Wieder ein wissbegieriger Westmensch, den eine Expedition mit akademischem Hintergrund ostwärts ins fremde Reich der DDR-Nachfolgeländer führt: Manfred Clemenz, Professor für Soziologie und Sozialpsychologie, bringt in seiner Botanisiertrommel mehr als einhundert Lebensgeschichten aus den neuen Ländern mit in seine Studierstube in Frankfurt am Main. Die Reise hat sich gelohnt, stellt der Forscher selbst zufrieden fest. Oh ja, wenn ein als "Schwimmerin" apostrophiertes Exemplar der Spezies des homo sapiens ostgermanischer Provenienz beschreibt, wie es unter Druck geriet, weil es sich in einen Mosambikaner verliebte, so ist dies ein wichtiges Zeugnis für Nachgeborene:
Wir wurden behandelt, als würde ich einen Ausreiseantrag stellen, nur weil ich sagte, ich werde diesen Mann wahrscheinlich heiraten... Das kriegen Sie sofort zu spüren, wenn Sie Querulant sind. Das ist eine Entwicklung, die geht über Jahre. Das fängt an mit: Du bist zu jung, Du kannst das noch nicht beurteilen, Genossin... Dann kommt die Drohstufe. Dann wird man verlacht und als dumm hingestellt. Das ist schon gefährlich, weil die anderen dann mitlachen, obwohl sie gar nicht wissen oder hier hinten - im Kopf - schon wissen, aber vorne herum nicht sagen: Ja, die hat recht. ... Was ich für Unterredungen beim Direktor, bei der Parteileitung, bei meinem Arbeitsgruppenleiter, bei der Kreisleitung hatte! Ich musste überall Rechenschaft ablegen, ich musste schriftlich auf einer DIN A 4 Seite sagen, warum ich diesen Mann liebe, wie ich diesen Mann liebe, wann unser erstes Zusammentreffen war, wie wir unseren Urlaub verbringen, was wir in der Freizeit tun.
Eine feine Auswahl aus der von Clemenz und seinen Mitstreitern zusammengetragenen Sammlung ostdeutscher Lebensläufe aus der Phase des Umbruchs hat der Aufbau-Verlag aufgespießt und zur allgemeinen Erbauung am Exotischen nunmehr frei-, also herausgegeben - Geschichten von Menschen, die sich in ganz unterschiedlicher Weise in der Diktatur behauptet oder angepasst haben, sich zur Wehr setzten, Ausflüchte oder Refugien suchten, Karriere machten oder die Vorbereitung ihrer Flucht zur Lebensaufgabe werden ließen - Geschichten, die sämtlichst aus der Rückschau beschrieben werden, mit allen Vor- und Nachteilen, die nachträglichen Selbstbetrachtungen immanent sind. Wie individuelle Legenden gebildet werden, Lebenslügen gepflegt, ist in diesen sozio- oder psychohistorischen Studien ebenso ablesbar wie die Verzerrung der Selbstwahrnehmung aus historischen Gründen - schließlich konnte ein realistischer DDR-Bürger seine Lebensplanung wohl kaum auf die Nachwendezeit einstellen. Die unvermeidlichen Brüche in den Lebensläufen bewirken, dass sich die Sicht auf das eigene Leben nunmehr extrem verändert hat. Stoff genug also für Soziologen, Analytiker und Historiker, die sich ins rätselhaft zeitlose Ostland vorwagen:
Während wir zunächst nur Gespräche mit Übersiedlern in Hessen führten, dehnten wir ab 1994 unsere ethnologischen Erkundungen in den Osten Deutschlands aus. ... Unvergesslich ist für mich die Begegnung mit Familie Goetz in Dresden: Mit welchem Stolz Herr Goetz mir das Haus, an dem er im Rahmen der "Arbeiterwohnungsbau-Genossenschaft" mitgebaut hatte, und den bescheidenen Komfort seiner Wohnung ... zeigte! Hier machte ich ... die Erfahrung, dass Ostdeutsche offenbar anders mit Zeit umgehen als Westdeutsche: Das Gespräch mit Familie Goetz dauerte fünf Stunden.
Wie jeder geübte Naturkundler kategorisiert Clemenz die gewonnenen Kriterien und gelangt zu einer Typologie des Ostdeutschen, die sich weniger an dessen Verhältnis zur Zeit als vielmehr am Grad der Identifikation mit dem alten oder neuen Gesellschaftssystem misst. Das macht für den Forscher selbst vielleicht Sinn, der gemeine Leser indes findet doch eher Gefallen an der Individualität jedes einzelnen geschilderten Lebenswegs. Denn hier werden nicht Akten zum Sprechen gebracht oder Fakten, Daten und Ereignisse zueinander in Beziehung gesetzt, sondern Clemenz lässt Zeitzeugen selbst berichten.
