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Manhattan fliegt

"Als ich die Gryhsl zum ersten Mal begegne, überquert er die 7th Avenue bei Rot. Der Fahrer des Yellow Cab kommt weder zum Hupen noch zum Fluchen und fährt Gryhsl einfach nieder. Er wird hochgeschleudert, und weil seine Jacke sich verheddert, noch so lange mitgeschleift, bis die Antenne bricht. Das regt in Manhattan keinen auf. Die schwarzen Angestellten glotzen, die Flohmarktbesucher rufen Wow, und beeindruckt sind nur die Touristen. Ich bin nicht beeindruckt, aber Gryhsl rollt mir so ungeschickt vor die Füße, daß ich nicht wie üblich wegschauen und weitergehen kann. Ich helfe ihm auf."

Joachim Scholl |
    Das ist der Anfang von "Manhattan fliegt" und rechter Auftakt für einen Roman, dem es an dramatischen Momenten kaum mangelt; ein Auto-Unfall ist da fast eine Kleinigkeit, gemessen an dem, was noch ansteht. Dem Opfer dieses ersten Crashs ist übrigens nichts passiert, es ist ein kraftstrotzender Zwerg mit ganz besonderen Fähigkeiten, die sein Samariter bald zu spüren bekommt, als er ihm die Hand gibt: Gryhsl kann Stromstöße austeilen, je nach Grad spürt man ein Britzeln oder fliegt geröstet in die Ecke. Das eine wie das andere erlebt der Erzähler Leopold, ein junger Mann mit unbestimmten Plänen in New York, offen für Herausforderungen, und die stellen sich ihm reichlich im Verlauf der nun folgenden wilden Geschichte, in die ihn Quasimodo von der 7" Avenue hineinzieht. Gryhsl rekrutiert Hilfskräfte für ein obskures Film-Projekt - es soll die Geschichte einer Delphin-Dompteuse aus den 50er Jahren erzählt werden. Leopold, selber Film-Afficionado mit Drehbuch-Träumen, ist vom Script begeistert und macht mit. Die Hauptdarstellerin ist auch bereits gefunden, eine Super-Schönheit, klar, aber - seltsam, seltsam - sie gleicht auf's Haar einer Stummfilm-Diva aus den 20er Jahren. Leopold ist verwirrt, und es wird noch einige Zeit dauern, bis er das epische Ausmaß dieses Abenteuers begreift, das nun einsetzt und lange vor seiner Zeit begann. Dazu Wallner:

    "Es ist die Geschichte einer 100jährigen Liebe. Ein Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten verliebt sich in eine Frau, die er nicht bekommen kann. Und weil er das nicht schafft, greift er zu einer ungewöhnlichen Lösungsmöglichkeit, die nur ihm zur Verfügung steht, die für alle kommenden Generationen enorme Schwierigkeiten aufwirft. Die zu lösen, ist der Fortgang des Buches."

    Dieser Mann, von dem Autor Wallner spricht, ist aber nicht der 220-Volt-Kobold vom Anfang, sondern die eigentliche Hauptperson: der Zauberer und Magier Pius Yurgrave, wobei die deutsche Übersetzung "Dein Grab" durchaus die Richtung annonciert, kommt man mit diesem Protagonisten ins Gehege. Pius nun war es, der sich 1921 unsterblich, aber vergeblich in die nordische Film-Beauty Undine Nielsson verliebte, und zu den äußersten zauberkünstlerischen Mitteln griff. Die man im Kontext des Romans allerdings Mühe hat, so ganz zu erfassen, aber soviel ist zumindest klar: was im historischen Prag einst aus Lehm zum mythischen Leben erweckt wurde, der Golem nämlich, wird im Hinterzimmer einer Astrologen-Praxis in einer Wanne zusammengerührt, die "Lösungsmöglichkeit" ist also wörtlich zu nehmen als"Nährlösung", ziemlich eklig, aber mit atemberaubendem Effekt und das alles - in Manhattan. Wallner:

    "Der Golem ist etwas, was uns heute nicht mehr nahe ist, was nicht mehr zeitgemäß ist. Manhattan ist ein Platz, der in jedem einzelnen Kopf eine bestimmte Vision, einen Traum auslöst. Manhattan ist mehr als der Bereich von der 110. Straße südlich bis zum Battery Park. Manhattan ist ein mythischer Ort, durch die Zusammenwürfelung all dieser verschiedenen Nationalitäten, die dort leben, aber auch der Visionen, die wir alle von Manhattan haben. Wenn wir dort waren, ist es der Eindruck, den wir mitnehmen. Wenn wir nicht dort waren, sind es die Woody Allen-Filme oder Breakfast at Tiffany's etc."

    Wie die Handlung weiter- und ausgeht, darf man nicht verraten. Michael Waliner entfaltet ein rasendes mystisches Spektakel, das Zeitebenen, lndividualitäten, Orte durcheinanderwirbelt und doch immer auf ein Zentrum konzentriert bleibt: den geplanten Film über die Delphine und ihre Meisterin. Das Kino ist überhaupt das ästhetische Leitmedium dieses Buches, die Anspielungen sind zahlreich, manche offen, etliche vertrackt und nur für Eingeweihte, eine Verfilmung allerdings, so der Regisseur-Profi Wallner sei nur mit 80-90 Millionen Dollar zu machen. Tatsächlich wäre der Aufwand ekklatant für Helden, die plötzlich fliegen, Szenen in nordischen Eiswüsten, sowie für Rekonstrukionen des New Yorks von 1920 und 1950 nebst opulentem Personal. Literarisch hat sich Michael Wallner jedoch vor allem von einer Fähigkeit des Films inspiriert gezeigt: dem Wesen der Alterslosigkeit, jener so lebendigen Fiktion, die dem Schauspieler ewige Jugend garantiert, während er sich in der Realität verändert wie jedermann. Der Autor:

