihrem Alter in Rente. Was treibt einen nicht mehr ganz jungen Mann - Jahrgang 1947 sind Sie - ja, was treibt Sie an, dass Sie nach wie vor so viel produzieren? Das ist ja auch teilweise jenseits monetärer Erfolgsperspektiven.

    Zischler: Jaja, natürlich. Also, was mich antreibt, ist, wenn man mal ganz einfach ausdrücken soll, ist die Neugierde. Eine unstillbare Neugierde. Aber Erkenntnisinteresse, was so mit Schreiben, Forschen und Spielen zusammenhängt. Und das ist hinreichender Grund und Antrieb und Motor und Animation - im wörtlichen Sinn - genug, um, solange man irgendwie bei Kräften ist, zu arbeiten. Arbeiten ist was Wunderbares.

    Main: Lady Earl Grey, dieses Märchen hat ja definitiv mehrere Ebenen. Es gibt eben nicht eine Moral von der Geschichte. Wenn es dann doch etwas gäbe wie die Moral von der Geschichte', was wäre es für Sie?

    Zischler: Man soll das Geringe und Kleine nicht gering achten. Das wäre die Moral.

    Main: Denn die Maus ist in Not.

    Zischler: Die Maus ist in Not. Sie ist in Wohnungsnot. Sie sagt: Du hast hier Hülle und Fülle. Warum sollst du mir nicht was abgeben? Also, man kann es auch anders lesen. Aber sie plädiert dafür, auch ihr ein bisschen Raum einzuräumen. Den anderen Raum einzuräumen, ist ja schon fast ein Gebot der Nächstenliebe, würde ich sagen.

    Main: Später tauchen auch andere kleine Tiere auf: Grasmücken, na, die Krähe ist schon etwas größer ...

    Zischler: Ameisen.

    Main: Ja, diese Tiere wollen uns was sagen. Haben Sie manchmal das Gefühl im Angesicht von Tieren, dass die zu Ihnen sprechen wollen?

    Zischler: Sie tun es. Also, man muss schon taub sein, um nicht den Gesang der Vögel nicht nur zu schätzen, sondern begeistert aufzunehmen. Die Vögel - vor allem jetzt im März fangen sie an - bis Ende April. Die Grasmücke ist eine der wenigen, die bis Ende Juni singt. Im April kommen die Nachtigallen und Sprosser dazu. Also, hier sind es Sprosser. Das sind also große Sänger, poetische Wesen auch. Also, allein der Gesang der Vögel ist etwas, was, wenn wir ihn nicht hätten, könnten wir eigentlich gar nicht leben.

    Main: Sie waren in einem evangelischen Internat als Schüler. Sie erinnern mich mit dieser Haltung ein wenig an einen anderen, der mit Tieren kommuniziert hat: an Franziskus von Assisi.

    Zischler: Der nicht evangelisch war. Naja, Franziskus von Assisi hat halt eine Demut gepredigt. Und Demut ist ja eigentlich eine sehr erstrebenswerte Tugend. Das muss man schon sagen. Franz ist eine bedeutende Figur, ja.

    Main: Wie äußert sich Ihr Respekt vor Tieren? Sind Sie womöglich Vegetarier?

    Zischler: Ich bin so gut wie Vegetarier, ja. Ich esse Wild gelegentlich, weil ich denke, Wild kann erlegt werden und ist in einem geringen Ausmaß auch da - und muss auch gejagt werden, um der Wälder willen auch. Ansonsten esse ich aber von dem, was in der Fleischproduktion uns da ins Haus geschüttet oder in die Supermärkte geschüttet wird, finde ich so ekelhaft. Das ist wirklich nicht auszuhalten. Das ist grauenhaft. Also, da darf man nicht mitmachen. Don't eat meat, heißt die Formel, ja.

    Main: Herr Zischler, Ihre Karriere changiert zwischen einem Mausmärchen und Spielbergs München-Film zwischen Kafka und James Joyce - aber dann eben auch Zettl. Für einen Außenstehenden hat das was Märchenhaftes. Haben Sie Ihre Karriere auch als Märchen erlebt?

    Zischler: Nein. Ne, überhaupt nicht. Ich erlebe das, was ich tue, überhaupt nicht als Karriere. Und zwar wenn Sie mich jetzt fragen, wie ich diese Genres zusammen bekomme, dann unterstellt es immer, als wären Sie alle gleichzeitig da. Überlegen Sie mal im Lauf von 40 Jahren - also jetzt nach dem Abitur, ich habe vor 45 Jahren Abitur gemacht, 1966 - im Lauf von 45 Jahren unternimmt man sehr verschiedene, viele Dinge. Es entwickeln sich - ich nenne das jetzt mal: ‚fernhinwirkende und auf lange Zeit ausgerichtete Forschungsvorhaben' oder Wünsche, die sich aber konkretisieren lassen. Über 40 Jahre. Meine Beschäftigungen - das sind gar nicht so viele: Lesen, schreiben, spielen. So, diese drei! Fotografieren vielleicht noch. Die zeitigen etwas - so wie der Garten seine Früchte zeitigt, sie bringen etwas hervor. Vieles misslingt. Das Misslingen ist ein produktiver Umweg, weil man da innehalten muss und nachdenken kann. Ich sehe den Zusammenhang nicht zwingend. Ich sehe eher, dass die Möglichkeit oder die Fähigkeit, Unzusammenhängendes, Unverbundenes für sich zu ertragen, für sich sozusagen gelten zu lassen, dass diese Fähigkeit, das zuzulassen, das ist eigentlich eine Qualität. Die muss man entwickeln bei sich.

    Main: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie mit Spielberg den ganzen Tag über Filme und Bücher reden konnten. Haben Sie in ihm einen Seelenverwandten gefunden, der Sie verstanden hat, was womöglich nicht jeder tut?

    Zischler: Ja, was Filme und bestimmte Bücher betrifft - ganz bestimmt. Ganz bestimmt. Und das hat mich doch sehr inspiriert. Da fühle ich sehr anerkannt oder verstanden, oder wenn wir über Buster Keaton gesprochen haben. Er hält also Buster Keaton wie ich auch für den wahrscheinlich bedeutendsten Schauspieler überhaupt. Der konnte alles, weil er handwerklich alles konnte. Also, Keaton war ein Akrobat, er war ein Dramaturg, und er war natürlich ein Kinematograf. Er hat diese Elemente in einer unvergleichlichen Weise miteinander verbunden. Das soll das Verdienst der anderen überhaupt nicht schmälern. Aber Keaton hat eine ganz eigene, spezielle Form entwickelt. Und darüber haben wir auch gesprochen, zum Beispiel.

    Main: Wiewohl ich Ihnen genau zuhöre, was Sie über Keaton und Spielberg erzählen, meine ich, eben eine Maus rascheln gehört zu haben.

    Zischler: Das, glaube ich, ist eine Halluzination. Ganz bestimmt.