Das Unglücklichste an dem Band ist wohl der Titel - vom Autor selbst nicht gutgeheißen und eines der berüchtigten aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate: "Wir können nicht besser klagen" - dieser Titel legt nahe, dass Clemenz - wie andere vor ihm - den leidlich beschriebenen "Jammerossi" stilisiert. Wohl wird auch gejammert, aber das ist nicht der Grundtenor in den Lebensgeschichten. Dargestellt werden ein knappes Dutzend von Clemenz als protohistorisch bezeichnete Fälle, darunter ein vermeintlich durchschnittliches Ehepaar, ein Filmemacher, ein sich zum Skinhead gerierender jugendlicher Underdog, ein Gewerkschafter und eine Bauzeichnerin.
Die Authentizität ihrer Berichte ist ihr eigentlicher Wert, der deutsch-deutsche Ethnologe kann stolz sein auf seinen Ertrag. Da ist zum Beispiel der Gewerkschafter, der seine Karriere als Stellvertretender Kreisvorsitzender des FDGB im Westen nahtlos fortsetzt als Gewerkschaftssekretär. Machtbewusst ist er, zeigt eine Mischung aus Duckmäusertum und dem raffinierten Gespür dafür, wann Privilegien zu nutzen sind und wann sie auch im Westen Anlass zur Klage über "die da oben" bieten:
"... die Gewerkschaften ham hier was zu sachen, is ja nich so wie im Osten. ... Ich hab mich nur unheimlich gegrämt, unheimlich geärgert,... nach der Wende, wie das gelaufen is, ja. ... Was da so alles ans Tageslicht gekommen is...Ich meine, dass der Honecker ein größeres Auto fährt wie ich, das, das akzeptier ich. Das gönn ich dem... Ich gönn´s auch dem Kohl, das is nich die Frage. Das Problem war, ich hätte nur gerne auch ein anständiges Auto gefahren.
Leider mischt sich der Autor allzu häufig in die Erzählungen ein. Er interpretiert und analysiert mit der Kompetenz des Sozialpsychologen, aber auch der oft überheblich wirkenden Lust am Analysieren. Die Gesprächspartner finden sich so unversehens auf der Couch wieder, die gleichsam Diagnose relevanten Lebensberichte werden zur Krankengeschichte. Immer wieder scheint Clemenz das Seelenleben seiner Probanden unnötigerweise zu exotisieren, die DDR-Menschen als psychisch beschädigte Wesen aus der Distanz zu sehen. Ja, fremd waren sie ihm, darauf besteht der Autor. Er habe die Mauer in den Köpfen erlebt, betont der Soziologe - und es ist offenbar auch seine eigene. Die eingefügten Diagnosen habe er nicht verletzend gemeint. Das will man gern glauben, doch dem Text entnimmt der Leser das Bemühen um Offenheit oder Neutralität nicht. Das liegt unter anderem daran, dass die untersuchten Vertreter der sagenhaften Spezies des "Ossis" zwar oft zu Wort kommen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Ihre Gespräche sind umgangssprachlich, in unvollständigen Sätzen, mit naiv anmutenden Wortfetzen notiert - kurz: die Einlassungen der Ureinwohner des Neufünflands kontrastieren enorm zu den Beschreibungen des gelehrten und selbstverständlich in gepflegter Hochsprache schreibenden Verfassers. Noch einmal der Fall der "Schwimmerin", die schließlich auf staatliches Geheiß von den Eltern verstoßen wird:
Die Lossagung beinhaltet, dass ich von meinen Eltern keinerlei Unterstützung mehr zu erwarten habe... Das ist in der DDR aber überhaupt kein Thema... Es gibt überhaupt keine Verpflichtung außer vielleicht einer moralischen gegenüber den Eltern. Sie konnten die Lossagung aber von mir nicht offiziell verlangen, da wird das so ummantelt...
Wenngleich sie in den Passagen, in denen es um die Lossagung geht, äußerlich beherrscht weiterspricht, spürt man an den sprachlichen Unklarheiten, unter welchem Druck sie noch immer steht. Zwischen ihr und der Interviewerin kommt es an diesem Punkt zu Missverständnissen, so dass letztlich unklar bleibt, was die Lossagung in diesem Fall genau bedeutete.
Vielleicht legt der Sozialpsychologe Manfred Clemenz eines Tages eine entsprechende Analyse der oftmals nicht minder schrägen oder den Umständen entsprechend deformierten westdeutschen Bürger dieses Landes vor. Wer mit dem gleichen Forscherdrang in der "altbundesrepublikanischen Gesellschaft" Phänotypen skizziert, aus seinem Befremden über Fremdes auch hier kein Hehl macht und Gewohntes in Frage zu stellen und zu analysieren wagt, der würde sich dann wirklich um die Einheit verdient machen.