    Es geht um das Bild von Menschen, das man sich macht. Menschen verändern sich, Menschen sind ganz andere im Laufe ihres Lebens, und ich, oder eine Figur des Romans macht sich ein Bild von einem Menschen und läßt von diesem Bild nicht los. Das ist ein zentrales Motiv, und das andere kann ich nur mit einem Beispiel sagen. Ich kenne die frühen Bilder meiner Mutter, die Spitzensportlerin war, ich kenne die Bilder, wie sie als bildschöne Frau an der Grazer Gesellschaft teilhatte, wie sie auf unserem Landgut gearbeitet hat, wie sie jetzt mit zwei künstlichen Hüften durchs Leben humpelt mit 75. Das war immer meine Mutter und das sind dennoch fünf verschiedene Biographien, fünf verschiedene Menschen, und wie die Weit jeweils ein Bild von diesem Menschen hat, das ist etwas, was mich für dieses Buch, aber auch für das andere sehr interessiert hat."

    "Das andere" - das ist der zweite Roman, der Anfang September erscheint, in einem anderen Verlag, ein kurioses Novum für einen Debütanten: zwei praktisch auf einen Streich. "Cliehms Begabung" heißt dieses Buch und spielt schon im Titel wiederum auf eine außerordentliche Eigenschaft an, die die Hauptfigur, der Physiker Cliehm, mit den Charakteren aus "Manhattan fliegt" verbindet: Cliehm kann durch die Zeit reisen. Michael Waliner hat beide Romane fast parallel geschrieben, als sein "Manhattan Project" stockte, ging er an den zweiten Text, um dann wieder eine neue Fassung seiner amerikanischen Zauberei zu schreiben. Wobei der Theatermann Wallner offensichtlich keine Probleme hatte, auf den einsam arbeitenden Romancier umzuschalten. Den Wechsel von einem zum anderen Medium findet der Autor für sich selbst wenig spektakulär:

    "Am Theater, wenn man Fassungen von Stücken macht, ist man gezwungen, auch schreibend tätig zu sein. Aber dieser jetzige Vorgang ist im Grunde vor zwei, drei Jahren passiert, als ich in der Kunstform, mit der ich bislang gearbeitet hatte, ein Ungenügen festgestellt habe. Was einfach mit der Reinheit von Imagination zu tun hat, der Reinheit der Phantasie, das Buch ist da nach wie vor nicht zu überbieten. Und das Theater ist Team-Arbeit, und so soll es auch sein, und das ist ganz wunderbar, aber wenn ich eine bestimmte Phantasie, eine bestimmte Vorstellung von etwas habe, dann kann ich das in einem Text am besten verwirklichen und das mußte offensichtlich jetzt raus."

    Michael Wallner nennt "Manhattan fliegt" selbst eine "pittoreske Etüde", eine Wahnsinnstat und hat nichts dagegen, den Roman mit dem Etikett "durchgeknallter Realismus" zu versehen, das sei besser als die auf der Hand liegende, schon etwas angegangene Rubrik vom "magischen Realismus". Mit literaturkritischen Überlegungen hält sich der Autor ohnehin nicht auf, er liest gerne Michail Bulgakow oder Rainald Goetz, den er am Theater inszeniert hat, nicht unbedingt latente Vorbilder für verliebte Zauberkünstler in Manhattan. Es ist vor allem die pure und auch stilistisch packend übermittelte Lust, im Roman den Begrenzungen der Wirklichkeit entfliehen zu können, die Michael Wallner angetrieben hat. Schon die Romantiker haben gewußt, wie man die Phantastik einsetzt, um der Vorstellungskraft ganz neue Erkenntnisse über den Menschen zu eröffnen. Und ihn auch träumen zu lassen. Wallner:

    "Manhattan fliegt" ist eine Kompilation aus Sehnsüchten. Und der Alltagsmensch sehnt sich nach Personen, nach Dingen, nach Zuständen, nach Reichtum oder Glück. Die Figuren eines Romans können darüber hinausgehen. Und wenn sie darüberhinausgehen, dann hat das etwas Magisches. Und sich hier des Phantastischen zu bedienen, ist eine große Möglichkeit, weitergedachte Sehnsüchte zu beschreiben."

    Man wird"Manhattan fliegt" lieben oder links liegenlassen. Das surreale Spiel in der Literatur ist seit jeher umstritten und umweht vom Hauch der Albernheit. Für alle, deren Temperament anders gepolt ist, verspricht "Manhattan fliegt" eine vergnüglich durchlesene Nacht. So kühn die Handlung bisweilen voranspringt - sie ist immer originell, gut geplant und in sich stimmig. Die Sprache fällt angenehm auf, weil sie nicht auffällt, sie ist geschmeidig, präzise, unaufdringlich und fern von allen manieristischen Versuchungen, denen Debüt-Autoren allzu oft erliegen. Stilistisch kann Michael Wallner jedes Tempo gehen, von Action bis zu zarter Melancholie, er schreibt ungekünstelt, direkt, und die Klischees, die so oft unterhaltende, von Spannung getragene Romane verderben, muß man schon mit der Lupe suchen. Und jenseits von Magie, fliegenden Zauberern und elektrischen Gnomen gelingen dem Autor wundervolle Beschreibungen von New York City und einer versunkenen schwarz-weißen Kino-Welt, die in diesem Buch immer mitflimmert. Vielleicht ist "Manhattan fliegt" ja doch zu verfilmen. Michael Wallner hat schon einen Star für die Hauptrolle im Kopf: Al Pacino. Der müßte es schon sein.