Manfred Clemenz: "Wir können nicht besser klagen" - Ostdeutsche Lebensläufe im Umbruch. Das Buch ist veröffentlicht im Aufbau Verlag Berlin umfasst, 320 Seiten und kostet 36,80 DM.
Wir wurden behandelt, als würde ich einen Ausreiseantrag stellen, nur weil ich sagte, ich werde diesen Mann wahrscheinlich heiraten... Das kriegen Sie sofort zu spüren, wenn Sie Querulant sind. Das ist eine Entwicklung, die geht über Jahre. Das fängt an mit: Du bist zu jung, Du kannst das noch nicht beurteilen, Genossin... Dann kommt die Drohstufe. Dann wird man verlacht und als dumm hingestellt. Das ist schon gefährlich, weil die anderen dann mitlachen, obwohl sie gar nicht wissen oder hier hinten - im Kopf - schon wissen, aber vorne herum nicht sagen: Ja, die hat recht. ... Was ich für Unterredungen beim Direktor, bei der Parteileitung, bei meinem Arbeitsgruppenleiter, bei der Kreisleitung hatte! Ich musste überall Rechenschaft ablegen, ich musste schriftlich auf einer DIN A 4 Seite sagen, warum ich diesen Mann liebe, wie ich diesen Mann liebe, wann unser erstes Zusammentreffen war, wie wir unseren Urlaub verbringen, was wir in der Freizeit tun.
Eine feine Auswahl aus der von Clemenz und seinen Mitstreitern zusammengetragenen Sammlung ostdeutscher Lebensläufe aus der Phase des Umbruchs hat der Aufbau-Verlag aufgespießt und zur allgemeinen Erbauung am Exotischen nunmehr frei-, also herausgegeben - Geschichten von Menschen, die sich in ganz unterschiedlicher Weise in der Diktatur behauptet oder angepasst haben, sich zur Wehr setzten, Ausflüchte oder Refugien suchten, Karriere machten oder die Vorbereitung ihrer Flucht zur Lebensaufgabe werden ließen - Geschichten, die sämtlichst aus der Rückschau beschrieben werden, mit allen Vor- und Nachteilen, die nachträglichen Selbstbetrachtungen immanent sind. Wie individuelle Legenden gebildet werden, Lebenslügen gepflegt, ist in diesen sozio- oder psychohistorischen Studien ebenso ablesbar wie die Verzerrung der Selbstwahrnehmung aus historischen Gründen - schließlich konnte ein realistischer DDR-Bürger seine Lebensplanung wohl kaum auf die Nachwendezeit einstellen. Die unvermeidlichen Brüche in den Lebensläufen bewirken, dass sich die Sicht auf das eigene Leben nunmehr extrem verändert hat. Stoff genug also für Soziologen, Analytiker und Historiker, die sich ins rätselhaft zeitlose Ostland vorwagen:
Während wir zunächst nur Gespräche mit Übersiedlern in Hessen führten, dehnten wir ab 1994 unsere ethnologischen Erkundungen in den Osten Deutschlands aus. ... Unvergesslich ist für mich die Begegnung mit Familie Goetz in Dresden: Mit welchem Stolz Herr Goetz mir das Haus, an dem er im Rahmen der "Arbeiterwohnungsbau-Genossenschaft" mitgebaut hatte, und den bescheidenen Komfort seiner Wohnung ... zeigte! Hier machte ich ... die Erfahrung, dass Ostdeutsche offenbar anders mit Zeit umgehen als Westdeutsche: Das Gespräch mit Familie Goetz dauerte fünf Stunden.
Wie jeder geübte Naturkundler kategorisiert Clemenz die gewonnenen Kriterien und gelangt zu einer Typologie des Ostdeutschen, die sich weniger an dessen Verhältnis zur Zeit als vielmehr am Grad der Identifikation mit dem alten oder neuen Gesellschaftssystem misst. Das macht für den Forscher selbst vielleicht Sinn, der gemeine Leser indes findet doch eher Gefallen an der Individualität jedes einzelnen geschilderten Lebenswegs. Denn hier werden nicht Akten zum Sprechen gebracht oder Fakten, Daten und Ereignisse zueinander in Beziehung gesetzt, sondern Clemenz lässt Zeitzeugen selbst berichten.
Das Unglücklichste an dem Band ist wohl der Titel - vom Autor selbst nicht gutgeheißen und eines der berüchtigten aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate: "Wir können nicht besser klagen" - dieser Titel legt nahe, dass Clemenz - wie andere vor ihm - den leidlich beschriebenen "Jammerossi" stilisiert. Wohl wird auch gejammert, aber das ist nicht der Grundtenor in den Lebensgeschichten. Dargestellt werden ein knappes Dutzend von Clemenz als protohistorisch bezeichnete Fälle, darunter ein vermeintlich durchschnittliches Ehepaar, ein Filmemacher, ein sich zum Skinhead gerierender jugendlicher Underdog, ein Gewerkschafter und eine Bauzeichnerin.
Die Authentizität ihrer Berichte ist ihr eigentlicher Wert, der deutsch-deutsche Ethnologe kann stolz sein auf seinen Ertrag. Da ist zum Beispiel der Gewerkschafter, der seine Karriere als Stellvertretender Kreisvorsitzender des FDGB im Westen nahtlos fortsetzt als Gewerkschaftssekretär. Machtbewusst ist er, zeigt eine Mischung aus Duckmäusertum und dem raffinierten Gespür dafür, wann Privilegien zu nutzen sind und wann sie auch im Westen Anlass zur Klage über "die da oben" bieten:
"... die Gewerkschaften ham hier was zu sachen, is ja nich so wie im Osten. ... Ich hab mich nur unheimlich gegrämt, unheimlich geärgert,... nach der Wende, wie das gelaufen is, ja. ... Was da so alles ans Tageslicht gekommen is...Ich meine, dass der Honecker ein größeres Auto fährt wie ich, das, das akzeptier ich. Das gönn ich dem... Ich gönn´s auch dem Kohl, das is nich die Frage. Das Problem war, ich hätte nur gerne auch ein anständiges Auto gefahren.
Leider mischt sich der Autor allzu häufig in die Erzählungen ein. Er interpretiert und analysiert mit der Kompetenz des Sozialpsychologen, aber auch der oft überheblich wirkenden Lust am Analysieren. Die Gesprächspartner finden sich so unversehens auf der Couch wieder, die gleichsam Diagnose relevanten Lebensberichte werden zur Krankengeschichte. Immer wieder scheint Clemenz das Seelenleben seiner Probanden unnötigerweise zu exotisieren, die DDR-Menschen als psychisch beschädigte Wesen aus der Distanz zu sehen. Ja, fremd waren sie ihm, darauf besteht der Autor. Er habe die Mauer in den Köpfen erlebt, betont der Soziologe - und es ist offenbar auch seine eigene. Die eingefügten Diagnosen habe er nicht verletzend gemeint. Das will man gern glauben, doch dem Text entnimmt der Leser das Bemühen um Offenheit oder Neutralität nicht. Das liegt unter anderem daran, dass die untersuchten Vertreter der sagenhaften Spezies des "Ossis" zwar oft zu Wort kommen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Ihre Gespräche sind umgangssprachlich, in unvollständigen Sätzen, mit naiv anmutenden Wortfetzen notiert - kurz: die Einlassungen der Ureinwohner des Neufünflands kontrastieren enorm zu den Beschreibungen des gelehrten und selbstverständlich in gepflegter Hochsprache schreibenden Verfassers. Noch einmal der Fall der "Schwimmerin", die schließlich auf staatliches Geheiß von den Eltern verstoßen wird:
Die Lossagung beinhaltet, dass ich von meinen Eltern keinerlei Unterstützung mehr zu erwarten habe... Das ist in der DDR aber überhaupt kein Thema... Es gibt überhaupt keine Verpflichtung außer vielleicht einer moralischen gegenüber den Eltern. Sie konnten die Lossagung aber von mir nicht offiziell verlangen, da wird das so ummantelt...
Wenngleich sie in den Passagen, in denen es um die Lossagung geht, äußerlich beherrscht weiterspricht, spürt man an den sprachlichen Unklarheiten, unter welchem Druck sie noch immer steht. Zwischen ihr und der Interviewerin kommt es an diesem Punkt zu Missverständnissen, so dass letztlich unklar bleibt, was die Lossagung in diesem Fall genau bedeutete.
Vielleicht legt der Sozialpsychologe Manfred Clemenz eines Tages eine entsprechende Analyse der oftmals nicht minder schrägen oder den Umständen entsprechend deformierten westdeutschen Bürger dieses Landes vor. Wer mit dem gleichen Forscherdrang in der "altbundesrepublikanischen Gesellschaft" Phänotypen skizziert, aus seinem Befremden über Fremdes auch hier kein Hehl macht und Gewohntes in Frage zu stellen und zu analysieren wagt, der würde sich dann wirklich um die Einheit verdient machen.
Manfred Clemenz: "Wir können nicht besser klagen" - Ostdeutsche Lebensläufe im Umbruch. Das Buch ist veröffentlicht im Aufbau Verlag Berlin umfasst, 320 Seiten und kostet 36,80 DM.